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seiner Schwägerin keine Zigarette angeboten hatte, er bot ihr nicht einmal Feuer an, sondern schaute nur äußerst missbilligend in ihre Richtung und raunte unhörbar für alle anderen seiner Frau zu: „Dass sie jetzt auch noch rauchen muss, grenzt wirklich fast an Unverschämtheit. Hat sie denn nichts davon gehört, dass Frauen in Deutschland auf jeglichen Tabakgenuss verzichten sollen zugunsten der kämpfenden Soldaten? Da müssen ehrenhafte junge Männer ihre Knochen hinhalten, damit solche Frauen wie sie ein geordnetes Leben in Frieden führen können, aber sie ist nicht in der Lage zugunsten dieser wichtigen und unbedingt notwendigen Armee auf ihr Laster zu verzichten, Gretel!“ „Was hast du gerade gesagt, Walter?“ wandte sich Tante Else an ihn. Hatte sie doch etwas gehört? „Ach, nichts von Bedeutung, galt nur Gretel“, erwiderte Vati, denn dazu war er nicht mutig genug, sich ausgerechnet heute mit seiner Schwägerin anzulegen. Überhaupt fand er natürlich den Anlass absolut nicht passend kurz nach der Beerdigung mit irgendjemandem über das Rauchen zu streiten, über das Benehmen von Frauen im Allgemeinen oder über die Untugend, dass Frauen rauchten. Natürlich wusste er auch, dass Einwände seinerseits bestimmt sehr unglaubwürdig klangen, da seine Fingerspitzen schon ganz gelb bis braun waren von seiner eigenen ständigen Qualmerei. Andererseits war er aber auch davon überzeugt, dass Tante Else den Aufruf im Radio gehört oder in der Zeitung gelesen haben musste, dass Frauen in Deutschland ihren eigenen Zigarettenkonsum zurückstellen sollten wegen des hohen Bedarfs an Tabakwaren an allen Fronten. Sie musste es wissen! Vielleicht wollte sie ja auch nur provozieren mit ihrer Raucherei. Also fand er doch noch eine seiner Meinung nach passende Bemerkung in die Richtung auf Tante Else gemünzt: „Tabak ist jetzt schon sehr knapp geworden. Wollen hoffen, dass wir noch weiter Zigaretten bekommen!“ „Ach da habe ich keine Sorgen“, gab Tante Else zurück, „für Soldaten wird wohl hinreichend gesorgt, so dass Erich mir sicher immer noch die eine oder andere Schachtel mitbringen kann. Andererseits habe ich durch meine geschäftlichen Beziehungen auch noch andere sichere Quellen.“ Damit war dieses Gespräch vorläufig erschöpft. Mein Geburtsjahr neigte sich dem Ende zu. Ähnlich traurig wie das Weihnachtsfest wurde auch Silvester in unserer Familie gefeiert. An eine fröhliche Silvesterknallerei war auf keinen Fall zu denken, da auch das Knallen nicht gerne gesehen wurde. Schließlich hatte es auch so genug in der Welt geknallt. Gut, etwas Sekt war vorhanden, aber auch andere Spirituosen hatte Vati bis Mitternacht konsumiert, Mutti das eine oder andere Likörchen genippt und Ursel durfte auch bis 24.00 Uhr aufbleiben und den Eltern ein frohes neues Jahr wünschen. Ich selbst hatte den Jahreswechsel ordnungsgemäß verschlafen. Ein Jahresrückblick auf mein Geburtsjahr hätte vielleicht folgende Highlights ergeben: Roosevelt, der einzige mögliche Präsident, der in Amerika für ein militärisches Eingreifen gegen Deutschland und Italien eintrat, wurde zum dritten Male wieder gewählt. Wichtig für Deutschland, allerdings mehr unbemerkt von der Bevölkerung war das Ende des Parallelkrieges. Das bedeutete, dass nun nicht mehr Italien allein im südlichen Europa Krieg führte und Deutschland allein im nördlichen, sondern dass ab 19. Januar 1941 deutsche Truppen auch im Mittelmeerraum kämpften. Siege in Belgrad und Athen, - Hitler hatte ohne jegliche Vorwarnung sowohl Jugoslawien als auch Griechenland angegriffen und die Hauptstädte besetzt-, wurden entsprechend propagandistisch aufgewertet, obwohl die meisten Deutschen gar nicht wussten, warum auch diese Länder zu den bösen Feinden gehörten. Erwin Rommels Erfolge in der Wüste wurden gefeiert. Im Mai hatte man noch einmal sportliche Erfolge zu verkünden: Der deutsche Rudolf Harbig stellt einen deutschen Rekord im 1000m-Lauf auf. Weniger lautstark wurde gemeldet, dass britische Truppen im Krieg gegen den Irak die Hauptstadt Bagdad erobert hatten. Während am 22. Juni Schalke 04 gegen Rapid Wien das Endspiel um die deutsche Fußballmeisterschaft verlor, griff am gleichen Tage die deutsche Armee entgegen allen geschlossenen Verträgen unverhofft die Sowjetunion an. Für die Deutschen war dieser Überfall wahrscheinlich weniger überraschend als für die Russen, denn schon lange war in der deutschen Presse vom Untermenschen und vom möglichen Feind die Rede, wenn über die Sowjetunion berichtet wurde. In der Schweiz starb am 6. Juni der Automobilkonstrukteur Louis Chevrolet. Deutsche Einzelhändler durften ihre Schaufenster nicht mit Waren dekorieren, die nicht mehr erhältlich waren. Und das waren inzwischen schon sehr viele. Rumänien und Italien erklärten den UdSSR den Krieg, gefolgt von den Ländern Ungarn und Slowakei. Willy Fritsch, Theo Lingen und Hedwig Bleibtreu wurden als Hauptdarsteller in dem Musikfilm „Dreimal Hochzeit“ gefeiert. Finnland erklärte der Sowjetunion den Krieg, weil es angeblich angegriffen worden war. Konrad Zuse hatte den ersten funktionsfähigen Computer fertiggestellt. Adolf Hitler hatte verkündet, dass die russischen Städte Moskau und Leningrad dem Erdboden gleichgemacht werden müssten, damit man die dortige Bevölkerung nicht ernähren müsse, und 328 000 sowjetische Soldaten gerieten in deutsche Kriegsgefangenschaft. Nicht bekannt gemacht wurde die Ermordung des Paters Kolbe im KZ, wie überhaupt die Konzentrationslager nicht unbedingt zu den Dingen gehörten, die in der Bevölkerung entsprechend publiziert wurden. Gastwirte durften laut einer Verfügung bei der Übertragung von Wehrmachtsberichten keine Gäste bedienen, weil das das Zuhören erschwert oder gestört hätte. Ab August führte Stalin die Rote Armee, und London sicherte sich durch einen Sieg im Iran die dortigen Ölfelder. In Japan wurde die Generalmobilmachung verkündet. Christliche Kirchen wandten sich in Deutschland trotz Bedrohung gegen die NS-Euthanasie, die vorsah, Menschen zu töten, die von den Nationalsozialisten als „lebensunwert“ betrachtet wurden. Alle niederländischen Kinos mussten auf Anweisung der deutschen Besatzungsmacht ein halbes Jahr lang den Film „Der ewige Jude“ zeigen, obwohl oder vielleicht weil dort sehr stark gegen die Deportation von Juden demonstriert worden war. Am 29. April gab es in Berlin eine Uraufführung mit dem Film „Ich klage an“ von Regisseur Liebeneiner, in dem aktive Sterbehilfe propagiert wurde. Unpassende Begleiterscheinungen solcher „kulturellen“ Ereignisse waren heftige Bombenangriffes der britischen Luftwaffe auf deutsche Städte wie Hamburg, Berlin und Frankfurt am Main. Ab 1. September mussten alle Juden den Judenstern offen und öffentlich tragen. Wenig später kam es zum Massenmord mit Zyklon B im Konzentrationslager Auschwitz, wovon aber auch die meisten Deutschen nichts erfuhren, obwohl ständig Gerüchte durchdrangen. Eine Änderung des Strafrechts war beschlossen oder verordnet worden, die eine schärfere Anwendung der Todesstrafe unter anderen für Gewohnheits- und Sittlichkeitsverbrecher vorsah. In Amerika wurde der Film „Suspicion (Verdacht) mit dem Hauptdarsteller Cary Grant uraufgeführt, ein Film des damals schon bekannten Regisseurs Hitchcock. Die Rote Armee hatte die „Stalinorgel“ bekommen, ein Geschosswerfer, der von der deutschen Wehrmacht sehr gefürchtet wurde. Der amerikanische Schauspieler Humphrey Bogart wurde berühmt. Der Vormarsch der deutschen Armee geriet vor Moskau wegen des beginnenden Winters ins Stocken. Der erste deutsche Farbfilm „Frauen sind doch bessere Diplomaten“ mit Marika Rökk wurde in Berlin uraufgeführt. Am 1. November verwüstete eine Sturmflut bei den Kanarischen Inseln die Insel Gomera. Die deutsche Bevölkerung wurde am 22. November aufgefordert, zwischen sechs und zehn Uhr keine elektrischen Geräte zu verwenden, um Strom zu sparen. Eine Meldung vom 25. November besagte, dass in Deutschland 1.179.000 Kriegsgefangene lebten, von denen viele als Zwangsarbeiter verpflichtet wurden. Ein Fußballländerspiel in Breslau, das die deutsche Nationalmannschaft mit 4 : 0 gegen eine Auswahl der Slowakei gewann, sollte Normalität vortäuschen und lenkte ab von wirklich dramatischen Ereignissen des gleichen Tages: In Afrika musste Feldmarschall Rommel mit seinen Truppen den englischen Offensiven weichen. Ohne jegliche Vorwarnung überfielen japanische Flieger und Kriegsschiffe den amerikanischen Stützpunkt Pearl Harbor, was zu gegenseitigen Kriegserklärungen am nächsten Tage führte. Vor dem deutschen Reichstag verlas der Reichskanzler Adolf Hitler die deutsche Kriegserklärung an die USA. Aber auch kulturell blieb das Deutsche Reich im Dezember nicht untätig: Adolf Hitler ordnete an, dass das Drama „Wilhelm Tell“ von Friedrich Schiller wegen seines revolutionären Charakters nicht mehr im Schulunterricht behandelt werden durfte. Am 16. Dezember wurde der Film „Quax, der Bruchpilot“ mit Heinz Rühmann uraufgeführt, am 30. Dezember der Liebesfilm „Illusion“ mit Johannes Heesters und Brigitte Horney in den Hauptrollen. Eindringlich warnten namhafte Schriftsteller aus dem Ausland, so Thomas Mann, der im US-Exil lebte, vor dem Krieg und seinen Folgen. Von all diesen dramatischen Entwicklungen merkte und spürte ein kleiner Junge, gerade zu Beginn dieses Jahres geboren, natürlich nichts. Für mich galten als die wichtigsten Ereignisse des Jahres eindeutig die Umstellung von der Kindernahrung Alete auf normale Kost. Ebenso wichtig waren die zärtlichen Zuwendungen meiner Mutter und die vehemente Abwehr meinerseits gegenüber meiner „großen“ Schwester, die

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