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das schwächt nur und macht traurig oder gar aggressiv. Also, konzentriere ich mich lieber auf mich selbst!“Der Kinderarzt stellte keine Fehler oder bedenkenswerten Unterschiede fest, die mich von anderen Säuglingen gleichen Alters gravierend abgehoben hätten. Sicherlich, ich war ein ausgesprochen ruhiges und auch bequemes Baby, ließ alles mit mir geschehen, ohne zu protestieren, bewegte mich auch ausgesprochen schwerfällig, aber ein Grund zu irgendwelcher Besorgnis bestand eigentlich nicht. Gut, die Blutuntersuchung hatte ergeben, dass mir gewisse Aufbaustoffe und Vitamine fehlten, aber da war in dieser schwierigen Kriegszeit auch nicht so ganz einfach dranzukommen. Man sollte etwas tun, um einer Rachitis vorzubeugen. „Ach Gott, ach Gott, der Junge könnte eine Rachitis bekommen! Wie schrecklich, wie entsetzlich, man musste alles tun. Was sagen die Behörden dazu. Wo gab es entsprechende Medikamente, wo gab es zum Beispiel Lebertran zum Aufbau der Knochen?“ Tante Traute hatte ja immer gesagt, dass etwas nicht in Ordnung wäre mit dem Jungen. Schließlich hatte sich ihre Tochter, Klein-Traute, ganz anders entwickelt. Zunächst griff Mutter nach altbewährten Hausrezepten und eigenen wichtigen Erfahrungen. Man musste ja nicht alles mit der Freundin Traute besprechen. Gott sei Dank gab es noch Haferflocken, die hatten bei Ursel auch Wunder gewirkt. Schmelzflocken konnte man leicht in ein Fläschchen füllen und zufüttern. Das half bestimmt. An Lebertran war nicht so ganz einfach heranzukommen. Aber die Behörden rieten zu Luftveränderungen und Reisen. Das kam Mutti natürlich sehr entgegen, da sie leidenschaftlich gern verreiste, was schließlich auch ihrem bürgerlichen Stand angemessen war. Der Junge wurde immer dicker. War das nun eine Folge der zugefütterten Haferflocken oder waren es erste Anzeichen einer beginnenden Rachitis? Die erste Reise im Leben des jungen Erdenbürgers führte in das Hessenland. Dort war man privat untergebracht. Hümme hieß das Ziel, Abstecher gab es nach Fürstenwald, von dort ins Wilhelmstal. Immer waren viele Menschen dabei, manchmal auch Vati, immer auch Ursel, die ständig mit ihrem Brüderchen spielte, dem kleinen dicken Harald. Von Ende Juli bis September dauerte der Ausflug in das erholsame Hessenland, also so lange, wie die großen Sommerferien, die wegen der Schulpflicht meiner Schwester für diese Erholung genutzt werden mussten. Möglich waren solche Ferien dank der staatlichen gelenkten Fürsorgemaßnahmen vor allem für Mütter und ihre Kinder, die für einen längeren Urlaub für Mutter und Kind vom „Führer“ organisiert wurden. Solche langen Erholungsaufenthalte waren finanziell erschwinglich und vom Staat entsprechend durch Verordnungen und Erlasse organisiert. Der Kontakt zu Gastfamilien war einprogrammiert und leicht herzustellen. Besonders in den Abendstunden, wenn die Gastgeber, die vorwiegend in der Landwirtschaft tätig waren, endlich Feierabend hatten, saß man oft gemütlich zusammen, um ein wenig zu plauschen und den Feierabend zu genießen. Natürlich unterhielten sie sich in jener Zeit sehr häufig über den Krieg, aber er war keineswegs das einzige Thema. „Na, Frau Fiori, Wie gefällt es Ihnen denn hier bei uns auf dem Lande? Ist doch bestimmt etwas geruhsamer als in der hektischen Großstadt. Woher kommen Sie noch mal?“ „Aus Essen, Frau Austermahl, aber wir wohnen dort eigentlich wirklich idyllisch in einem Vorort namens Margarethenhöhe. Der ganze Ort ist von einem Wald umgeben, der als Tal um den Ort herum zu Spaziergängen einlädt. Dort gibt es kleine Bäche, zwei kleine Teiche und Waldwege, die malerisch gestaltet sind. Das sollte man gar nicht glauben, dass es so etwas gibt in der Großstadt Essen. Aber es ist wirklich nicht so, dass dort nur Industrie zu finden ist oder nur Zechen.“ „Ach, dann hätten Sie eigentlich gar nicht hierher kommen müssen, zur Erholung?“ „Doch, doch, das ist schon richtig. Die Luft ist natürlich lange nicht so gut und rein wie hier. Immer hat man schwarzen Staub oder Ruß an den Fenstern. Außerdem ist es ja vor allen Dingen für den Jungen besser, wenn er hier in der Landluft aufwachsen kann. Wir haben uns schon Sorgen gemacht wegen seiner Entwicklung.“ „Ja, auch die Verpflegung ist hier noch viel besser. Ich habe gehört, dass es in den Städten immer weniger zu essen gibt, dass nicht mehr genügend Obst oder auch Fleisch zu bekommen ist, Frau Matz,. Was sagen Sie dazu?“ „Da haben Sie völlig recht, Frau Austermahl, das ist auch jetzt in Essen so, wir wohnen ja gar nicht weit auseinander, die Frau Fiori und ich, Sie haben natürlich recht, wenn Sie von der Höhe sprechen, Frau Fiori. Es lebt sich wirklich wunderbar dort, Frau Austermahl, trotz der Krupp-Werke und trotz der Zechen. Aber die sind nun mal wirklich nötig, auch wenn sie viel Dreck machen. Ja, Sie haben recht, zuletzt war es gar nicht einfach, etwas Vernünftiges auf den Tisch zu bringen. Gott sei Dank gab es wenigstens noch Milch für die Kleinen. Mein Wolfgang ist ja fast genau so alt wie der Harald.“ „Ein kleines Geheimrezept habe ich noch von meiner Tochter her angewendet“, schmunzelte meine Mutter, „ich füttere immer Haferflocken zu , und die gibt’s Gott sei Dank auch noch reichlich zu kaufen.“ „Bekommen Bergleute nicht Zusatzrationen auf den Zechen? Ihr Mann ist doch bestimmt auch im Bergbau beschäftigt, Frau Fiori?“ fragte Frau Austermahl. „Nein, um Gottes Willen, “ lachte meine Mutter, „es sind doch nicht alle Menschen in Essen bei Krupp oder im Bergbau tätig. Es gibt noch viele andere Berufe und Tätigkeiten. Aber indirekt haben Sie natürlich nicht ganz Unrecht. Auch mein Mann ist irgendwie mit dem Bergbau verbunden. Er ist Beamter beim Kohlensyndikat, das ist die oberste Bergbauaufsichtsbehörde für Deutschland. Jetzt zurzeit ist er allerdings Soldat, in Holland stationiert. Vorher hat er in der Heimat gedient bei der Polizei, wo er nach seiner Grundausbildung eingesetzt worden war. Aber lange wird der Krieg ja nicht mehr dauern, wie man immer wieder im Radio hört und in den Zeitungen liest. Wenn wir doch nur unseren Friedenskaiser wieder hätten. Kaiser Wilhelm II. hätte den Krieg bestimmt verhindern können. Aber der Führer hat ja versprochen, dass er den Kaiser wieder zurückholt, wenn die Feinde endlich besiegt sind. Dass aber auch so viele Länder Deutschland den Krieg erklären mussten!?! Was haben wir denen nur getan?“ „Da habe ich aber schon ganz andere Dinge gehört,“ warf Frau Matz ein, irgendjemand hat mir erzählt, wir hätten angegriffen.“ „Das kann ich mir gar nicht vorstellen,“ kam es unisono zurück von Frau Austermahl und meiner Mutter. „Hauptsache, wir haben nicht die roten Sozis an der Regierung!“ bemerkte meine Mutter, „ dann hätten wir allerdings nichts zu lachen. Wie die gehaust haben und ständig grölend durch die Straßen gezogen sind! Aber ich glaube, wir sollten jetzt nicht über Politik reden, es ist so schön hier, heute Abend. Sollen wir nicht ein schönes Liedchen singen!“ „Wie wär’s mit Lili Marleen?“ schlug Frau Matz vor, „das hört man doch jetzt ständig im Radio und in den Tanzlokalen.“ Mutti sang gerne und viel, sie hatte auch eine recht angenehme weiche Altstimme, aber beim Singen hatte sie einen ganz gravierenden Mangel: sie konnte niemals den richtigen Ton treffen. Ihr Gesang hörte sich einfach kläglich an. Trotzdem sang sie mit Begleitung immer gerne und zierte sich niemals. Hin und wieder fiel ein Wort der Entschuldigung, dass sie einfach den Ton nicht treffen, schon gar nicht halten könne. Im Übrigen hatte Mutti von Politik und ihrem Wirken keine Ahnung, war dazu noch äußerst gutgläubig und urteilte grundsätzlich mehr nach dem Schein, nach dem Namen der politischen Organisation oder auch nur dem Hörensagen nach. Das war in jener Zeit aber nicht allein ein Phänomen, das meine Mutter betraf. Frauen wurden in den Mädchenschulen damals grundsätzlich nicht sehr ausführlich über Geschichte oder Politik unterrichtet. Es sei denn sehr eindeutig in Richtung Nationalsozialismus und in Sachen Antisemitismus. Es wurde noch sehr viel gesungen, nicht nur an jenem Abend. Die fröhlichen Feriengäste und ihre Gastgeber in dieser „Sommerfrische“, wie Ferienorte allgemein genannt wurden, sangen alte Volkslieder und Schlager oder auch gängige Marschlieder wie „ein Heller und ein Batzen“, „Sing Nachtigall sing“, „Hoch droben auf dem Berge“, „So schön wie heut’, so müsst es bleiben“. Lale Andersen war eine überall beliebte Gesangsinterpretin. An anderen Abenden wurde natürlich immer wieder über die Lage Deutschlands gesprochen, wenn alle am Gespräch Beteiligten auch allgemein nicht sehr viel wussten und ebenso gleich wenig Ahnung hatten, von dem, was wirklich in der Welt geschah. Der eine oder die andere hatte schon mal das Datum behalten, wann eine Meldung als sehr wichtig gebracht worden war. Einig war man sich grundsätzlich aber in der Beurteilung, dass der Führer wohl wirklich wüsste, was jetzt am nötigsten zu tun sei und dass der böse Krieg, der uns armen Deutschen von den bösen Feinden aufgezwungen worden war, doch sicher bald ein Ende hätte, wie man ständig hörte bei den vielen Erfolgsmeldungen, die trotz immer häufigerer Luftangriffe auf deutsche Städte hoffen ließen, dass die deutsche Wehrmacht an allen Fronten insgesamt wohl als Sieger hervorging trotz hoher Verluste, die ab und zu zugegeben wurden. So wusste jemand zu berichten, dass die Regierung am 22.2.1941 die Bevölkerung aufgefordert haben sollte, mehr Kinder in die Welt zu setzen, Himmler der Reichsführer SS sollte das gesagt haben. Wusste
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