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anstatt in Elizas Zimmer zu schlafen, wie Mum es sonst so ziemlich jedem angeboten hätte.

      „Bist du froh, dass Rhona in der Stadt ist?“, fragte ich sie neugierig.

      „Natürlich“, behauptete Mum, ohne zu zögern. „Wenn jemand Eliza helfen kann, dann sie.“

      „Warum hat sie uns zuvor noch nie besucht?“

      „Sie ist beruflich sehr eingespannt und immer viel unterwegs.“

      „Hat sie denn nie Urlaub?“

      Mums Finger schlossen sich so fest um das Lenkrad, sodass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. „Rhona hat ihr eigenes Leben und ich meins.“

      „Aber sie ist doch deine Schwester! Vermisst du sie nicht manchmal?“

      Sie warf mir einen scharfen Blick zu, der mich deutlich dazu aufforderte nicht weiter nachzufragen. Als sie jedoch meinen enttäuschten Gesichtsausdruck bemerkte, sagte sie leise: „Du und ich sind einander ähnlicher als du vielleicht denkst.“

      Ich verstand nicht, was sie mir damit sagen wollte. Sprach sie darauf an, dass ich selbst Eliza auch immer am liebsten aus dem Weg gegangen war? War sie genauso froh darüber, dass Rhona Wexford mied, wie ich es gewesen war, als Eliza für ein halbes Jahr verschwunden war? Was war zwischen ihnen vorgefallen? Ging es etwa ebenfalls um einen Jungen? Ich dachte an Dad, der Rhona freundlich bei uns aufgenommen hatte. War es möglich, dass Rhona einst mehr für ihn empfunden hatte? Meine Eltern waren in meinen Augen immer das perfekte Paar gewesen, sodass ich mir nicht vorstellen konnte, dass es je anders gewesen sein könnte.

      Mona

      Ein letztes Mal drückte ich mein Gesicht gegen Aidans Hals, spürte seine Wärme auf meiner kalten Haut und atmete seinen mittlerweile so vertrauten Geruch ein. Es war nur eine einzige Schulstunde, die uns voneinander trennen würde: Biologie. In der Schule wurden drei Naturwissenschaften unterrichtet, von denen man mindestens eine belegen musste. Da Aidan mitten im Schuljahr an unsere Schule gewechselt hatte, konnte ihm der Direktor nur noch einen freien Platz in Chemie oder Physik anbieten. Aidan hatte sich für Physik entschieden. Sobald ich davon erfahren hatte, hatte ich ebenfalls in seinen Kurs wechseln wollen, doch weder der Direktor noch Liam hatten ein Einsehen gehabt. Liam hatte mich sogar ausgelacht mit den Worten Du wirst es überleben. Lass dem Jungen etwas Freiraum, du erdrückst ihn noch mit deiner Liebe!

      So war das nicht! Ich wusste, dass Aidan mich gern an seiner Seite hatte, am liebsten vierundzwanzig Stunden des Tages. In unserer Beziehung gab es keine Zweifel. Wir vertrauten einander blind.

      Beim Klingeln der Schulglocke löste sich Aidan sanft von mir und hauchte mir einen Kuss auf die Stirn. Obwohl die Schule noch fremder sein musste als für mich, war er trotzdem der Stärkere von uns beiden. „Nur eine Stunde“, erinnerte er mich flüsternd und streichelte mir aufmunternd über die Wange.

      „Sechzig Minuten“, murmelte ich.

      „Dreitausendsechshundert Sekunden und in jeder werde ich an dich denken“, lächelte Aidan, was mich ebenfalls zum Lachen brachte. Hätte uns jemand belauscht, hätte er vermutlich genervt mit den Augen gerollt. Aber niemand der anderen wusste wie angsteinflößend diese Menschenmassen für jemanden war, der noch nie eine Schule besucht hatte. Das ständige Getuschel, die lauten Stimmen, Geschrei, Gekreische, Gekicher – manchmal wollte ich mir am liebsten die Hände auf beide Ohren pressen.

      Es klingelte zum zweiten Mal. Aidan ließ nun endgültig meine Hand los und eilte davon. Ich ging in die entgegengesetzte Richtung und schaffte es gerade noch rechtzeitig in den Biologieraum. Winter und Dairine saßen in einer der mittleren Reihen. Ein Platz war noch bei ihnen frei, doch keine von ihnen sah zu mir auf, sodass ich es nicht wagte mich zu ihnen zu setzen. Winter war sicher froh, wenn sie mich so wenig wie möglich sehen musste. Unsicher ließ ich mich auf einen Platz in der hintersten Reihe gleiten. Die beiden Mädchen, die dort bereits saßen, blickten zuerst mich und dann einander überrascht an. Sie flüsterten irgendetwas, was ich nicht verstehen konnte, aber sicher mit mir zu tun haben musste. Ich legte mein Biologiebuch auf den Tisch und ließ meine Haare wie ein Vorhang vor mein Gesicht fallen.

      Der Lehrer betrat den Raum und öffnete die Tafel. Die Leber, ihre Beschaffenheit und ihre Funktion standen auf dem Lehrplan. Wir schlugen die Biologiebücher auf und bekamen Aufgaben, die wir lösen sollten. Ich versuchte mich auf das zu konzentrieren, was ich las, aber es fiel mir schwer. Plötzlich räusperte sich das Mädchen neben mir.

      „Du bist die Cousine von Mr. Dearing, richtig?“

      Zögerlich drehte ich mich zu ihr um und nickte.

      „Wohnst du bei ihm?“, fragte sie weiter und drehte dabei eine ihrer blonden Locken um ihren Finger.

      „Ja“, antwortete ich, wobei meine Stimme ein kaum hörbares Piepsen war.

      „Vielleicht könnten wir uns nach der Schule ja mal bei dir treffen“, schlug sie nun vor und zwinkerte dabei ihrer Freundin zu, die mich frech angrinste. Ich wusste, dass es keiner der beiden um mich ging, sie suchten lediglich eine Möglichkeit an Liam heranzukommen. Alleine die Vorstellung von den beiden Mädchen in dem Anwesen unserer Familie, verursachte mir eine Gänsehaut. Sie würden diesen magischen Ort mit all seinen quietschenden Dielen, staubbedeckten Möbeln und Spinnenweben nicht zu schätzen wissen. Es wären Eindringlinge in meinem Zuhause. Gleichzeitig fürchtete ich mich davor, was mit den Mädchen passieren würde, wenn sie einen Fuß über die Schwelle setzen. Winter war die Erste gewesen, die das Anwesen wieder lebendig verlassen hatte.

      „Liam mag keine Gäste“, antwortete ich ausweichend, worauf die Beiden zu kichern begannen.

      „Liam“, flötete die Blondine, als wäre sein Name Teil eines Songs. „Er wirkt nicht gerade wie ein Einsiedler. Bist du sicher, dass das nicht eher an dir liegt?“, fragte sie mich direkt.

      „Warum fragt ihr ihn nicht selbst?“

      „Warum direkt so unfreundlich?“

      Ich wusste nicht, wie ich aus dieser Situation wieder herauskommen sollte. Meine Hände wurden feucht und begannen zu zittern, sodass ich sie unter dem Tisch verstecken musste. Ein drückender Schmerz legt sich auf meine Stirn und mein Magen begann zu rebellieren. „Ich wollte nicht unfreundlich sein“, entschuldigte ich mich kleinlaut.

      „Schreibst du mir eure Adresse auf?“ Sie schob mir ein leeres Blatt über den Tisch zu. Ich starrte es an, als sei es eine giftige Schlange. Das Anwesen war mein Zuhause. Dort hatte niemand etwas zu suchen. Alles sträubte sich in mir dagegen, nach meinem Stift zu greifen und die Adresse zu notieren.

      „Nein“, drang es plötzlich lauter als beabsichtigt aus meinem Mund. Meine Stimme war fest, was mich selbst am meisten überraschte. Auch die anderen Schüler drehten sich zu uns herum. Meine Kopfschmerzen waren kaum noch zu ertragen.

      Die beiden Mädchen starrten mich ungläubig an, bevor sich ihr Blick verfinsterte. Sobald die Aufmerksamkeit nicht länger auf uns lag, zischte mir die Blondine zu: „Das war ein großer Fehler! Glaub mir, niemand will mich zur Feindin haben.“

      Ich wollte sie weder zur Feindin, noch zur Freundin haben. Im Grunde wollte ich gar nichts mit ihr zu tun haben.

      Als der Lehrer die Aufgaben einsammelte, war mein Blatt beinahe leer. Trotzdem war ich unendlich erleichtert diese schreckliche Stunde überstanden zu haben. Eilig packte ich meine Schulsachen zusammen, um aus dem Unterrichtsraum flüchten zu können. Doch plötzlich standen Winter und Dairine vor mir. Beide machten besorgte Gesichter.

      „Was hat Wendy zu dir gesagt?“, fragte Winter und musste damit die Blondine meinen.

      „Nichts“, wehrte ich ab.

      Dairine lachte. „Irgendetwas muss sie doch gesagt haben, so wie du sie angeschrien hast.“

      „Sie wollte die Adresse von unserem Anwesen“, gab ich schließlich zu.

      Winter schien eins und eins miteinander zu kombinieren, denn ihr Mund formte sich

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