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Wieder einer dieser Tage. Reiner Jansen
Читать онлайн.Название Wieder einer dieser Tage
Год выпуска 0
isbn 9783750219168
Автор произведения Reiner Jansen
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Er war dann diese Person, dieser Mensch, mit all seinen charakterlichen Eigenschaften, nur eben mit dieser einen entscheidenden Abweichung:
Er erinnerte sich an gestern. Nicht nur an das Gestern, das sein aktueller Körper durchlebt hatte, sondern auch sein eigenes, Arthur-Gestern.
Das war die erste Zeit unglaublich verwirrend gewesen, und es schien auch eine physiologische Veränderung am jeweils betroffenen Gehirn hervorzurufen. Denn aufgrund dieser Anomalie, also seines Eindringens, wurden in das Gedächtnis des neuen Wirtes neben dessen regulären Erinnerungen zusätzlich noch die parallelen Erinnerungen Arthurs gepresst, praktisch im Moment des Erwachens. Und diese wurden immer mehr, je länger seine Wanderschaft andauerte. Arthur spürte daher immer in den ersten Minuten seines Aufenthaltes einen leichten Kopfschmerz, in etwa so, als hätte man Luft geschluckt, und müsste warten, bis sie durch die Speiseröhre gewandert war. Nur eben im Kopf. Als würde ein Pfropfen hineingestopft, der sich ausdehnte, das ganze Hirngewebe durchtränkte, um ein Teil des Ganzen zu werden. Blieb nur zu hoffen, dass es dadurch nicht zu einem erhöhten Schlaganfall-Risiko kam, denn Arthur wollte den Menschen, die er einen Tag begleiten durfte, keinen Schaden zufügen, sondern im Gegenteil, ihnen unter anderem darin behilflich sein, aus starren Verhaltensmustern auszubrechen, um ihr Leben in eine bessere Richtung zu leiten, und im Idealfall, wenn sich die Gelegenheit ergab, sogar den Zustand der Welt ein klein wenig zu verbessern. Oder es zumindest zu versuchen. Denn das war Arthurs eigentliche Mission. Er wollte etwas verändern. Wollte Spuren hinterlassen, die über ihn selbst hinauswiesen.
Und da es kein einzelnes großes Stellrad zu geben schien, war das Drehen an vielen kleinen Stellrädchen ohnehin die aussichtsreichste Methode. Was gab es also in seiner heutigen Situation zu tun? Er dachte an die Familie des Mannes, der er heute war. Besucht hatten sie ihn nie, aber er war auch kein guter Ehemann und Vater gewesen, schon gar kein Vorbild. Seine beiden Töchter hatte er nun im Stich gelassen. Wie sollten sie sich da draußen durchschlagen? Und wem war damit gedient, dass er hier einsaß, an diesem schmutzigen Ort voller schmutziger Menschen mit schmutzigen Gedanken? Hatte er nicht das Recht, sein Glück zu suchen wie jeder andere Mensch? Und welchen Schaden hatte er verursacht?
Das weiße Pulver, das nach Europa und in die USA ging, das hatte er niemandem persönlich in die Nase gestopft. Das tat jeder selbst und aus eigenem Antrieb. Wieso glaubte eine abstrakte übergeordnete Instanz wie „der Staat“, so tief in das persönliche und private Gebaren seiner Bürger eingreifen zu dürfen? Wer hatte das Recht, Felder niederzubrennen, und den Bauern damit die einzige lukrative Einnahmequelle zu nehmen, nur weil aus ihren Pflanzen einmal jenes berüchtigte weiße Pulver oder jene verheißungsvolle goldbraune Flüssigkeit werden sollte?
Die feinen, ach so guten Menschen anderer Kontinente, hineingeboren in funktionierende Wirtschaftssysteme mit allerlei sozialer Absicherung, die machten es sich sehr leicht, über ihn, den Verbrecher, den dreckigen Drogenhändler, den Stab zu brechen. Sie an seiner Stelle hätten natürlich alles anders gemacht, sie wären immer fleißig zur Schule gegangen, hätten dann eine Ausbildung absolviert und mit reichlich Esprit und Ehrgeiz sowie einem fröhlichen Liedchen auf den Lippen den Weg zu wirtschaftlichem und sozialem Aufstieg beschritten. Sicher, sicher!
Mit dieser Vorstellung im Kopf fiel es diesen feinen Leuten leicht, ihn zu verachten. Aber so lief das nun mal nicht. Rückblickend wusste er nicht, was er hätte anders machen können, um die Katastrophe, das totale Scheitern seines Lebens, zu vermeiden. Nein, ihn traf keine Schuld, so war sich José sicher, und Arthur konnte nicht umhin, ihm zuzustimmen. Man konnte von Menschen nicht erwarten, dass sie sich brav in ihr elendes Schicksal fügten und Recht und Gesetz achteten, während ihr Leben, die einzige Existenz, die sie jemals haben würden, an ihnen vorbeizog, der Sand erbarmungslos durch die Uhr lief, während ihnen die unzähligen Annehmlichkeiten der modernen Welt durch ein unglückliches Los in der Geburtsort-Lotterie versagt blieben.
Man mochte diesen Zustand durch eine extreme Neigung zur Religiosität ertragen und verdrängen können, aber für nicht-religiöse Menschen war es ein Lebensentwurf, der einfach nicht hinnehmbar war.
Das fadenscheinige Versprechen auf ein besseres Leben nach dem Tode, für das ja gerade die Armen besonders in Betracht kommen sollten – zumindest laut offizieller Lehrmeinung – vermochte nicht jeden Geist zu befrieden, konnte nicht jeglichen Impuls zur Rebellion unterdrücken.
Aber eben doch bei großen Teilen der Bevölkerung.
Das berühmte „Opium des Volkes“.
Deshalb, so schloss Arthur aus seinen Überlegungen, war es so gefährlich, wenn der Glaube, also der Götterglaube, in diesen Regionen der Welt schwächer wurde. Religion war hier nicht nur Genussmittel, sondern eher die weiche Polsterung um eine Flasche Nitroglycerin herum. Eine sehr, sehr große Flasche, gefüllt mit dem Sprengstoff der sozialen Ungerechtigkeit.
Verschwand das Polstermaterial, so drohte eine Detonation verheerenden Ausmaßes, eine gewaltige Erschütterung der Grundfesten der Gesellschaft, wenn eine Mehrheit der armen Bevölkerung sich der himmelschreienden Ungerechtigkeit, die ihr tagtäglich widerfuhr, bewusst würde, während sie von im Überfluss schwelgenden Erdteilen um ein besseres Leben betrogen wurde. Bei diesen Gedanken begann sogar in dem sonst so besonnenen Buchhalter Arthur die kalte Wut aufzusteigen, und er fühlte sich vom Wunsch getrieben, zumindest der Familie von José behilflich zu sein, um im Kleinen etwas Linderung in dieses ungerechte, menschengemachte Elend zu bringen, wenn es ihm schon im Großen nicht gelingen wollte.
Er durchsuchte hierzu sein neues José-Gedächtnis nach zweckdienlichen Informationen zur Auffindung von Frau und Kindern, und übertrug sie in sein kognitives Notizbuch. In den nächsten Tagen würde er versuchen, Ihnen Geld von seinem Nummernkonto zukommen zu lassen, so sich denn die Möglichkeit ergab. Oder in den nächsten Wochen, sobald er seine Recherche abschließen und wieder einen Zugang zum Internet bekommen konnte. Denn hier drin sah es nicht so aus, als wäre an einer Ecke des Gefängnishofes ein Internet-Café eingerichtet. Arthur dreht sich von der Mauer weg, um den Blick schweifen zu lassen, was natürlich unnötig war, denn der José in ihm wusste bereits, dass es keinen Zugang zum Internet gab, zumindest keinen offiziellen. Die geschmuggelten Mobiltelefone, die immer verdächtig nach Popo rochen, waren für ihn derzeit unerreichbar. Es fehlten ihm noch die richtigen Kontakte, er war erst einige Wochen hier.
Während er an der Mauer entlang zu schlendern begann, überkam ihn wieder dieses beklemmende Gefühl, das er am Vormittag schon einmal gespürt hatte, aber nicht die Gelegenheit gefunden hatte, ihm auf den Grund zu gehen. Nun, das konnte man ja nun nachholen, Zeit war genug, da sich keine Gesprächspartner anboten, und andere Insassen sogar vor ihm zurückzuweichen schienen.
Seltsam, - oder war es nur Einbildung? Vor ihm schien sich die Menge der Insassen durch gruppendynamische Bewegungsmuster zu öffnen, wie ein großer Fischschwarm, um sich hinter ihm wieder zu schließen, so als vermiede man instinktiv seine Nähe. Arthur grub in den Erinnerungen. Dieser José war im Grunde kein schlechter Kerl, hatte sich immer voll reingehauen, dabei Raubbau am eigenen Körper betrieben, immer schon zu viel gesoffen, um das Elend ertragen zu können, hatte mit der Liebe seines Lebens eine Familie gegründet, und war aus der Not heraus in das örtliche Drogenkartell eingestiegen, um mit diesem Geld all seinen Lieben ein besseres Leben außerhalb des Armenviertels ermöglichen zu können.
Mit „besserem Leben“ war hier keine Yacht oder dickes Auto gemeint, sondern ein kleines Haus mit fließend Wasser. Ein eigenes Haus. Denn wer Mieter war, der war im Grunde genommen kein vollwertiger Bürger, sondern lediglich geduldet im eigenen Land. Das galt allerdings für alle Länder der Erde, arme wie reiche. Man war als Mieter davon abhängig, dass es immer jemanden gab, der einem gnädigerweise sein Eigentum gegen Geld zur Verfügung stellte. Wenn der einen hinauswarf, musste sich ein anderer Vermieter finden. Sonst war man obdachlos. Legte man sich dann auf eine Bank im Park, kam das Ordnungsamt und verscheuchte einen, wie einen räudigen Hund. Mieter waren Bürger zweiter Klasse. Sie wussten es nur nicht. Oder wollten es nicht wahrhaben.
Daher rührte sein Wunsch, ein eigenes Haus zu kaufen. Und genug Geld zu haben, um Arztrechnungen