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viele Tote es in England dadurch gegeben hatte? Wer fragte nach, wie die englische Bevölkerung nun in Angst und Schrecken lebte? Berichtete irgendjemand in Deutschland wahrheitsgemäß darüber, wie viele Zivilisten in England betroffen waren? Wie viele Frauen und Kinder waren getötet worden? Angegriffen und stark zerstört wurden die englischen Städte Bristol und Liverpool. Natürlich wurden wie in jedem Krieg absolut nur militärische Ziele beschossen. Denn das wusste doch damals jedes Kind, dass dort Waffen und Waffentechnik produziert wurde. Aber selbstverständlich wussten alle in Deutschland, dass die Schwimmerin Anni Kapell auf der 200 Meter Bruststrecke einen Weltrekord geschwommen hatte im Düsseldorfer Stadtbad. Schließlich konnte die deutsche Propaganda mit solchen Erfolgen die deutsche Bevölkerung von der Richtigkeit ihrer politischen Ziele und von ihrer wunderbaren Regierungstätigkeit überzeugen. 60.000 Deutsche aus den baltischen Staaten waren zurück ins Deutsche Reich übersiedelt worden. Ein besonderer Höhepunkt, eigentlich zwei Höhepunkte für die deutsche Jugend waren die Schulentlassfeiern am Samstag, dem 29. März, noch mehr die Feiern am folgenden Sonntag anlässlich der Verpflichtung zur Hitlerjugend.
„Ihr werdet nicht mehr frei sein bis an euer Ende“, schallte des Führers Stimme selbst aus den Lautsprechern. Hatte das eigentlich damals kein Mensch richtig verstanden?Man sprach über den Film „Ohm Krüger“. Hatte jemand erkannt, dass es sich um einen reinen Propagandafilm handelte? Sicher sagte das schon mal jemand. Aber wollte man denn überhaupt so intensiv über Politik sprechen? „Haben Sie schon mal etwas von Bert Brechts neustem Theaterstück gehört, von „Mutter Courage und ihre Kinder“ Frau Fiori?“ „Ja, natürlich habe ich davon gehört, man spricht ja in unseren Kreisen viel über Theater, aber ich interessiere mich hauptsächlich für Opern, noch mehr für Operetten, herrlich die „Christel von der Post“ im Vogelhändler, finden Sie nicht auch. Oder Land des Lächelns „Immer nur lächeln, immer vergnügt, immer zufrieden, niemals betrübt. Doch wie’s hier drinnen aussieht, geht niemand was an“, summte meine Mutter mehr, als sie auf die Frage antwortete. Das war ihre unnachahmliche Art, Fragen auszuweichen, auf die sie keine Antworten wusste, oder die möglicherweise eine Bildungslücke hätte entlarven können. „Eigentlich meinte ich mehr, dass dieses Stück hierzulande verboten wurde. Gibt es das „Land des Lächelns“ eigentlich noch? Die Chinesen sind schließlich auch Ausländer. Führen wir nicht auch Krieg gegen sie?“ „Sind Sie nicht katholisch, Frau Fiori? Wie finden Sie eigentlich die Maßnahme, dass in Bayern alle Kruzifixe aus den Schulgebäuden und Klassenzimmern entfernt werden sollten?“ „Ach, wissen Sie, ob das etwas mit Politik zu tun hat, weiß ich gar nicht. Ich denke aber, dass jeder das mit seinem Glauben mit sich selbst abmachen muss, man sollte so etwas nicht so demonstrativ nach außen tragen. Eine Schule ist doch eigentlich mehr eine staatliche Einrichtung als eine kirchliche, da sollte doch der Staat bestimmen dürfen, was da drin geschieht und was nicht, auch wenn natürlich die Kirche ein gewisses moralisches Mitspracherecht bei der Erziehung unserer Kinder haben sollte.“ Auch das war so ganz typisch für Muttis „Diplomatie“, die besagte, dass sie sich nicht unbedingt festlegen lassen wollte, wenn es um Fragen der Religion oder der Politik ging. „Ja, vielleicht haben Sie Recht, Frau Fiori.“ „Aber wo wir gerade beim Stichwort Schule sind. Man hat ja Ende April die Hauptschule eingeführt, das soll eine Schule sein, die begabte Schüler besser ihren Neigungen entsprechend fördern soll. Geben Sie Ihre Kinder auch in eine solche Schule, Frau Fiori?“ „Das kann ich jetzt noch nicht sagen, aber ich denke bei uns ist es üblich, dass die Kinder ein Gymnasium besuchen. Für Ursel würde aber auch eine Frauenfachschule genügen. Denn sie wird doch hoffentlich standesgemäß heiraten, dann braucht sie keine höhere Schulbildung. Und bei dem Kleinen kann ich noch gar nichts sagen, er ist ja nicht mal ein Jahr alt. Wenn er es schafft, soll er ruhig studieren, aber es wäre mir auch recht, wenn er ein ehrbares Handwerk erlernt.“ „Ob Sie hinsichtlich der Frauen Recht haben, weiß ich ja nicht. Erst Ende April gab es doch eine dringende Aufforderung an Frauen, mehr zu arbeiten und mehr und mehr die Arbeiten der Männer zu übernehmen.“ „Natürlich bleibt das nicht aus in Kriegszeiten, aber so lange wird der Krieg ja nicht mehr dauern, und wenn dann endlich unser Kaiser wieder die Geschicke des Reiches lenkt, wird alles wieder so sein wie früher!“ davon war Mutti überzeugt. Sie glaubte fest daran, dass ihr geliebtes Kaiserreich nach Beendigung des Krieges wieder erstehen würde, wie es angeblich der Führer versprochen hatte. Ansonsten hielt sie es mehr mit der Bismarck-Regel, dass sich das Volk aus der Politik raushalten sollte, da es sowieso nichts davon verstünde. Andererseits war auch ihr nicht unbekannt, dass die Demokratie eine Staatsform war, die den einzelnen Bürgern mehr Rechte und Mitsprache einräumte. Doch selbst nutzen wollte sie solche Rechte nicht, solange sie dazu nicht ausdrücklich aufgefordert wurde. Wenn man bedenkt, dass nach dem Krieg die meisten Menschen behaupteten, mit Politik und der herrschenden NSDAP nichts zu tun gehabt zu haben, kommt jedem eine Haltung, wie meine Mutter sie zeigte, allgemein unglaubwürdig vor. Aber auch später nach 1948 bewies meine Mutter in ihrem Wahlverhalten, dass sie tatsächlich nichts mit Politik und schon gar nicht mit der Partei, aber auch mit demokratischen Gepflogenheiten anfangen konnte. Sicher waren nicht alle Menschen politisch so unbeteiligt wie Mutti, aber vielfach war es üblich, dass Frauen nicht sehr stark in der Politiklandschaft vertreten waren. Viele zogen daraufhin den Schluss, dass es möglicherweise niemals zu einer Machtergreifung durch den Führer gekommen wäre, wenn nur genügend Frauen politisch aufgeklärt und engagiert gewesen wären. Doch so richtig hatte das in der Männerwelt so niemand geglaubt. Denn ähnlich, wie Bismarck davon überzeugt war, dass Politik nichts für das gemeine Volk war, so war ich davon überzeugt, dass Frauen zu Besserem berufen waren als ausgerechnet zur Gestaltung der Politik! Im Jahre 1941 allerdings war ich wohl kaum in der Lage, über etwas Bestimmtes nachzudenken, obwohl ich nicht abstreiten möchte, dass ich sehr wahrscheinlich auch sehr intensiv gedacht habe, getreu der Erkenntnis „Cogito, ergo sum.“ „Ich denke, also bin ich.“ Tatsächlich wurde mir aber von einer bestimmten Seite abgesprochen, dass ich möglicherweise denken konnte. Denn zum Denken hatte ich einen viel zu dicken Kopf, meinte jedenfalls Tante Traute. Sie hatte überhaupt immer mehr und mehr starke Bedenken, ob ich überhaupt normal sei und mich normal entwickelte. Schließlich war ihre Tochter nicht nur zarter, sondern auch in aller Hinsicht weiter und gesünder entwickelt. „Ein Kind, das schon ein halbes Jahr alt ist, muss bereits alleine sitzen können! Dein Sohn, liebe Gretel, aber sitzt überhaupt noch nicht, liegt immer dick und unbeweglich da wie eine Plunder“, meinte sie immer häufiger. „Du solltest mal untersuchen lassen, ob er nicht einen Wasserkopf hat.“ „Also Traute, das hat er bestimmt nicht. Der Arzt hat zwar gesagt, dass der Kopf wirklich sehr groß ist für sein Alter, aber das wächst sich mit der Zeit aus. Auch sonst ist alles in Ordnung, meinte der Kinderarzt. Der Junge ist einfach zu faul. Er wird schon noch beweglicher, wenn er älter wird. Nicht jedes Kind entwickelt sich gleich!“ wusste Mutti zu antworten. Doch Tante Traute blieb skeptisch. So ganz geheuer und ganz normal erschien ihr der kleine unbewegliche Fettsack nicht. Gut, dass wir häufiger verreisten, sonst hätte Mutti bestimmt noch daran gezweifelt, ob ihr Sohnemännchen, ihr Bübchen, tatsächlich normal war oder nicht. Sollte man in diesem zarten Alter etwa schon Rückschlüsse ziehen auf eine spätere berufliche Entwicklung des Knaben? Die nächste Reise führte bereits im Februar 1942 nach Legau im Allgäu. Aber diesmal fuhr Tante Traute mit, mit ihrem Töchterchen Traute. Doch zuvor gab es noch unangenehme Erlebnisse zu Hause und überhaupt in Deutschland. Denn entgegen allen Beteuerungen des Propagandaministers kam es immer wieder zu Luftangriffen auf deutsche Städte. Auch drangen Meldungen von den Fronten durch, so dass die Besorgnis um sich griff, dass vielleicht doch der Krieg nicht unbedingt so siegreich für Deutschland verlief, wie man das immer offiziell hörte und in den Zeitungen lesen konnte. Dabei spielte eine geringere Rolle, dass antibritische Regierungstruppen im Irak den Ölkrieg begonnen hatten am 30. April 1941. Man hörte wohl auch, dass Haile Selassie, der Kaiser von Abessinien, bzw. Äthiopien, wieder in Addis Abeba einzog, nachdem sein Land zurückerobert worden war durch die Briten. Uninteressant war für die meisten Deutschen auch, dass Stalin den Vorsitz der Regierung im fernen Moskau übernahm, schließlich wurde zwar gegen die Russen gehetzt, man führte jedoch keinen Krieg gegen Russland. Also störte auch später niemanden in Deutschland, dass sich auch Stalin zu einem Diktator entwickelte. Nicht überraschend für Eingeweihte war auch die Tatsache, dass Deutschland urplötzlich im Juni 1942 den ehemaligen Verbündeten Russland überfiel. Aber alles das interessierte weder mich in damaliger Zeit besonders, noch Mutti, die selten genug Zeitung las oder Nachrichten hörte, obwohl die ganze Zeit schon sehr beunruhigend
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