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wütend auf mich zu sein. Ich habe dich im Stich gelassen, als du mich am dringendsten gebraucht hast. Ich war dir eine schlechte Freundin.“ Sie sah mich reumütig an. „Bitte verzeih mir und gib mir eine zweite Chance. Du hast mir wirklich gefehlt! Auch wenn ich nicht bei dir war, habe ich jeden Tag an dich gedacht.“

      Ihr Blick war so ehrlich, dass ich nicht anders konnte als ihr zu glauben. Trotzdem konnte ich nicht einfach so tun, als wäre nichts geschehen. „Ich kann dir darauf nicht sofort eine Antwort geben. Du hast mich sehr verletzt und ich weiß nicht, ob ich das einfach vergessen kann“, antwortete ich ihr in ruhigem Tonfall.

      Dairines Augen füllten sich mit Tränen, aber sie nickte verständnisvoll. „Das verstehe ich, aber ich bin trotzdem jederzeit für dich da. Du kannst mich immer anrufen, wenn du jemanden zum Reden brauchst. Egal wann, auch mitten in der Nacht.“

      Ein schwaches Lächeln glitt über meine Mundwinkel. „Ich werde es mir merken“, erwiderte ich versöhnlich. Ein Gefühl der Erleichterung durchströmte mich. Obwohl ich sie angeschrien und mich ihre Worte erst verletzt hatten, fühlte ich mich nun ein kleines bisschen besser - Irgendwie leichter. Es hatte gutgetan mich mit ihr auszusprechen. Würde ich dasselbe empfinden, wenn ich mich endlich trauen würde mit Eliza zu sprechen?

      Nach der Schule nahm ich nicht den Bus nach Slade’s Castle, sondern lief stattdessen in Richtung Wexford zur Polizeiwache. Ich war denselben Weg schon einmal vor Monaten gegangen, auch wenn meine Erinnerungen daran verschwommen waren. Es war nach einem Fußballspiel gewesen. Ich hatte mich mit Lucas wieder vertragen wollen, stattdessen hatte ich ihn und Eliza knutschend in den Umkleiden erwischt. Der Schmerz, den ich empfunden hatte, war mit nichts zu beschreiben. Ohne nachzudenken hatte ich mich von meinem Hass leiten lassen und war geradewegs zur Polizei gegangen, um Eliza des Mordes zu beschuldigen. Vermutlich war es deshalb auch irgendwie meine Schuld, dass sie nun in Untersuchungshaft saß. Wenn ich als ihre eigene Schwester nicht gegen sie ausgesagt hätte, wäre sie vielleicht nie in Verdacht geraten. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich es anders machen. Ich wäre zwar immer noch wahnsinnig enttäuscht und verletzt, aber ich würde sie nicht verraten. Eliza hatte viel falsch gemacht, mehr als vielleicht verzeihbar war, aber sie würde immer meine Schwester bleiben, daran könnte nichts etwas ändern..

      Ich atmete noch einmal tief durch, bevor ich die Tür zum Polizeirevier aufstieß. Am Empfang saß eine junge Polizistin, die neugierig aufsah, als ich eintrat. „Kann ich Ihnen weiterhelfen?“

      „Ich würde gerne meine Schwester Eliza Rice besuchen. Sie befindet sich in Untersuchungshaft“, sagte ich eilig, wobei meine Stimme leicht vor Nervosität zitterte. Die Polizistin sah mich überrascht an, aber griff dann nach dem Telefonhörer. „Einen Moment, bitte.“ Sie tippte eine dreistellige Ziffernfolge ein und wartete, bis am anderen Ende jemand abhob. „Hier ist ein Mädchen, das Eliza Rice besuchen möchte.“ Sie wand sich kurz an mich. „Ihr Name?“

      „Winter Rice.“

      Sie gab meinen Namen weiter und legte schließlich mit den Worten „Okay, sage ich ihr“ auf. Sie erhob sich und kam mir entgegen. „Wenn du deine Schwester nochmal besuchen möchtest, melde dich bitte vorher an. Normalerweise genehmigen wir keine spontanen Besuche, aber deine Schwester hat schon oft nach dir gefragt.“

      Ich nickte und spürte wie sich erneut ein Kloß in meinem Hals bildete. Vor wenigen Stunden hatte ich Dairine noch vorgeworfen, dass sie mich nie in Velvet Hill besucht hatte, dabei war ich selbst kein Stück besser. Eliza saß bereits seit mehreren Wochen in Haft und ich hatte es nicht einmal fertig gebracht zu ihr zu gehen. Dabei war ich mir sicher, dass wenn ich in ihrer Situation gewesen wäre, sie die Erste gewesen wäre, die mich besucht hätte, ganz egal, was zwischen uns vorgefallen war.

      „Warte bitte hier. Es kommt dich gleich jemand abholen“, wies sie mich an und deutete auf eine Holzbank, die vor einer Glastür stand. Gehorsam ließ ich mich dort nieder, nachdem ich ein leises „Danke“ gemurmelt hatte. Meine Hände zitterten, sodass ich sie auf meine Knie drückte. Nun gab es kein Zurück mehr. Wie würde Eliza reagieren, wenn sie mich sah? Bereute sie vielleicht schon, dass sie alles aufs Spiel gesetzt hatte, nur um mich von dem Jägersfluch zu befreien? Vielleicht hatte ich zu lange gewartet und sie dadurch so sehr enttäuscht, dass sie mich nun gar nicht mehr sehen wollte?

      Ein stämmiger Polizist trat durch die Glastür. „Winter Rice?“, fragte er an mich gewandt.

      „Ja, das bin ich“, brachte ich mit piepsiger Stimme hervor.

      „Dann komm mal mit“, forderte er und hielt mir die Tür auf, die er hinter uns sorgsam wieder verschloss. Er führte mich durch einen grauen Flur mit vielen Türen. Schließlich hielt er vor einer davon und schloss sie auf. Das war meine letzte Chance einen Rückzieher zu machen. Ich könnte mich bei ihm entschuldigen und sagen, dass ich es mir doch anders überlegt hatte. Aber ich tat es nicht, als ich eintrat, zitterten meine Knie so sehr, dass ich mich kaum auf den Beinen halten konnte. Eliza stand vor einem kleinen Tisch, der sich in der Mitte des Raumes befand. Sie trug eine graue Stoffhose und ein schwarzes Tanktop. Ihr sonst so seidiges Haar, um welches ich sie schon immer beneidet hatte, war in einem strengen Pferdeschwanz zurückgebunden. Ihre Haut erschien mir blasser als sonst und in ihrem Gesicht fehlte die Schminke, mit der sie sonst ihre Schönheit hervorhob. Ich hatte sie noch nie in einem so schlechten Zustand gesehen.

      Sie hatte die Augen weit aufgerissen und ihre Hände eng an ihren Körper gepresst. Wir sahen einander ungläubig an, bevor ein Schluchzen meine Kehle verließ. Eliza war mit einem Satz bei mir und drückte mich fest an sich. Ihre Tränen vermischten sich mit meinen, während wir uns beide heulend umklammert hielten. Doch schon im nächsten Moment wurden wir grob von dem Polizisten wieder auseinandergerissen. „Kein Körperkontakt!“, erinnerte er uns scharf. Hatte dieser Mensch denn gar kein Mitgefühl?

      Wir ließen uns an dem Tisch nieder und legten unsere Hände so auf den Tisch, dass sich unsere Fingerspitzen berührten. Wir hatten beide das Bedürfnis der anderen so nah wie möglich zu sein. Eliza mit verweinten Augen und tränenfeuchtem Gesicht vor mir zu sehen, rief eine Sehnsucht nach ihr in mir wach, die ich so nicht kannte. Sie war meine große Schwester und erst jetzt merkte ich, wie sehr sie mir fehlte.

      „Ich kann nicht glauben, dass du wirklich gekommen bist“, hauchte Eliza. Ihre vollen Lippen waren von unschönen Rissen durchzogen.

      „Ich hätte früher kommen sollen“, entschuldigte ich mich, doch Eliza schüttelte den Kopf. „Du bist hier und das ist alles, was zählt. Wie geht es dir?“

      Ein unglückliches Lachen verließ meine Kehle. „Du sitzt in Haft und fragst mich wie es mir geht?!“

      Sie begann ebenfalls zu lachen. „Ich habe das Gefühl von der Welt abgeschnitten zu sein.“

      „Mum und Dad sind sich sicher, dass Tante Rhona dafür sorgen wird, dass du freigesprochen wirst.“

      „Lass uns über etwas anderes reden, ja?“, bat sie. „Erzähl mir irgendetwas aus der Schule. Wie geht es Dairine? Ist sie jetzt mit Evan zusammen?“

      Ich war erstaunt darüber, wie gut sie über Dairines Liebesleben Bescheid wusste. Besser als ich. Obwohl ich die gewohnte Eifersucht bereits an mir nagen spürte, ignorierte ich sie. „Sieht so aus. Sie lassen es wohl langsam angehen.“

      Sie kicherte. „Ich habe ihr gesagt sie soll den ersten Schritt machen, wenn sie auf Evan warten will, kann sie sonst ewig warten. Dieser Junge ist die Schüchternheit in Person.“

      Eliza kannte sich damit aus, den ersten Schritt zu machen. Sie schien nie auch nur eine Sekunde zu befürchten, dass ein Junge sie abweisen könnte. Ich beneidete sie um ihr Selbstbewusstsein. „Nicht jeder ist so mutig wie du.“

      Sie zuckte mit den Schultern. „Das hat nichts mit Mut, sondern mit Dummheit zu tun. Wenn ich erstmal darüber nachdenken würde, was ich tue, hätte ich mir schon viele Probleme erspart“, gestand sie einsichtig. Ich wusste nicht, ob sie damit auch die Situation meinte, in der sie sich gerade befand, fragte sie aber auch nicht weiter danach. Einsicht kam bei Eliza eher selten.

      Sie schien die traurigen Gedanken beiseite zu schieben und lächelte

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