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das andere Gebäude, um dort im siebten Schuljahr Religionsunterricht zu erteilen. Frau Kern begleitete mich. Fröhlich grüßten mich ständig Kinder, die ebenfalls pendelten, mit den Worten: „Guten Morgen, Herr Fiori!“

      Immer erwiderte ich den Gruß und fügte sofort die Mahnung an, dass ich doch nicht alleine sei, sie möchten wohl auch bitte Frau Kern grüßen. Manche entschuldigten sich und riefen: „Guten Morgen, Frau Kern!“ Andere murmelten nur etwas, und einige verzogen das Gesicht, sagten aber nichts. Ich verstand Frau Kern in dieser Hinsicht nicht. Sie war regelrecht beleidigt, dass die Kinder sie nicht grüßten, machte aber überhaupt keine Anstalten, diesen Zustand so oder so zu ändern. Ich wollte ihr, der fast Gleichaltrigen, auch keine Lehre erteilen. Immerhin war sie ja auch meine Vorgesetzte.

      Wenn Schulleiter auch immer betonten, sie seien nur „Primus inter Pares“, so war sie jedoch in vieler Hinsicht weisungsbefugt. Trotzdem sagte ich aber, dass man Kinder nur dann zur Höflichkeit brächte, wenn man mit gutem Beispiel voranginge. Ich jedenfalls hätte nie Probleme damit gehabt, die Kinder auch zuerst zu grüßen. Die Folge dieser Angewohnheit war nun, dass jetzt die Kinder immer mich zuerst grüßten und das besonders freundlich. Frau Kern meinte, das läge vielleicht auch ein wenig an meiner Art, mich bei Kindern beliebt zu machen.

      Das saß wieder einmal. Ich fand es eigentlich unverschämt, dass immer wieder Kolleginnen oder Kollegen Anspielungen machten, ich sei besonders schülerfreundlich und würde oft Dinge zulassen, die eigentlich verboten wären. Genau das empfand ich selbst nicht so. Ich dachte von mir, dass ich der strengste Lehrer an dieser Schule wäre. Denn ich hatte oft das Gefühl, dass ich die Kinder mit meinen hohen Anforderungen bis an den Rand ihrer Möglichkeiten brachte.

      Hatte ich doch zum Beispiel fünf Jahre zuvor gegen den Willen der Fachkonferenz Deutsch durchgesetzt, dass meine Klasse 10 B die „Judenbuche“ von Annette von Droste Hülshoff gelesen und interpretiert hatte, obwohl eine Kollegin ganz besonders energisch dagegen protestiert hatte mit den Argumenten, damit seien unsere Schüler an der Hauptschule hoffnungslos überfordert.

      Sie selbst hätte schon während ihrer eigenen Schulzeit unter dieser Lektüre gelitten, aber sie wäre ja auf dem Gymnasium gewesen. Schüler einer Hauptschule wären aber sicher nicht in der Lage, ordentlich an dieser Literatur mitzuarbeiten, würden auch den Text wohl keinesfalls verstehen, erst recht nicht interpretieren können.

      Genau mit diesen Argumenten hatte ich dann meine Klasse motiviert, gerade diese Lektüre auf eigene Kosten anzuschaffen. Denn das wollte niemand von ihnen auf sich sitzen lassen, dass sie etwas nicht könnten, was zum Beispiel Schüler eines Gymnasiums ohne Probleme fertig brächten. Auch meinten sie nicht, dass sie durch irgendeinen Unterricht überfordert werden würden. Sie hatten schließlich von mir selbst gelernt, dass es eigentlich überhaupt nichts gäbe, was ein Mensch nicht könne, wenn er nur wolle.

      Andererseits brachte ich schon eine Menge Verständnis dafür auf, was Schüler hindern könnte, ordentlich in der Schule mitzuarbeiten. Wir machten dann oft länger oder arbeiteten die Probleme auf. Dabei durfte auch der eine oder andere Scherz nicht fehlen. Denn ohne ein wenig Freude oder eine lustige Pause konnte einfach eine schwierige Aufgabe nicht bewältigt werden. Meiner Meinung nach war ich wegen meines Humors bei den Schülern so beliebt und nicht etwa deshalb, weil ich fünfe gerade sein ließ, wie mir oft vorgeworfen wurde.

      Aber wir wollten nicht darüber streiten. Dann kam sie mit einem Anliegen heraus, was mir ein wenig Kopfschmerzen verursachte. Mit ihrer leisen Stimme raunte sie:

      „Herr Fiori, ich habe eine Bitte, dass Sie sich in ihrer Eigenschaft als Beratungslehrer einmal mit Herrn Kraft unterhalten. Ich bin der Meinung, dass er wirklich Probleme hat im Umgang mit den Schülern. Zu oft ruft er nach der Polizei. Ich möchte das nicht, dass ständig nach außen getragen wird, wenn hier in der Schule mal etwas nicht so läuft, wie wir uns das wünschen. Würden Sie das wohl tun bei irgendeiner sich ergebenden Gelegenheit?“

      Das war genau die Art, wie ich als Beratungslehrer nicht agieren sollte und es auch bestimmt nicht wollte. Wenn jemand das Bedürfnis hatte, sich mit mir über seine Probleme zu unterhalten, sollte grundsätzlich die Initiative von ihm aus gehen. Denn meine Tätigkeit als Beratungslehrer setzte voraus, dass ich seine Probleme anhörte und mich auf seine Auffassung einstellte und mich auch auf seine Seite stellte und seine Nöte verstehen würde.

      Das hieß, dass ich grundsätzlich mich seiner Probleme positiv annehmen musste, um dann im Gespräch zu klären, welche Möglichkeiten er selbst finden konnte, diese Probleme zu lösen. Nur wenn der Ratsuchende selbst keine Möglichkeit sah, dann sollte ich kraft der Vernetzung der Beratung ihm eine möglichst kompetente Hilfe nennen und vielleicht auch die Verbindung dorthin aufnehmen. Und genau dieses Prinzip wurde natürlich durchbrochen, wenn ich die Initiative ergreifen musste. Dann war ich es nämlich, der im Grunde ein Problem hatte.

      Trotzdem versprach ich Frau Kern, dass ich Herrn Kraft ansprechen wollte.

      Inzwischen hatten wir unser Ziel erreicht und begaben uns in unsere Unterrichtsräume. Denn Frau Kern musste nicht in ihr Büro sondern ebenfalls sofort in den Unterricht.

      Auch während der Religionsstunde im siebten Schuljahr kam es zu ähnlicher Unruhe wie in meiner eigenen Klasse. Auch hier musste ich mich kurz auf ein Gespräch über die gestrige Lehrerkonferenz einlassen und Herrn Kraft gegen meine eigene Überzeugung verteidigen. Ob ich besonders glaubwürdig klang, bezweifelte ich.

      Es sollte am gleichen Tag noch dicker kommen.

      Nach der letzten, der sechsten Stunde baten mich Katja und Melanie um ein vertrauliches Gespräch. Ich blieb deshalb gleich mit ihnen im Klassenzimmer.

      Dabei fiel mir ein, dass genau davor oft gewarnt worden war. Gerade ein männlicher Lehrer mit zwei Schülerinnen im vertraulichen Gespräch wäre der Gefahr einer Verleumdung ausgesetzt. Gab es doch hinreichend Beispiele dafür, dass Schülerinnen den Lehrer anzeigten wegen angeblicher sexueller Belästigungen oder Schlimmeres. Seine Unschuld zu beweisen, fiel dann dem betroffenen Lehrer mehr als schwer. Solche Fälle waren nur dann gut ausgegangen, wenn so ein Mädel hinterher den Mut aufbrachte, die Wahrheit zu sagen, dass sie dem Lehrer eigentlich nur einen Denkzettel verpassen wollten, an der Beschuldigung selbst aber absolut kein Körnchen Wahrheit sei. Trotzdem hatten dann solche Kollegen einen guten Ruf oftmals verloren.

      Obwohl mir diese Gedanken durch den Kopf gingen, ließ ich mich auf das Gespräch ein. Tatsächlich hatte ich auch überhaupt keine Befürchtungen, dass die Mädchen irgendetwas anderes im Schilde führten, als mich wirklich zu bitten, ihnen bei der Lösung eines Problems behilflich zu sein. Die Mädel hatten sehr großes Vertrauen zu mir und ich vertraute ihnen ebenfalls völlig. Außerdem gehörte es sowieso zu meinem Alltag als Beratungslehrer, dass sich Jungen oder Mädchen allein ratsuchend an mich wandten, dabei strikte Vertraulichkeit erwartend.

      Ich fragte infolgedessen, was sie denn auf dem Herzen hätten.

      Katja kam sofort zur Sache: „Herr Fiori, wir beide möchten gerne an Ihrem Religionsunterricht teilnehmen und wollen nun fragen, ob wir das von der nächsten Stunde an dürfen.“

      Das kam etwas überraschend, aber ich musste mich wohl darauf einlassen: „Nun bin ich aber wirklich sehr überrascht. Ihr wisst doch, dass ich evangelisch bin und dementsprechend evangelische Religionslehre erteile. Ihr beide aber seid katholisch und würdet bei mir also Dinge lernen, die mit eurer Kirche nicht in Einklang zu bringen wären. Warum um Himmels willen wollt ihr denn auf einmal zu mir? Auch andere Lehrer machen einen guten Unterricht. Bei mir müsst ihr viel schreiben und oft ist der Unterricht auch gähnend langweilig. Also, warum?“

      Melanie antwortete dieses Mal: „Ja, wir wollen deshalb zu Ihnen, weil Sie selbst erklärt haben, dass Arbeitgeber bei der Vergabe von Lehrstellen darauf achten, dass Schüler am Reli-Unterricht teilgenommen haben und sich nicht etwa abgemeldet haben. Das aber würden wir auch machen, wenn wir nicht bei Ihnen teilnehmen können. Wir wollen auf jeden Fall eine Note in Reli auf dem Zeugnis haben!“

      Ich wusste immer noch nicht, wo eigentlich die Ursache für diese Bitte lag: „Dann sagt mir doch bitte einmal, warum ihr denn nicht weiter am katholischen Religionsunterricht teilnehmen wollt. So ohne weiteres ist ein Wechsel wirklich nicht möglich! Da müssen schon schwerwiegende Gründe vorliegen.“

      Beide

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