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Wieder einer dieser Tage. Reiner Jansen
Читать онлайн.Название Wieder einer dieser Tage
Год выпуска 0
isbn 9783750219168
Автор произведения Reiner Jansen
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Und nun das! Pfui deibel!
Sein eigener säuerlicher Körpergeruch füllte seine Nase, und er musste einen Würgereiz unterdrücken.
Die schmutzige und zerlumpte Kleidung, die er beim Herabsehen an sich erblickte, trug das ihrige bei zu einem Anblick, den kein ehrbarer Bürger gerne sieht, oder gar in seinem Wohnviertel anzutreffen wünscht.
Man konnte es nicht bestreiten: Er war ein armseliger Vagabund, ein Obdachloser, ein Landstreicher.
Eine verlorene Seele, eine gescheiterte Existenz, achtlos zurückgelassen am Wegesrand der hektisch voraneilenden kapitalistischen Gesellschaft.
So hatte er das jedenfalls immer gesehen.
Zumindest konnte er es so seinem heutigen Zweitgedächtnis entnehmen.
Also „er“, das war in diesem Fall Brian Henderson aus Syracuse, NewYork. Er erinnerte sich an die abgebrochene Highschool, an den Missbrauch durch seinen Stiefvater, an die Tränen seiner Mutter, und natürlich an den immer präsenten Vorwurf: Junge, warum hast du nichts aus dir gemacht?
Ja wie denn!? wollte er ihnen zurufen, den selbstgerechten Zeugen seines Absturzes, die sein Stolpern und Fallen aus sicherer Distanz, aber stets mit mahnend erhobenem Zeigefinger verfolgt hatten.
Alle waren sie nun lange fort.
Er hatte sich in sein Schicksal gefügt, es nie schaffen zu können, nie ein geregeltes Leben mit Job und Familie, Haus und Hund aufzubauen.
Wie und wo hätte er auch anfangen sollen? Mit welchen Mitteln, welchen persönlichen Ressourcen, welcher Ambition? Hatte er je darum gebeten, in diese Existenz geworfen zu werden? Nicht, dass er sich daran hätte erinnern können. Da war man einfach da, ohne gefragt worden zu sein, und hatte nicht nur dankbar dafür zu sein, sonder natürlich auch zahllosen Anforderungen gerecht zu werden. Und wehe, man entpuppte sich als Enttäuschung. Dann dufte man sein ganzes restliches Leben mit diesem verdammten schlechten Gewissen herumlaufen.
„Jeder verdient eine zweite Chance“, heißt es so schön. Hierbei wird vorausgesetzt, dass eine erste Chance selbstverständlich ist. Das war sie aber keineswegs, wie ihm an diesem Tage klar wurde. Es war Glückssache.
Reine Glückssache. Nichts als blinder, dummer Zufall, aus welchem Bauch man gezogen wurde, und welche Umgebung man als Erstes erblickte, nachdem man den Plazenta-Schleim aus dem Gesicht gewischt hatte.
War es ein moderner Kreißsaal in einem Erste-Welt-Krankenhaus, oder eine Wellblechhütte am Rande der Müllkippe von Manila?
Jeder musste mitspielen, in dieser Geburtsortslotterie, und jeder hatte nur einen Versuch. Nur einen einzigen Griff in die Lostrommel. Mehr nicht. Man musste nehmen, was man zugelost bekam, ohne Gnade.
So sah es aus. Man mochte direkt zornig darüber werden. Fast so zornig, wie die immer lauter werdende Stimme aus der anderen Ecke des kleinen Verhörzimmers, in dem er sich heute aufzuhalten genötigt fand:
„Name! Verdammt nochmal! Kann doch nicht so schwer sein!“
Dem bulligen Cop ihm gegenüber schien gleich der recht enge, korrekt zugeknöpfte Hemdkragen zu platzen. Seine Hände ballten sich immer wieder zu Fäusten, was wohl unterschwellig ein Gefühl der Bedrohung vermitteln sollte. Guter Cop, böser Cop. Nur ohne den guten Cop. Im Grunde hatte der Bulle aber recht. Es konnte doch nicht so schwer sein, seinen eigenen Namen zu nennen?
Tja, schmunzelte Arthur innerlich, eigentlich …. schon.
Es war kompliziert, wie immer. Die Auswahl war groß. Was sollte er sagen?
Lügner brauchen bekanntlich ein gutes Gedächtnis, und in dieser Hinsicht war Arthur gegenwärtig bedient, er war ein Jongleur von Erinnerungen, reif für den Zirkus, wenn man es ihm von außen hätte ansehen können. Was aber nicht der Fall war.
Dem so genervten Beamten der Exekutive, Carl mit Vornamen, saß an diesem bedeutungsschweren Tag eine erbärmlich schmuddelige Gestalt gegenüber, die allem Anschein nach das war, was der Volksmund als „Penner“ zu bezeichnen pflegte.
Man hatte ihn daher bislang nur mit Einweghandschuhen angefasst. Und mit hochgezogener Nase. Arthur räusperte sich, lächelte gequält und sagte, mit ruhiger Stimme und zugleich absolut wahrheitsgemäß:
„Ich heiße Brian.“
Ein Aufatmen ging durch den Raum. Endlich etwas Kooperation.
Nach der etwas zähen Feststellung seiner Identität – er wusste sogar seine, sprich: Brians Sozialversicherungsnummer auswendig – wurden ihm seine Vergehen vorgetragen: Zum einen die Nutzung einer kürzlich gestohlenen Kreditkarte, zum anderen die Anbahnung eines intimen Kontaktes mit einem minderjährigen Jungen.
Ach ja, der Junge, dachte Arthur wehmütig. Arthur junior. Er hätte gerne nochmal mit ihm gesprochen und ihn auch während des großen Endspiels angefeuert. Irgendwie hatte er früher nie Zeit gefunden, seinen Sohn zu den Spielen zu begleiten. Zudem waren ihm Menschenmengen schon immer unangenehm gewesen. Das Gedränge erinnerte ihn an die alten Zeiten auf dem schulischen Pausenhof, an die er nicht gerne dachte. Und beruflich war er ziemlich eingespannt gewesen. Jetzt hatte er die Zeit, aber die Umstände waren, sagen wir mal, schwierig. Die fragliche Kreditkarte hatte er bereits in seiner Manteltasche vorgefunden, als er heute morgen aufgewacht war. Sie war ihm, also diesem Penner, den er heute verkörperte, tags zuvor im Stadtpark „zugefallen“.
Ungern dachte Arthur an seine eigenen Missetaten, auch wenn es gar nicht seine waren. In diesem Fall war es nicht ganz so schlimm gewesen. Dieser Brian, also er, hatte lediglich beobachtet, wie die Geldbörse einem offenbar gut situierten Herrn beim Aufstehen von der Parkbank aus der Tasche gerutscht und auf der Bank liegen geblieben war. Da hatte er sie einfach eingesackt. Leider war darin nur wenig Bargeld zu finden gewesen, aber eben auch jene gültige Kreditkarte, die der Penner aber gar nicht benutzt hatte. So viel kriminelle Energie steckte wohl nicht in ihm.
Er hingegen, also Arthur, hatte sie heute benutzt, zugegeben, aber nur, um das Zugticket nach Boston zu kaufen, um es noch rechtzeitig zum großen Spiel zu schaffen, dessen Termin er aus der Zeitung erfahren hatte.
Also war er hingegangen, hatte seinen Sohn vor dem Seiteneingang des Stadions abgepasst und angesprochen, um ihm alles Gute zu wünschen, wenngleich er von ihm natürlich nicht erkannt worden war.
In diesem Moment war er verhaftet worden, er, der vermeintliche Dieb und Betrüger, dessen Weg vom Bahnhof durch die Stadt bis zum Stadion lückenlos von Überwachungskameras aufgezeichnet worden war.
Eigentlich hätte es Arthur auffallen müssen, er ärgerte sich daher nicht wenig über sich selbst. Warum war die Kreditkarte am Tag nach dem Verlust noch nicht gesperrt? Na logisch, um ihn prima nachverfolgen zu können. Wann wurde wo welches Zugticket damit gekauft? Wurden noch andere Einkäufe getätigt? Alles im System. Der gläserne Bürger. Einer der Gründe, warum die hohe Politik das Bargeld lieber heute als morgen von der Bildfläche hätte verschwinden lassen, denn neben der Bekämpfung von Schwarzarbeit ließ sich auf diese Weise jede Menge anderer Schabernack unterbinden, den der gemeine Bürger so im Schilde führen konnte.
Auf dem Vorplatz vom Stadion hatten dann die Handschellen geklickt, ein wirklich mustergültiger Polizeieinsatz. Keine Schüsse, keine Verletzten, kein freilaufender Krimineller mehr. Und so war er nun hier gelandet, in einem Verhörzimmer des Policedepartments von Boston, Massachusetts.
Er hatte keine Lust, sich weiter zu erklären und schwieg von nun an beharrlich. Man hätte ihm ohnehin kein Wort geglaubt, wie auch, er glaubte es ja selbst nur mit einiger Mühe. Meist dachte er gar nicht mehr darüber nach. Aber es war wie es war, er konnte sich erinnern. Jeden Tag. An gestern. Sein persönliches gestern.
Gestern zum Beispiel war er reich gewesen, schönes Haus, schöne Frau,