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machte.

      Ein beliebtes Spiel meiner Schwester hieß „Blindekuh“. Ich hasste dieses Spiel über alle Maßen, fand überhaupt keinen Sinn darin mir die Augen verbinden zu lassen und mich wie ein Blödmann zu benehmen, ohne etwas sehen zu können. Dabei hasste ich besonders, dass ich voll und ganz darauf angewiesen war, was meine Schwester mir sagte oder befahl und ich selbst überhaupt keine Möglichkeit hatte, in irgendeiner Form meinen Bewegungsablauf selbst zu bestimmen.

      Und immer war ich es, der die Blinde Kuh spielen musste, denn ich war natürlich noch viel zu klein, um meine große Schwester mit einer Binde vor den Augen führen zu können. Außerdem hätte ich auch wirklich keine Idee gehabt, wohin ich sie hätte führen sollen oder was sie hätte suchen müssen unter meiner Anleitung. Trotz meiner Abneigung gegen diese Betätigung, gab ich natürlich notgedrungen nach, wenn meine liebe große Spielgefährtin mal wieder auf die Idee kam, mir die Augen verbinden zu wollen.

      Dabei lernte ich nur scheinbar die Richtungen links und rechts zu unterscheiden, in die ich von der energischen Stimme meines Schwesterleins getrieben wurde, tatsächlich aber war ich voll und ganz auf die Körperführung angewiesen.

      Wieder einmal hatte mich Ursel soweit, dass sie mir die Augen verbinden durfte. Sie dirigierte mich nach links, nach rechts, geradeaus, wieder links, wieder gerade, wieder rechts, ließ mich mit den Händen auf dem Boden etwas fühlen, behauptete aber, dass das nicht das sei, was sie gemeint hätte, so dass das grausame Spiel noch weiter ging.

      Wieder musste ich mich sehr weit nach vorne bücken, als Mutti aus dem Inneren der Wohnung rief, Ursel möchte doch mal ganz schnell hereinkommen und ihr helfen.

      Ursel ließ sofort den Schal los, der meine Augen verdunkelte und gleichzeitig auch als Leitriemen galt, an dem sie mich hinführen konnte, wohin sie immer wollte. In Ermangelung eines anderen Haltes oder eines Griffes, der mich im Gleichgewicht halten konnte, legte ich mich voll und ganz mit meinem ganzen Körpergewicht in diese einzige Führungshilfe hinein, mich darauf verlassend, dass meine Schwester mich am Fallen hindern würde. Selbstverständlich ahnte ich nicht, dass ich mich gerade in dem Augenblick, als Mutti rief, in die Richtung der Treppe nach vorne beugte und mich genau mit dem Kopf über der obersten Stufe befand.

      Deshalb verlor ich nun vollends die Balance und stürzte, kollerte mit großem Gepolter die acht Holztreppenstufen hinunter bis zum nächsten Podest, der die gesamte Treppe weiter wie in einer Kehre nach unten führte. Das Gepolter allein lockte Mutti nach draußen.

      Ihr Schrecken war enorm, so dass sie fast die Nerven verlor und nur laut aufschreiend hinunterrannte, um nachzuschauen, wie es dem armen Kleinen ging, dabei das Schlimmste befürchtend.

      Ich selbst erwachte in diesem Augenblick von meiner durch den Schock des Falles hervorgerufenen kurzfristigen Lähmung und schrie aus Leibeskräften los. Unerträglich war für mich das Gefühl, nichts sehend dort zu liegen, hilflos zu sein und nicht einmal richtig zu wissen, wo ich mich eigentlich befand. Schmerzen durch den Sturz verspürte ich zuerst überhaupt nicht, war auch weder am Kopf noch an sonstigen Gliedern sichtbar irgendwie verletzt.

      Nur die absolute Hilflosigkeit und Orientierungslosigkeit ließen mich in diesem Moment wie in einem Schockzustand in eine Panik fallen, von der ich leider nicht sofort befreit wurde, weil Mutti mich zuerst auf den Arm nahm und untersuchte, dann herzte, ehe sie mir den verhassten Schal von den Augen abnahm. Gott sei Dank hatte der sich durch die Untersuchung ein wenig gelöst und ließ nach kurzer Zeit wenigstens einen kleinen Blick zu auf meine nähere Umgebung, wodurch ich mich ganz allmählich wieder beruhigte, so dass mein lautes Gebrüll in ein herzzerreißendes Schluchzen überging.

      Genau zu dem Zeitpunkt merkte Mutti, dass der Verursacher dieses tragischen Unfalles noch immer fassungslos neben ihr stand, ebenfalls schon einmal angefangen hatte zu weinen und ständig versuchte, desgleichen den kleinen Bruder liebkosend zu trösten.

      Augenblicklich erfasste ein heiliger Zorn die sonst so liebe und auf Zärtlichkeit bedachte Mutti und sie schimpfte ganz fürchterlich mit ihrer Tochter, die sich schutzsuchend in ihren Rock verkrallte. So sehr mir das Gefühl nach Genugtuung für die Schmach, die ich erlitten hatte, gefallen konnte, so sehr war mir allerdings auch lautes Schimpfen mehr als verhasst, so dass ich ob dieses Verhaltens meiner lieben Mutti und aus Mitleid mit der bösen Schwester wieder anfing in ungeheuerlicher Lautstärke durch Weinen meinen Unmut kundzutun.

      Inzwischen waren durch das enorme Gebrüll der drei Personen auch die unter uns im Hause lebende ältere Nachbarin und deren Tochter in den Flur geeilt, um sich nach der Ursache des Lärmes zu erkundigen. Beherzt beugten sie sich über den weinenden Jungen, nahmen ihn der Mutter aus dem Arm, legten ihn auf das Bett, nachdem sie in die Wohnung gelangt waren.

      Dort untersuchten sie mich dann genau, stellten beruhigend fest, dass ich offensichtlich weder etwas gebrochen hatte noch eine Gehirnerschütterung davon getragen haben mochte.

      Mein infernalisches Geheul war inzwischen einem leisen Jammern gewichen, und allem Anschein nach war ich wirklich mit dem Schrecken davongekommen und ohne weitere Verletzungen geblieben.

      Dermaßen beruhigt bedankte sich Mutti artig bei den Nachbarinnen von unten und verabschiedete sich von ihnen mit den Worten, dass sie jetzt die Kinder beruhigen wollte und morgen vielleicht mit dem Kleinen zum Arzt ginge. Sie mochte die Leute von unten nicht sonderlich; deshalb war ihre sonstige Liebenswürdigkeit ihnen gegenüber auch trotz des Dankes nicht zu spüren.

      Sie hatte aber sehr wohl in der Nachbarschaft, gleich um die Ecke eine etwas ältere Dame gefunden, mit der sie sich besonders gut verstand. Die wollte sie dann lieber noch einmal um Rat fragen.

      Überhaupt war diese Dame auch häufiger ihr Ziel, wenn es um einen gemütlichen Kaffeeklatsch oder um eine nette Unterhaltung ging. So verließ sie auch schon mal am frühen Abend mit Ursel zusammen die Wohnung zu einem kleinen gemütlichen Plausch, nachdem ich auf dem Töpfchen artig mein „Geschäft“ erledigt hatte oder auch nicht, wenn es nicht ging. Das kam aber nur vor, wenn sie auch ganz sicher war, dass ich friedlich eingeschlafen war.

      Selbstverständlich blieb sie selten länger als eine Stunde, so dass sie ziemlich sicher sein konnte, dass ich wirklich wohlbehalten im Bett bleiben musste, und mir absolut nichts geschehen oder zustoßen konnte nach menschlichem Ermessen.

      Sie wäre auch sehr schnell wieder daheim gewesen, wenn es Fliegeralarm gegeben hätte, da es zu dieser Nachbarin wirklich nur wenige Schritte weit war. Und weil solche Besuche sich niemals bis in spätere Abendstunden erstreckten, durfte Ursel auch ohne Probleme mitkommen, denn so ganz alleine wollte Mutti nicht gerne über die Straße gehen, andererseits mochte sie auch nicht ihrer Tochter das Kleinkind anvertrauen, wenn diese nur auf sich allein gestellt war.

      Eine meiner ersten eigenen Erinnerungen ist die Erinnerung an einen Traum, jedenfalls wurde letztendlich bewiesen, dass es ein Traum gewesen war, wenn auch das Erlebnis so nachhaltig in meinem Gedächtnis haften blieb, dass ich damals wohl kaum unterscheiden konnte, ob es sich dabei um einen Traum oder um ein reales Erlebnis gehandelt haben mochte:

      Zur frühen Abendstunde in meinem Kinderbett liegend, musste ich , also ich musste dringend zur Toilette, um „Groß“ zu machen, wie man damals, zumindest in unserer vornehmen Familie, sagte. Aber ich verließ das Bett nicht, konnte das auch noch gar nicht alleine, sondern verrichtete mein Geschäft unmittelbar im Bettchen.

      Dabei achtete ich besonders streng darauf, dass jedes der ausgeschiedenen braunen Teile eine gleichbleibende Länge von etwa drei Zentimetern hatte. Davon produzierte ich nun so viele, dass ich alle kleinen runden Würstchen in gleichbleibenden Abständen von zwei Zentimetern rings um den Bettrand von innen legte, so dass ich wie von einer harmonischen Kette umgeben war, die geradezu malerisch und exakt ausgerichtet mich im Bettchen liegend einrahmte.

      Diese so genau ausgerichtete Kette fand ich so besonders schön und anheimelnd, dass ich nach fertiggestellter Arbeit mich friedlich und froh inmitten dieses umrandeten Feldes niederließ, um wohlgefällig mein Werk zu betrachten und Freude zu empfinden.

      Ob dieser Traum auf eine vielleicht noch sich entwickelnde Pedanterie hinwies oder auf mein absolut immer im Vordergrund stehendes Harmoniebedürfnis, ließ sich niemals genau feststellen, da beide Eigenschaften hin und wieder in besonderer, leicht abgewandelter Form hervortraten sowohl beim Spielen

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