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war.

      Ich konnte mir fast ein Lachen nicht verkneifen, als ich fragte, ob jemand dem Ali beim Abfassen dieser Entschuldigung geholfen hätte. Zur Antwort, die ich eigentlich nicht erwartet hatte, bekam ich dann, dass das wohl der Polizeibeamte getan hätte.

      Ich kopierte die Entschuldung und schickte sie zusammen mit der Erklärung, dass ich meine Anzeige wegen Körperverletzung zurückzöge, an die staatsanwaltliche Ermittlungsstelle, die auch die Anzeige entgegengenommen und schriftlich bestätigt hatte.

      Außerdem informierte ich meine Schulleiterin davon.

      Sofort hatte ich meine schlechten Ruf als Schülerfreund zurück und durfte mich der Verachtung fast aller Kolleginnen und Kollegen erfreuen. Nur einige wenige gratulierten mir zu dem Schritt und konnten nachvollziehen, warum ich dem Jungen nicht für sein ganzes Leben schaden wollte, auch wenn er etwas getan hatte, das eine Bestrafung geradezu zwingend erforderte.

      Trotzdem erhielt ich einige Wochen später die Aufforderung in Sachen Ali Nuri gegen Fiori und gegen die Schule eine Zeugenaussage im Gerichtsgebäude zu machen.

      Schnell wurden die erforderlichen Formalitäten erledigt, die mich sehr in Anspruch nahmen und andererseits auch außerordentlich interessierten. Denn ich war zum ersten Male in einer dienstlichen Angelegenheit als Zeuge geladen.

      Zuerst musste mir die Genehmigung amtlich erteilt werden, dass ich überhaupt vor Gericht aussagen durfte. Danach wurde festgelegt, wie ich die Stunden, die ich frei nehmen musste, vor- oder nacharbeiten konnte. Denn die Vernehmung fiel auf einen Vormittag, an dem ich durch meine Abwesenheit von der Schule insgesamt zwei Unterrichtsstunden nicht erteilen konnte.

      Und genau diese beiden Stunden mussten ja anderweitig erteil werden. Ein Sonderurlaub für diesen Fall durfte jedenfalls auf gar keinen Fall gewährt werden. Nach dem Ausfüllen der Formulare und dem erteilten Befugnisschreiben, konnte ich endlich rechtzeitig meine Zusage geben, dass ich pünktlich zur Verhandlung erscheinen würde.

      Außer meinem trittkräftigen Kontrahenten warteten vor der Türe des Gerichtssaales noch ein paar Freunde von Ali und ein Jugendgerichtshelfer. An den wandte ich mich vertrauensselig, um zu erfahren, wieso es denn überhaupt zur Verhandlung käme, obwohl ich doch meine Anzeige zurückgezogen hätte.

      Bereitwillig gab mir der junge Mann Auskunft, dass im Falle einer Körperverletzung die Strafverfolgung auch dann fortgeführt würde von Amts wegen, wenn ein Geschädigter selbst keine Anzeige erstattet hätte. Und ich wäre deshalb auch nicht als Kläger oder Geschädigter geladen sondern nur als Zeuge.

      Etwa eine halbe Stunde später als vorgesehen, wurden wir alle in den Saal gerufen. Den Vorsitz hatte eine Richterin, die ihrem Reden nach schon häufiger mit Ali zu tun hatte.

      Sie eröffnete die Verhandlung mit dem Nennen aller Personen, die offiziell geladen waren, fragte dann einige Zuschauer, warum sie anwesend wären. Einer von ihnen sagte, dass sie Freunde und Geschwister von Ali wären und zuschauen wollten. Danach wandte sich die Richterin sofort an mich und fragte:

      „Sagen Sie uns doch bitte, Herr Fiori, warum Sie eigentlich Ihre Anzeige zurückgezogen haben?“

      Mit einer solchen Eröffnung hatte ich bestimmt nicht gerechnet, aber ich fand meine Begründung plausibel:

      „Ich hatte zwar unmittelbar nach dem Tritt erhebliche Schmerzen und stand wohl auch unter Schock. Aber im Laufe der Zeit stellte sich heraus, dass meine Verletzung wirklich harmlos war. Zweitens hatte sich der junge Mann schriftlich bei mir entschuldigt, die Kopie dieser Entschuldigung hatte ich dem Staatsanwalt mit der Rücknahme meiner Anzeige zugeschickt. Und drittens, und das war eigentlich der Hauptgrund für mich, die Anzeige zurückzunehmen, dachte ich daran, dass der Junge vielleicht in ein Kriegsgebiet nach Hause abgeschoben werden könnte, weil er hier wegen dieser unbedachten Tat sein Recht auf Asyl verlieren könnte. Und diese mögliche Strafe erschien mir dann doch viel zu hart für einen Moment der Unüberlegtheit!“

      Die Richterin bedankte sich bei mir und wandte sich Ali zu: „Hast du das richtig verstanden, Ali? Da trittst du jemanden und der hat sogar noch Mitleid mit dir. Ist dir das eigentlich klar geworden?“

      Ali erhob sich und murmelte kleinlaut: „Ja, schon. Aber warum sind wir dann überhaupt hier, wenn der doch überhaupt keine Anzeige gegen mich gemacht hat. Dann brauchen wir doch eigentlich keine Gerichtsverhandlung?“

      Die Richterin schmunzelte: „Also, mein Lieber, so einfach können wir dir die Sache nun wirklich nicht machen. Du schreibst eine Entschuldigung und schon bist du aus dem Schneider. Dafür hast du erstens viel zu viel auf dem Kerbholz, und zweitens macht die Anzeige bei einer Körperverletzung, und um die handelt es sich, grundsätzlich der Herr Staatsanwalt hier. Dazu brauchen wir den Herrn Fiori gar nicht. Hast du dich eigentlich schon mal so ganz richtig bei ihm entschuldigt?“

      Auf seine Verneinung hin, meinte sie lakonisch: „Na, dann aber mal schnell, ich möchte jetzt sehen und hören, wie du Herrn Fiori die Hand gibst und dich laut und deutlich bei ihm entschuldigst!“

      Etwas hölzern und ungeschickt schüchtern erhob sich Ali, schlenderte zu meinem Platz herüber, reichte mir die Hand und sagte undeutlich nuschelnd: „Entschuldigung!“

      Nachdem er wieder an seinem Platz saß, fuhr die Richterin fort: „Sehr überzeugend sah das ja nicht gerade aus, aber ich will es mal gelten lassen! Aber damit ist die Sache nun keineswegs erledigt. Weißt du eigentlich, wie viel Mal du mit dem heutigen Tage schon vor mir gestanden oder gesessen hast? Schau mal, wie dick deine Akte schon ist! Soviel Zeit haben wir jetzt gar nicht, um alle deine Missetaten aufzuzählen. Deshalb bin ich auch der Meinung, dass du schon deutlich merken solltest, dass du hier wirklich falsch gehandelt hast. Deshalb habe ich beschlossen, dass du ab kommenden Montag drei Wochen lang täglich im Jugendheim zu helfen hast und dort genau den Anweisungen des Heimleiters folgen musst.

      Du meldest dich jeden Morgen um 7.30 Uhr im Jugendheim in Katernberg beim Heimleiter, von dem du dann deine genaue Aufgabenzuteilung erhältst. Die Anschrift bekommst du nach der Verhandlung von deinem Jugendbetreuer. Des Weiteren verbiete ich dir hiermit ausdrücklich das Betreten der Schule oder des Schulgeländes. So, nun hoffe ich, dass alles geklärt ist und ich dich so schnell nicht wieder hier sehe. Das Protokoll unterschreibe ich dann morgen, weil ich jetzt sofort losfahren muss, meine Tochter vom Kindergarten abholen. Hat noch jemand Fragen? (kurze Pause) Die Sitzung ist geschlossen!“

      Auf dem Heimweg dachte ich darüber nach, dass ich doch richtig gehandelt hatte, die Anzeige zurückzuziehen. Immerhin handelte es sich bei dem trittlustigen Knaben noch um einen unreifen Jugendlichen. Er hatte lautstark darum gebeten, dass ich ihn nicht anschreien möchte. Möglicherweise war er tatsächlich schon kriegerischen Handlungen ausgesetzt gewesen und hatte deshalb gegen alles besonders Laute eine Aversion. Und ich hatte schließlich sehr laut mit ihm gesprochen. Wie war das noch, wenn man dem Wummern einschlagender Bomben ausgesetzt war? Wie fühlte man sich beim lauten und gefährlichen Einschlag von Raketen ganz in der Nähe?

      War ich nicht selbst auch ziemlich lärmempfindlich? Hatte ich nicht selbst regelrecht Schmerzen im ganzen Körper, wenn bei lauter Musik besonders die Bässe dröhnten? Waren das auch bei mir Kriegsschäden? War ich nicht ein Kriegskind? Ich dachte darüber nach, was ich eigentlich vom Krieg in frühester Jugend mitbekommen hatte. Immerhin war ich noch sehr klein, als der Krieg endlich zu Ende war.

      Das zweite Lebensjahr im Jahre 1942

       Mutti

      Mutti war relativ klein, genau 1,65 m, sehr schmal gebaut, fast dünn zu nennen, und hatte ein längliches Gesicht, das wegen seines extrem schmalen Aussehens schon in jungen Jahren richtig verhärmt wirkte. Ihre Nase war für dieses schmale Gesicht etwas zu groß geraten und hatte am Ende eine leichte knollenartige Verdickung, die aber nicht so unförmig war, dass man sie als hässlich hätte bezeichnen können. Wie alle Frauen litt meine Mutter nicht nur unter diesem kleinen Makel sondern auch darunter, dass sie ihr Gesäß zu dick und ihre Beine zu dünn fand. Ich jedenfalls konnte mir keine schönere Mutti vorstellen.

      Eine russische Erzählung oder Anekdote berichtet davon, dass ein kleiner Junge, der seinen Namen noch nicht sagen konnte,

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