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mochte Frau am Berge uns Kinder besonders und steckte uns häufig Süßigkeiten zu, wann immer wir sie zusammen mit Mutti besuchten. Da ich deshalb sehr gerne dorthin ging, hatte ich mir natürlich genau den Weg zu ihrer Wohnung gemerkt.

      Dank meines unruhigen Schlafes kam es sehr häufig dazu, dass ich des Abends und in der Nacht immer wieder einmal aufwachte. Bei solcher Gelegenheit stellte ich trotz der herrschenden Dunkelheit eines Abends sehr schnell fest, dass meine unentbehrliche Mutti nicht zu Hause war. Ebenso bemerkte ich, dass Ursel fest schlief.

      Also beschloss ich ausnahmsweise, mich nicht lautstark bemerkbar zu machen, zum Beispiel durch ein paar Tränen oder durch lautes Rufen, sondern meine Mutter suchen zu gehen. Denn sie hatte sich vorher, vor der angesagten Nachtruhe für uns Kinder, nach dem Abendbrot noch abgemeldet, so dass Ursel sie ohne Problem bei Frau am Berge finden würde, wenn etwas los wäre.

      Denn genau dort wollte Mutti den Abend verbringen, es sollte Frau am Berges Geburtstag gefeiert werden.

      Inzwischen war ich auch groß genug, um allein aus dem Kinderbett zu krabbeln. So schnell ich konnte, verließ ich also mein Gitterbettchen, bewegte mich ausgesprochen leise, um Ursel nicht zu wecken. Denn ich hatte beschlossen, Mutti allein bei Frau am Berge aufzusuchen.

      Trotz des relativ warmen Herbstwetters war es abends leicht frostig geworden, so dass ich es für besser hielt, über mein Nachthemd einen Mantel anzuziehen.

      Das Nachthemd bestand aus dem Nessel eines alten Betttuches, welches an einigen Stellen zerschlissen war und von einer freundlichen Nachbarin in Muffendorf, die eine Nähmaschine besaß, zu einem Nachthemd zugeschnitten und genäht worden war. Es reichte mir bis zu den Fußknöcheln, während der Mantel, ebenfalls extra für mich genäht aus grauem Uniformstoff einer nicht mehr gebrauchsfähigen Uniformjacke, nur gerade über den Po ging bis nicht ganz zu den Knien.

      Derart abenteuerlich bekleidet, mit einer von meiner Schwester abgelegten, kaputten Puppe im Arm, marschierte ich tapfer, barfuß die Treppe hinunter, ließ geflissentlich die Haustür einen Spalt offen, um später wieder hineinzukommen, tänzelte über die kalten rauen Steine des Bürgersteigs hundertfünfzig Meter bis zur Straßenecke, bog dort nach rechts ab, um weitere fünfzig Meter zu laufen bis zur Wohnung von Frau am Berge, an deren Haustür ich zaghaft klopfte, allerdings zunächst ohne Erfolg.

      Unbemerkt war mir ein Polizist gefolgt, der nun nach meinem Begehr fragte.

      Unbefangen erklärte ich ihm, dass ich zu meiner Mutti wollte, die oben bei Frau am Berge säße und mit dieser Geburtstag feiere, und dass ich an dieser Feier teilnehmen wollte.

      Der Polizist schellte und begleitete mich noch hinauf bis in die Wohnung, wo er mich lachend abgab und erzählte, wie ich wie ein kleiner Pausbackenengel über die Straße gelaufen wäre, und dabei nicht nur seine Heiterkeit erregt hätte, sondern auch einige Beobachter an den Fenstern der Häuser, an denen ich vorübergekommen war.

      Er gratulierte auch herzlich zum Geburtstag, was Frau am Berge sehr in Erstaunen versetzte, denn sie hatte nicht erwartet, dass ich auch dieses dem Polizeibeamten erzählt hätte oder überhaupt wusste. Auch Mutti und Frau am Berge lachten herzhaft, als sie sich bildlich vorstellten, wie ich in meinem abenteuerlichen Gewand, wie ein kleiner Engel ohne Flügel allein über die dunkle Straße irrte.

      Glücklich über meine selbständige, gelungene Aktion, saß ich stolz auf Muttis Schoß und genoss es, Mittelpunkt zu sein, und von Frau am Berge noch etwas Süßes zu bekommen.

      Lange noch hatten Mutti und Frau am Berge darüber gelacht, wenn sie sich vorstellten, wie ich in der eigentümlichen Nachtbekleidung über die Straße geeilt war.

      Noch mehr als dieses einmalige Erlebnis in Braunschweig genoss ich eigentlich, wenn Mutti sich mit mir ausgiebig beschäftigte, mir zum Beispiel abends vor dem Schlafen aus Grimms Märchenbuch vorlas oder mir eines der wenigen Schlafliedchen vorsang, die sie kannte. Eines meiner Lieblingsmärchen war das Märchen von den sieben Geißlein, das ich gar nicht oft genug hören konnte. Dabei achtete ich streng darauf, dass Mutti sich nicht versprach oder etwas vergaß, denn natürlich kannte ich das Märchen auswendig.

      Gerne hörte ich auch das Märchen von Hänsel und Gretel, konnte aber überhaupt nicht verstehen, dass es so böse Eltern geben könnte, die ihre Kinder einfach aussetzen wollten, denn auch bei uns herrschte Not, und ich bekam, ebenso wie meine Schwester, nicht jeden Tag satt zu essen. Lange diskutierte ich dann mit meiner Mutter darüber, warum denn der Vater seiner neuen Frau, der Stiefmutter von Hänsel und Gretel, nicht widersprochen hätte.

      Das interessierte mich bei weitem mehr, als die unglaubliche Geschichte von der Hexe, an die ich schon damals nicht recht glauben mochte, da ich das Vorhandensein von Hexen für schlecht unmöglich hielt. Andererseits glaubte ich wieder sehr gerne, dass die Tiere den Kindern halfen, den Weg nach Hause wiederzufinden. Mein sowieso sehr wenig ausgeprägtes Sohnesempfinden für meinen Vater wurde durch dieses Märchen nicht gerade gestärkt, da ich in der mangelhaften Kenntnis meines eigenen Vaters nur zu gerne annahm, dass Väter grundsätzlich nicht die gleiche Liebe für ihre Kinder empfinden konnten wie die leibliche Mutter.

      Für ebenfalls recht unglaubwürdig hielt ich es, dass eine Stiefmutter dem Schneewittchen nach dem Leben trachtete, nur weil diese schöner war, als sie selbst. Für sehr gut möglich hielt ich es wiederum, dass es Zwerge gäbe und Prinzen, die das Schneewittchen erlösten, wenn auch da wieder das Ende der bösen Hexenstiefmutter mir doch allzu grausam und unwirklich vorkam.

      So gab es für mich reichlich Diskussions- und Gesprächsstoff mit Mutti, da ich alle Märchen, die ich hörte, sehr genau analysierte und nicht nur als bloße Unterhaltungsquelle hinnahm. Leider bekam ich nur allzu oft von meiner Mutti die Antwort, dass ich noch viel zu klein sei, um das genau zu verstehen, was sie mir nicht erklären konnte oder wollte.

      Der Sieg des Guten über das Böse wurde mir zu einem inneren Ritual, das einfach immer und überall Gültigkeit haben musste, wenn meine kleine Welt Bestand haben sollte. Alles Böse war mir Gräuel.

      Natürlich gab es manchmal Zweifel, was denn als böse einzustufen sei, was eher noch gerade erlaubt sein könnte und was letztendlich wirklich böse war.

      Wenn, was selten vorkam, Mutti mir einen Klaps gab, weil ich zum Beispiel etwas nicht essen wollte, was sie mir anbot oder wenn ich geschlabbert hatte statt aufzupassen, erhob auch ich meine Hand, um den Klaps zurückzugeben, weil ich eine solche körperliche Züchtigung grundsätzlich als ungerecht empfand.

      Regelmäßig drohte Mutti dann damit, dass mein Händchen aus dem Grab wachsen würde, wenn ich es gegen die eigene Mutter erhöbe. Darüber dachte ich stundenlang nach und kam schließlich zu dem Ergebnis, dass auch das, was Mutti da behauptete, nicht unbedingt wahr sein müsse. Natürlich hatte ich weder eine Vorstellung davon, dass und warum ich möglicherweise in einem Grab liegen könnte. Wohl war mir irgendwie vertraut, dass Menschen und Tiere nicht ewig leben konnten, dass sie auch auf einem Friedhof begraben wurden.

      Selbstverständlich hatte ich auch schon mal mit Mutti einen Friedhof besucht, aber dass dort irgendwo Hände herauswuchsen, hatte ich beim besten Willen nicht entdecken können. Deshalb überraschte ich Mutti plötzlich mit dem dringend geäußerten Wunsch, mit ihr auf einen Friedhof zu gehen.

      Obwohl ihr dieser Wunsch äußerst befremdlich vorkam und sie auch erklärte, dass wir auf dem Braunschweiger Friedhof niemanden besuchen könnten, den wir gekannt hätten, erfüllte sie mir schließlich meinen Willen, weil ich nicht locker ließ in meinem Bemühen, mit ihr auf einem Friedhof spazieren gehen zu wollen.

      Sehr genau betrachtete ich jedes Grab, ließ mir erklären, was einzelne Grabmäler und Inschriften zu bedeuten hätten, fragte nach Blumen und anderem Grabschmuck, ohne jedoch auf mein eigentliches Anliegen zu sprechen zu kommen, nämlich Hände zu sehen, die aus dem Grab herauswuchsen.

      Mutti freute sich außerordentlich über ihren so vielseitig interessierten Jungen, der mit seinen noch nicht einmal drei Jahren recht intelligente Fragen stellte.

      Ich war nun vollkommen sicher, dass Mutti wieder einmal eine ihrer bekannten und berühmten Notlügen gebraucht hatte, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass bei den vielen Gräbern, die wir besichtigt hatten, nicht ein einziger Begrabener dabei war, der nicht mal

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