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Sicherung flog, hatte es in Arthurs Oberstübchen bereits unzählige davon hinausgeworfen, ein Gefühl, als würde er plötzlich durch seine Augenhöhlen in seinen Schädel hineingepresst und alle Türen fielen hinter ihm ins Schloss, undurchdringlich für Licht und Ton. Denn das ist ja der wahre Zustand unseres Gehirns, dem schwammartigen Thron unseres „Ichs“:

       Es ist eingeschlossen hinter Knochenmauern in ewiger Dunkelheit, kann selbst weder hören noch sehen. Die Realität, oder was wir dafür halten, konstruiert es kontinuierlich aus dem Strom elektromagnetischer Signale, die unentwegt über Nervenbahnen hereinströmen. Mehr Information steht diesem wabbeligen grauen Klumpen nicht zur Verfügung. Was da draußen, jenseits des Schädelknochens, tatsächlich existiert, kann es nur vermuten. Als oberste Verarbeitungsebene seiner elektrochemischen Software wird vom Gehirn - im evolutionär jüngsten Abschnitt seiner Struktur - der Teil unseres Körpers generiert, der sich für uns hält, also der festen Überzeugung ist, ein Cop, ein Penner, Chef der Notenbank oder eben Arthur zu sein. Das Ich. Oft kopiert, selten erreicht. Beim Hirntod wird diese Software heruntergefahren, die Nervenbahnen leiten nicht mehr, die chemischen Brücken an den Synapsen werden aus Energiemangel inaktiv.

      Dann beginnt der Zerfall des Netzwerkes, und mit ihm zerfällt alles, was „uns“ ausgemacht hat, unsere Empfindung von uns selbst, unser „Ich“, und auch unser wichtigster Schatz, unsere Bibliothek: Die Erinnerungen.

      Dann sind wir weg, oder „tot“, wie man sagt.

       Tatsächlich und unwiederbringlich weg. Man musste glücklicherweise auch nicht irgendwo weiter herumgeistern, was auch seine Vorteile hatte. Denn die Unendlichkeit ist lang - vor allem gegen Ende hin.

      Und langweilig. Da musste man wirklich nicht durchgehend dabei sein.

       Der worst case nach einem Unfall war jedoch nicht der Tod, sondern ein Zurückbleiben des „Ich“ in einem von der Außenwelt völlig abgetrennten Gehirn, mit Zugriff auf die Erinnerungen, sich seiner selbst völlig bewusst, aber ohne jeglichen Informationszufluss von der Welt außerhalb des Schädels. Es war fortan dunkel und still, genauer gesagt pechschwarz und mucksmäuschenstill, eine dunklere Dunkelheit als man sie sich vorstellen könnte, und eine Stille, die so undurchdringlich schien, wie die Türen von Fort Knox. Man nennt es „locked-in Syndrom“. Man war in sich eingesperrt.

      Von außen ist nicht zu erkennen, ob sich noch ein Bewusstsein hinter dem ausdruckslosen, aufgedunsenen Gesicht befindet.

      Mit anderen Worten: Man sitzt in der Falle. So wie er selbst. Arthur.

       Der brutale elektrische Schlag hatte seine Nervenbahnen lahmgelegt, ob vorübergehend oder permanent, er vermochte es nicht zu sagen. War sein Körper hingefallen? In welcher Position befand er sich? All das war für ihn nicht in Erfahrung zu bringen. Nur, dass sein Herz noch schlug und sein Gehirn weiter mit sauerstoffreichem Blut versorgte, das schien sicher zu sein. Denn sein Gehirn erzeugte ihn beharrlich weiter, ihn, der wusste, dass er Arthur war, Brite, Finanzbuchhalter und verheiratet, mit einer satten Hypothek auf dem kleinen Häuschen am Rande der Stadt. Er war ganz er selbst, nur eben in sich gefangen. Er wollte schreien, aber kein Ton kam heraus, oder genauer gesagt, er konnte keinen Ton hören.

       Ob er schrie, sein Mund also geöffnet war und die Lunge Luft über die Stimmbänder presste, das wusste er nicht, bezweifelte es aber.

      Die Nervenbahnen waren sicher nicht nur in eine Richtung stillgelegt. Nichts kam herein und nichts ging hinaus. Dunkelheit und Stille waren vollkommen. Wie viel Zeit war schon vergangen? Sekunden oder Tage? Wie lange kann man bei vollkommener Dunkelheit und Stille bei Verstand bleiben? Es blieb nur die Hoffnung auf eine Veränderung des Zustandes.

      Hatte man seinen Körper schnell gefunden? Hatte er sich beim Sturz auf den harten Küchenboden zusätzlich am Kopf verletzt? Arthur spielte alle Möglichkeiten durch, immer und immer wieder, bis ihm ein grausiger Begriff in den Sinn kam, der plötzlich wie eine Horrorvision sein ganzes Denken ausfüllte: Wachkoma

      Er steckte in einem Körper fest, der am Leben gehalten wurde, ohne mit der Umwelt kommunizieren zu können. Und das…für immer??

       Die Schläuche, die ihn fütterten und beatmeten, die lieblosen fremden Hände, die seine intimsten Stellen säuberten, all dies konnte nun bereits vor sich gehen, seit Tagen oder Jahren, da er kein Gefühl mehr für den Verlauf der Zeit hatte. Es ließ sich nicht mehr sagen, da sich nichts mehr ereignete, was eine chronologische Reihung ermöglicht hätte. Arthur schwamm in einem unendlichen Ozean aus Zeit, auf seine Erinnerungen zurückgeworfen, ohne Silberstreif am Horizont, was zuerst eine Panik, dann Resignation hervorrief. Dann begann er die Müdigkeit zu spüren, nicht als Ermüdung des Körpers, sondern des Geistes. Sein Ich brauchte eine Pause, und Arthur ließ es zu, er kapitulierte, denn es gab ohnehin nichts mehr, was er hätte tun können. Oder einen Grund dafür. Damit verschwand der Teil seiner messbaren Gehirnwellen, die auf ein Bewusstsein hindeuteten. Die elektrochemische Software seines Gehirns hatte auf Basismodus zurückgeschaltet, die nackte Benutzeroberfläche zeigte in dieser Analogie nur noch den blinkenden Cursor.

       Er wurde hier nicht mehr benötigt. Dann spürte er, wie sich der Boden unter ihm auftat. Beinahe so, als hätte sich eine Falltür geöffnet, fast wie eine Art Notausgang. Er war sicher, dass er nun sterben würde. Bilder aus seinem Leben zogen an ihm vorüber, während er fiel. Tiefer, immer tiefer, immer schneller. Wieder hatte er versucht, zu schreien. Etwas streifte sein Gesicht, das er doch gar nicht mehr besaß. Mit seinem alten Körper hatte er nichts mehr zu tun, er fühlte die letzten Verbindungen abreißen. Das Dunkel um ihn schien zu verwirbeln. Er glaubte, ein Flattern zu hören, ohne Ohren, nur mit seinem Geist. Waren das bereits die Engel des christlichen Himmels? Ein Schauer lief ihm über den nicht vorhandenen Rücken.

      Hoffentlich war er im rechten Glauben aufgewachsen. Auch das war ja eine Lotterie, ebenso wie der Geburtsort. Schon glaubte er, die Hitze des Höllenfeuers fühlen zu können. Die Schwärze, in der er fiel, schien jetzt ihren absoluten Charakter verloren zu haben. Es war nun vergleichbar mit jener Dunkelheit, die durch geschlossenen Augenlider erzeugt wird.

      Er stutzte bei diesem Gedanken. Als Herr über einen Körper hätte er sich nun mit der rechten Hand an der Schläfe berührt, seine Denkerpose. Fast glaubte er, tatsächlich eine imaginäre Hand an seinem imaginären Kopf zu spüren. Dann gesellte sich ein weiterer, kühner Gedanke hinzu: Vielleicht sollte er dann versuchen, diese imaginären Augenlider anzuheben?

       Vorsichtig machte er sich an diese Aufgabe. Sie fühlten sich unendlich schwer an, obwohl sie doch nur in seinem Geist, seinem vom Wahnsinn befallenen Geist existierten, diese Augenlider. Doch mit dem Mute der Verzweiflung griff er mit seiner gebündelten psychischen Energie danach, füllte sich zugleich die imaginären Lungen mit imaginärer Luft, und entlud all seine Kraft in einem Urschrei.

       In genau diesem Moment war er in einem fremden Bett hochgeschreckt, die Augen weit aufgerissen, den eigenen Schrei noch in den Ohren. Sein irrer Blick war verständnislos umhergewandert. Es war kein Krankenbett, in dem er lag. Keine Schläuche führten aus ihm hinaus oder in ihn hinein. Sein neues Gehirn wurde auch wieder mit Signalen von der Außenwelt versorgt.

      Mit anderen Worten: Er war wieder frei.

      So hatte seine Wanderschaft begonnen.

      Kapitel 5: Der Obdachlose (Teil 1)

      „Wie – heißt – du?“ schallte es Arthur nun in gereiztem Ton entgegen.

      Langsam drangen die energisch vorgetragenen Worte in sein Bewusstsein.

      Von weit her kommend mühte er sich, seinen Geist auf die vorliegende Situation zu fokussieren, was manchmal wirklich nicht einfach war.

      Oh Mann, welcher Trottel wollte denn jetzt schon wieder etwas von ihm?

       Er blickte auf, unsanft aus seinen fieberhaften Überlegungen gerissen, und leckte sich die spröden Lippen. Seine Zähne schmerzten, viele davon waren faulig oder nur noch als Ruinen vorhanden, wie ihm seine tastende Zunge vermeldete. Das war gestern deutlich besser gewesen. Eine top gepflegte Kauleiste. Und morgen würde es – alle Daumen gedrückt – auch wieder besser sein. Na ja, für den Rest dieses Tages würde er seine Zunge auf keine weiteren Exkursionen

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