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konnte. Was hatte sie vor? Wollte sie ihnen Schläger auf den Hals hetzen, nur um zu verhindern, dass sie eine Aussage gegen mich machten?

      „Was hast du vor?“

      Sie lächelte mich wissend an. „Mach dir darüber nur keine Sorgen“, sagte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung und beugte sich näher zu mir über den Tisch. „Trinkst du genug?“, raunte sie, als wäre es ein Geheimnis.

      „Ich bekomme jeden Tag drei Mahlzeiten“, erwiderte ich, spürte aber gleichzeitig wie die Schatten an mir rissen. Ich hatte es noch nie so lange ohne Gefühle anderer ausgehalten. Wenn ich mir nicht bald welche nehmen würde, könnte es passieren, dass ich mich vor den Augen der Polizei in Luft auflöste, nur um irgendwo anders wieder aufzutauchen. Ich würde völlig die Kontrolle darüber verlieren. Im schlimmsten Fall würde ich jemanden völlig aussaugen, so wie ich es bei Beth getan und sie damit umgebracht hatte: Der Anfang meiner Misere.

      Sie legte mir plötzlich ihre kalte Hand auf meine Finger und sah mir eindringlich in die Augen. „Ich weiß, was du bist.“ Ich erstarrte und blickte sie ungläubig an. Wie konnte die Schwester meiner Mutter etwas über mein Schattendasein wissen? Hatte Winter mit ihr gesprochen und sie eingeweiht?

      Rhona sah mein geschocktes Gesicht und schüttelte den Kopf. Ihre Hand umschloss sich mit meiner. „Trink!“, forderte sie und starrte mir weiter in die Augen. Ich vertraute ihr nicht, aber mein Hunger war größer und so begann ich ihre Gefühle in mir aufzunehmen. Sie waren völlig anders, als alles, was ich bisher in einem anderen Menschen gespürt hatte. Eine tiefe Dunkelheit überschattete jede andere Emotion. Nur dazwischen blinkten wie Glühwürmchen in der Nacht andere Gefühle hervor: Schuldgefühle, Eifersucht und Wut. Sie schmeckte kalt und ich sehnte mich nur noch mehr nach Lucas‘ Wärme. Wenn ich von ihm getrunken hatte, war ich mir immer seiner bedingungslosen Liebe bewusst gewesen. Erst in den letzten Wochen hatte er sich von mir abgewendet. Als ich mich von Rhona löste, war mein Hunger etwas gestillt. Für einen Moment wirkte sie orientierungslos, doch dann richtete sie sich abrupt auf und richtete ihr Kostüm. „Ich komme bald wieder“, versprach sie und klopfte gegen die Tür, um dem Polizisten zu verstehen zu geben, dass sie hier fertig war. Sie ging, ohne sich noch einmal nach mir umzusehen und ließ mich mit einem verwirrten Gefühl zurück. Ich hatte so viele Fragen an sie und wusste nicht, wie ich sie einordnen sollte. Konnte ich ihr vertrauen?

      Der Polizist führte mich zurück in mein Zimmer. Als sich die Tür hinter mir schloss, verspürte ich sogleich ein Gefühl von Einsamkeit. Neben meinem Bett lag ein Stapel Bücher, welcher meine einzige Abwechslung zu meinen immer wiederkehrenden Gedankengängen war. Sie gehörten alle Winter. Ich selbst hatte mich nie fürs Lesen interessiert. Was interessierten mich die erfundenen Geschichten anderer? Ich wollte selbst Abenteuer erleben und nicht nur davon lesen. Doch jetzt griff ich nach dem obersten Buch, schlug es in der Mitte auf und hielt es mir direkt vors Gesicht. Der Geruch von Papier und eine winzige Spur von Winters Parfum hüllten mich ein. Wenn ich die Geschichten las, die sie so sehr liebte, fühlte ich mich ihr näher.

      „Er stirbt am Ende“, sagte plötzlich eine mir bekannte Stimme und ich ließ genervt das Buch sinken. Will saß auf dem Tisch, während er seine Füße auf dem Stuhl abgestellt hatte. Ein freches Funkeln lag in seinen Augen, welches ich, als er noch am Leben gewesen war, nie bei ihm bemerkt hatte.

      „Du bist immer noch da?“, fragte ich unbeeindruckt. Seit meiner ersten Nacht in Untersuchungshaft tauchte er mehrmals am Tag wie aus dem Nichts bei mir auf. Beim ersten Mal hatte ich mich tierisch erschreckt und mir versucht klar zu machen, dass er eine Halluzination sein musste, doch er war dadurch nicht wieder verschwunden. Er kam und ging wie es ihm gefiel. Ich wusste nicht, ob ich ihn mir nur einbildete oder ob er tatsächlich da war. Aber falls er meiner Fantasie entsprang, war ich deutlich kreativer als ich bisher angenommen hatte.

      „Du hast mich umgebracht“, erwiderte er leichthin und fügte dann triumphierend hinzu: „Nun werden wir für immer zusammen sein. Und du kannst nichts daran ändern.“

      Er hatte mir schon einmal gesagt, dass er mich als Geist nun verfolgen würde, solange ich lebte. Keiner der Polizisten konnte ihn sehen. Wenn sie mich reden hörten, glaubten sie, dass ich in der kleinen Zelle langsam verrückt wurde.

      „Verschwinde!“, zischte ich, obwohl ich wusste, dass er nicht auf mich hören würde. Stattdessen stand er vom Tisch auf und ließ sich neben mir auf dem Bett nieder. Unsere Beine berührten einander, aber ich konnte ihn nicht spüren.

      „Du könntest wenigstens zugeben, dass du froh bist mich zu sehen. Immerhin bin ich dein einziger Gesprächspartner“, sagte er versöhnlich.

      „Du bist nicht echt“, fuhr ich ihn an.

      „Warum sprichst du dann mit mir?“

      Wütend presste ich meine Lippen aufeinander und legte mich auf mein Bett. Will ließ sich neben mir nieder. Selbst wenn er sich auf mich gelegt hätte, hätte ich davon nichts bemerkt. Es war nicht so, als ob er durch mich oder ich durch ihn hätte hindurchfassen können. Wenn ich ihn berührte, fühlte es sich eher an, als würde ich gegen eine Glasscheibe fassen: kalt und leblos.

      „Deine Tante ist heiß“, scherzte er nun. Noch mehr als wenn er sich zeigte, hasste ich es, wenn er mich beobachtete, ohne sich bemerkbar zu machen. Früher wäre er nie so direkt gewesen. Er war charmant und witzig, aber seine guten Manieren schien er mit seinem Tod verloren zu haben.

      Ich zuckte nur mit den Schultern. „Wenn du meinst.“

      „Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass es unmöglich ist, dass du die einzige Schattenwandlerin in deiner Familie bist.“

      Er hatte mir einmal von seinem Vater erzählt, der ebenfalls ein Schattenwandler war, aber ihr Verhältnis war nicht gut. Ob er zu der Beerdigung seines Sohnes kommen würde? Ich wusste nicht einmal, ob sie schon stattgefunden hatte. Mit schlechtem Gewissen dachte ich an seine Mutter, die nun nicht nur ihren Mann, sondern auch noch durch meine Schuld ihren einzigen Sohn verloren hatte. Ein trauriger Ausdruck legte sich auf Wills Gesicht. Manchmal schien es mir, als könne er meine Gedanken lesen, aber er hatte mir bisher darauf keine Antwort gegeben. Auch dieses Mal nicht. Er verschwand so plötzlich wie er gekommen war und ließ mich alleine mit meinen Schuldgefühlen zurück. „Es tut mir Leid“, flüsterte ich in die Stille. Das tat es mir wirklich.

      Winter

      Es hatte aufgehört zu schneien, aber an den Straßenrändern türmten sich graue Schneeberge, während der Boden von einer rutschigen Eisschicht überzogen war. Mein Atem hinterließ kleine Wolken in der Luft, während ich über den Bürgersteig hastete, um den Schulbus noch rechtzeitig zu erreichen. Ich war etwas nervös – Untertreibung des noch so frischen Jahres! In Wahrheit schlug mir mein Herz bis zum Hals und meine Hände waren in meinen Handschuhen feucht, aber nicht vor Anstrengung, sondern aus lauter Angstschweiß. Ich war zuletzt vor drei Monaten in der Schule gewesen. Vermutlich wusste bereits jeder, dass ich in der Psychiatrie gewesen war. Wenn dann auch noch die Anklage von Eliza wegen Mordes dazukam, konnte ich mich auf etwas gefasst machen. Am liebsten wäre ich gar nicht in die Schule gegangen. Ich hatte meinen Eltern versucht glaubhaft zu machen, dass ich eine schlimme Erkältung hätte und deshalb unmöglich in die Schule gehen könnte. Aber ich war eine deutlich schlechtere Schauspielerin als Eliza und sie hatten mich sofort durchschaut. Trotzdem waren sie bestürzt gewesen, denn ich gehörte nicht zu den Mädchen die regelmäßig Schule schwänzen. Eigentlich hatte ich damit erst begonnen, seitdem Eliza zurück in Wexford war.

      Ich sah den Bus mit laufendem Motor an der Haltestelle stehen und beschleunigte meine Schritte, was auf dem gefrorenen Boden einer Rutschpartie glich. Außer Atem sprang ich in die geöffnete Tür. „Danke!“, keuchte ich dem Busfahrer entgegen, der offenbar auf mich gewartet hatte. „Danke nicht mir, sondern deinem Freund“, grinste er und deutete auf einen Jungen mit grauer Mütze, der direkt hinter der Fahrerkabine stand: Lucas. „Er hat mir gedroht die Notbremse zu ziehen, sollte ich es wagen ohne dich loszufahren“, scherzte der Mann amüsiert. „Nun setzt euch aber!“

      Lucas lächelte mich unsicher an. Er hatte ein schönes Lächeln, das

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