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fehlte der geliebte Bohnenkaffee, den man sich sowieso nur noch recht selten gegönnt hatte. Auch hörte man immer häufiger Sirenen heulen. Angst kam auf. Trotzdem mochte Mutti mit den beiden Kindern nicht jedes Mal bei Fliegeralarm in den nahe gelegenen Bunker laufen. Oft blieb sie im Keller, manchmal sogar im Hausflur oder in der Wohnung, ängstlich darauf hoffend, dass keine Bombe in der Nähe herunterkam. Tante Traute war da schon ganz anders, sie drängte immer wieder darauf, doch schnellstens in den Bunker zu verschwinden. Aber sie hatte es auch etwas leichter mit nur einem Kind. Wie war das noch mit dem Sieger? War Deutschland etwa nicht mehr auf der Siegerstraße? Schließlich konnte es doch dem siegreichen Land voller Herrenmenschen nicht geschehen, dass auf die eigene Bevölkerung Bomben geworfen wurden. Inzwischen waren wir alle wieder wohlbehalten in Essen und freuten uns trotz aller Bedrohungen und trotz der immer größer werdenden Lebensmittelknappheit auf das erste Weihnachtsfest, das Bübchen, also ich, erleben durfte. Opa war genau aus diesem Grunde von Godesberg aus gekommen, um dieses Weihnachtsfest mit seinem ersten männlichen Enkel, dem Thronfolger, dem Weiterbringer seines Namens zu feiern. Endlich kein Pisspinchen hatte er immer gesagt, nachdem ich geboren worden war, denn bisher hatten seine Söhne es „nur“ zu Töchtern gebracht, zu Hiltrud in Köln, der Erstgeborenen von Tante Else und Onkel Erich, ja und mein Vater mit Margarete, genannt Gretel, eben „nur“ zu meiner Schwester Ursula. Vor lauter Stolz und Vorfreude kam Opa auch alleine nach Essen. Oma wollte lieber in Bad Godesberg mit ihrer Tochter Erna Weihnachten feiern. Auch hatte sie Angst zu reisen in diesen unruhigen Zeiten. Schließlich waren doch schon einige Bomben über Deutschland gefallen. Gab es nicht auch einen Aufruf des Führers, das Fest ruhig im Familienkreise zu begehen? Ja, und Mütter sollten belohnt werden, die noch schwanger wurden, denn schließlich brauchte Deutschland den Nachwuchs dringend.. Wer weiß schon genau, warum Oma nicht mit gekommen war. Gründe hatte sie genügend genannt. Der Heilige Abend war dann aber gar nicht so schön, wie unsere Familie sich diesen Festtag gedacht und gewünscht hatte. Ich war im Schlafzimmer in meinem Kinderbettchen eingeschlafen. Mutti und Vati schmückten den Weihnachtsbaum im Wohnzimmer: Ursel spielte oben in der Mansarde mit Opa, denn sie durfte doch das Christkind nicht sehen, das gerade in diesem Augenblick die Geschenke brachte. Wenn ein Kind das Christkind sah, wurde dieses sofort wieder unsichtbar, und noch viel schlimmer, es nahm auch alle Geschenke wieder mit, die es eigentlich den Kindern und der Familie bringen wollte. Deshalb also spielte Ursel mit Opa oben in der Mansarde und jauchzte vor Vergnügen, denn Opa war sehr lustig. Sie jauchzte auch noch, als Opa dann auf dem Sessel saß und plötzlich laut atmete und dann ganz eigentümlich begann zu stöhnen. Was mochte das wieder für ein lustiges Spiel sein, was Opa sich da ausgedacht hatte. Ja, und dann war Opa ganz still. Ursel lachte laut, das fand sie lustig. Wie lange Opa nur dieses Spiel durchhielt. Bald musste er aber wieder aufwachen von seinem Schlafspiel. Denn bald würden Mama und Papa raufkommen und sie beide ins Weihnachtszimmer holen. Das dauerte aber lange. Gott sei Dank kam Mutti herauf. „Schau mal, Mutti, was Opa mit mir spielt!“ Opa lag auf dem Sessel. Mutti rief: „Vater, Vater!“ Opa rührte sich nicht. Opa war gerade gestorben. Die Familie feierte ein trauriges Weihnachtsfest. Dabei war alles so schön vorgeplant gewesen. Vor allen Dingen die Freude Opas, mit seinem ersten männlichen Enkel dessen erstes Weihnachtsfest zu feiern. Statt dessen Aufregung, Arztbesuch, Telegramm nach Godesberg, Anreise von Oma und Tante Erna. Die Beerdigung fand auf dem großen Südwestfriedhof in Essen statt. An eine Überführung nach Bad Godesberg war nicht zu denken, wurde auch nicht dran gedacht. Schließlich war die Stadt Essen auch nicht allzu weit entfernt vom Geburtsort von Oma Fiori. Kalt war es auf dem Friedhof. Nur wenige Leute waren mitgegangen, Opa war nicht so sehr bekannt in Essen, und die Familie Fiori auch nicht allzu sehr. Einige Freunde der Familie waren da. Die Verwandten von Mutti konnten alle nicht erscheinen. Aber Onkel Erich und Tante Else mit Hiltrud aus Köln waren selbstverständlich angereist. Opas Tod war auch für sie besonders schmerzlich, denn auch Onkel Erich hatte sehr an seinem Vater gehangen. Dass ich ebenfalls fürchterlich weinte und brüllte, war eigentlich selbstverständlich, obwohl ich weniger aus Trauer um den Verlust dieses lieben Menschen in Tränen ausbrach. Um das genau zu begreifen, war ich noch viel zu klein, immerhin noch kein Jahr alt. Aber die allgemeine Aufregung, die Trauer der Erwachsenen und der anderen Kinder blieb auch nicht ohne Wirkung auf mich. Sowohl Ursel als auch unsere Cousine Hiltrud weinten sehr. Wenn auch Opa über die „Pisspinchen“ nur gelächelt hatte, so war er doch auch ihnen ein sehr lieber Großvater gewesen, und anders als ich, verstanden diese beiden großen Mädchen, sie waren immerhin schon acht und sieben Jahre alt, sehr genau, dass nun ihr lieber Opa für immer von ihnen gegangen war. Aufregung herrschte aber auch wegen der unklaren Verhältnisse wegen des Krieges. Immerhin waren Bomben auf deutsche Städte gefallen, und es traten tatsächlich erste Zweifel am Endsieg auf. Aber man wagte nicht, darüber zu reden. Onkel Erich war einfach zu sehr überzeugt, er wie auch Tante Else waren auch Mitglieder in der Partei. Vati glaubte natürlich auch noch als Soldat an die gute Sache, die er zu vertreten hatte. Eigentlich war Onkel Erich mehr ein Parteianhänger des Zentrums, aber auch diese Partei hatte sozusagen klar Stellung bezogen für den Krieg, in den Deutschland hineingezogen worden war, so völlig ohne eigenes Verschulden. Oder wusste doch jemand mehr, als er zugeben wollte. Natürlich sprachen viele in der Nachbarschaft und im Familienkreis auch darüber, aber niemand mochte so recht sagen, dass Deutschland eigentlich den Krieg angefangen hatte. Man hatte aber auch völlig andere Sorgen, schließlich wurde allmählich die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und vor allen Dingen mit ausländischen Früchten knapp. Auch war es gar nicht so einfach gewesen, zur Beerdigung nach Essen anzureisen. Nicht alle Züge verkehrten mehr regelmäßig. Gut, Onkel Erich hatte Gott sei Dank ein eigenes Auto und war mit der Familie damit hergekommen. Er musste aber auch bald wieder fort, schließlich war er aktiver Offizier bei der Wehrmacht. Eine innige Bruderliebe herrschte nicht gerade zwischen meinem Vater und Onkel Erich. Besonders zu diesem Zeitpunkt wurde wieder deutlich, dass mein Vater nicht viel von seinem älteren Bruder hielt, den er insgeheim als Schmarotzer bezeichnete. Schließlich trug der die Schuld daran, dass mein Vater nicht studiert hatte. Denn mein Vater hatte, so erzählte er immer wieder gerne, zugunsten seines Bruders darauf verzichtet, ein richtiges Abitur zu machen und zu studieren, weil nach Auskunft meiner Großeltern nur für das Studium eines Sohnes das Geld gereicht hätte. Und ausgerechnet dieser Bruder, der doch als studierter Diplomingenieur und aktiver Offizier genug Geld hatte, sich ein Auto zu leisten, was mein Vater nicht einmal erträumen konnte, eben weil er doch zurückgesteckt hatte, ausgerechnet dieser Bruder hatte es nicht einmal für nötig gehalten, seine eigene Mutter aus Bad Godesberg mit dem Wagen abzuholen. Das war in den Augen meines Vaters schon deshalb unverzeihlich, weil einmal die Distanz zwischen Köln und Bad Godesberg nicht allzu groß war, und schließlich auch die Ehefrau mit der Bahn hätte fahren können statt der Mutter. Mein Vater jedenfalls hätte so gehandelt, immerhin war er zur Ehrfurcht gegenüber den Eltern erzogen worden und zu Anstand und Ehre. Aber so ist das eben mit verwöhnten Geschwistern, reicht man ihnen erst einmal den kleinen Finger, nehmen sie gleich die ganze Hand. Freilich auch die Schwägerin war nicht ganz nach Vatis Geschmack. Sie war für eine Frau der damaligen Zeit viel zu selbstbewusst, hatte sogar die Stirn, sich eine eigene Existenz aufzubauen, war Raucherin, das an und für sich schon sehr verwerflich zu nennen war, und sie hielt das Geld zusammen und machte ihrem Mann, man glaube es kaum, sogar Vorschriften, wofür das liebe Geld ausgegeben werden durfte. Da war mein Vater doch ein ganz anderer Kerl. Er bestimmte, was in der Familie zu geschehen hatte. Dass Mutti rauchte, wäre wohl undenkbar gewesen. Und über geldliche Dinge war sie auf keinen Fall aufzuklären, soweit käme das noch. Was verstand eine Frau schon von Geld. Sie musste auch nicht wissen, wie viel Geld Vati verdiente und zur Verfügung stand. Schließlich hatte Vati die Arbeit und die Verantwortung für die Familie und obendrein noch ein recht teures Laster, das er sich auch von niemandem nehmen lassen würde. Ganz so teuer war es allerdings auch wieder nicht in seinen Augen, beruhigte Vati sich selbst, wenn er an die vielen Ausgaben dachte für Bier und Schnaps. Aber dass der Sohn seiner eigenen Mutter zumutete mit der Bahn anzureisen, obwohl ein Auto zur Verfügung stand, das war unverzeihlich! So war es auch nicht allzu verwunderlich, dass die Unterhaltung sich etwas fremdelnd dahin schleppte. Zwischen den Frauen kam es wohl zu lebhaftem Austausch von Erinnerungen, vor allem über Erlebnisse mit Opa, aber auch über die Geburten, über Probleme mit der Kindererziehung, über einige Kriegsereignisse, auch über den Mangel an bestimmten Lebensmitteln, die man nun vermisste. Nur die Brüder hatten sich verhältnismäßig wenig zu sagen. Beide saßen dort, mehr oder weniger stumm vor sich hin rauchend,

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