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Daskind - Brandzauber - Angeklagt. Mariella Mehr
Читать онлайн.Название Daskind - Brandzauber - Angeklagt
Год выпуска 0
isbn 9783038551287
Автор произведения Mariella Mehr
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
So trottete Ambach unverrichteter Dinge seinem verfluchten Hof zu, wo die Frau mit elenden Augen im Türrahmen stand. Sie hatte es immer gewusst, dass dem Hof über kurz oder lang kein Glück beschieden sein würde. Die Todsünde der Mächler Olga verlange eben ihren Preis. Vorerst wollte es die Bäuerin mit geweihten Kerzen versuchen, überall Kerzen hinstellen wollte sie, zu Ehren der Heiligen Mutter Gottes. Den Jüngsten an sich drückend, überschlug sie den Schaden. Es würde kaum fürs Nötigste reichen, rechnete sie, nicht fürs Vieh und nicht für die Kinder, man werde schauen müssen, wie der Winter zu überstehen sei.
Nachts nahm der Ambachbauer die Frau mit dem Glauben an die Mutter Maria. Verzweifelt robbte er in ihr weiches Fleisch, wollte nur eines, Schutz vor der Zeit, die sich gegen ihn verschworen hatte. An der Tür stand der Bub, gaffte durch den Spalt, sah mit verschreckten Augen, wie der Vater auf der Mutter lag und zu den heftigen Stößen in ein heiseres Schluchzen ausbrach.
9
Das Gebrüll erstarb so plötzlich, wie es, nach einer Schrecksekunde bleierner Stille, durch die Fabrikhalle gedrungen war. Vielleicht hätte es immer im Dunkeln leben sollen, denkt Daskind, das den Daumen, den Zeigefinger und den Ringfinger der rechten Hand des schreienden, dann verstummten Arbeiters auf den Zementboden fallen sah. Der dem Kind zulächelte und dabei die für die Arbeit an der Blechschneidemaschine notwendige Vorsicht vergaß. Vielleicht hätte es den Augen verbieten sollen, das Erstaunen in den Augen des Verletzten zu sehen, ehe er schrie, dann verstummte und sich wie eine Marionette mit einer langsamen, stillen Bewegung zu Boden gleiten ließ. In kurzen Stößen floss das Blut, sammelte sich zu einem scharlachroten See um den Mann, dessen eben noch lächelndes Gesicht fahl wurde, der jetzt mit geschlossenen Augen dalag, stumm, gekrümmt wie ein Ungeborenes im Mutterleib.
An diesem Sonntagmorgen hatte Kari Kenel Daskind bei der Hand genommen, war mit ihm zum Bahnhof gegangen und in den Zug gestiegen, den er jeden Morgen nahm, um zur Arbeit zu fahren. Er musste die Sonntagsschicht beaufsichtigen, die in Sonderproduktion eine Serie verschieden großer Wannen für das Bezirksspital anfertigte. Es war einer jener Sonntage, an denen man die Vögel besonders fröhlich zwitschern zu hören meint, der Himmel wölbte sich in einem gleichmäßigen, etwas milchigen Blau über der Landschaft. Als der Zug einfuhr, empfing die beiden ein Blasorchester, das sich auf dem Perron zum Jahresausflug eingefunden hatte. Kari Kenel, mit seiner von Enttäuschungen vergifteten Vergangenheit, brachten auch die schmetternden Trompetentöne von Ich hatt’ einen Kameraden keinen Sonntagsfrieden. Daskind aber schwang sich auf den Rücken eines roten Milans und träumte. Hopste, als müsste es sich trotz der sommerlichen Hitze warm halten, unruhig auf der Stelle, tanzte zu den Klängen der Bläser mit nichts als sich zum Gefährten. Nahm sich vor, mit den Träumen aus Schwarz und Schmerz keine Nachsicht mehr zu haben.
Der Weg vom Bahnhof zur Fabrik führte an einer Wildrosenhecke vorbei, die Kari Kenel seinen geheimen Garten nannte. Hundsrosen, deren Duft besonders schwer und süß in der Luft schwebte, wenn sich ein Gewitter ankündigte. Sie nutzte Kari Kenel für die Veredlung seiner eigenen Pflanzen, obwohl unter Züchtern das Ansehen dieser bescheidenen, aber lieblichen Rose gelitten hatte, seit man über einfachere und erfolgreichere Methoden verfügte.
An solchen Tagen fühlte sich Daskind beinahe sicher. Ein Stück des fett und wächsern an der Seele haftenden Zorns hatte sich aufgelöst, ließ ihm ein Fenster zur Welt. Daskind fühlte Boden unter den Füßen. Aus den Augenwinkeln betrachtet es die schwere, an diesem klaren Morgen verlässlich wirkende Gestalt des Pflegevaters, probiert ein Gefühl aus, das Vertrauen heißen könnte. Weltvertrauen. Der Versuch gelingt nicht ganz, doch Daskind lässt sich nicht beirren. Es weiß, dass jeden Tag ein neues Ich aufkeimen kann, während ein anderes stirbt. Wie die Hundsrosen am Weg, einige erblühen, andere sterben ab. Daskind kennt sich da aus. Im Sterben. Im Sterben vor allem.
Aber manchmal geschieht’s, dass Daskind ohne Netz auf dem Seil tanzt. Dass es die gebotene Vorsicht vergisst. Dann kann auch ein Morgen wie dieser zur Katastrophe werden, wenn Daskind nicht aufpasst, die Zeichen übersieht, die jene Dinge ankündigen, von denen Daskind wissen müsste, dass sie jederzeit in sein Leben einbrechen, es in die kälteste Finsternis stoßen können. Daskind im papierdünnen Gewand.
Die Fabrikhalle vibriert vom Lärm der Maschinen. Von den Sägeblättern wirbelt Metallstaub auf, ein metallisch süßer, heißer Geruch dringt in die Lungen. Die Maschinen werden von Männern in blauen Überkleidern bedient. Der Staub überzieht ihre Gesichter. Sie sehen aus, als trügen sie silbern glänzende Masken. Ihre Augen hinter den gelben Brillen sind nicht zu sehen. Vorsichtig gleiten die Hände den Sägeblättern entlang, sie führen die großen, flachen Blechstücke mit fließenden Bewegungen über den Tisch. Die Sonne dringt durch die Fensterfront in die Halle, staubige Lichtbahnen ziehen durch den Raum. Das Kreischen der Maschinen zerreißt dem Kind fast das Trommelfell. Trödelt einer der Arbeiter, geht das Schrillen seiner Maschine in ein stotterndes Gewimmer über, das bald darauf mit einem miauenden Klagelaut erstirbt.
Nachdem der Mann dem Kind zugelächelt hat und die drei Finger seiner rechten Hand über den Zementboden gerollt sind, greift das Sägeblatt ins Leere, ehe der Klagelaut erstirbt. Wie auf ein verabredetes Zeichen verstummen auch die andern Maschinen, starren zwölf Augenpaare Daskind an, nicht den verletzten Mann. Bis einer der Arbeiter aufspringt, mit schweren Schritten die Halle durchquert, sich zum Ohnmächtigen hinunterbeugt, den Sirenenknopf bedient und hilflos stammelnd nach Kari Kenels Händen greift, als könne der das Unglück ungeschehen machen. Aber das kann Kari Kenel nicht, nicht er und kein anderer, nicht dieses Unglück, das vom Kind heraufbeschworene. Ein verstörter Ausdruck in den Augen des Pflegevaters, der sich rasch in Zorn verwandelt. Dann eine Bewegung, fast spielerisch. Daskind wirbelt durch die Luft, stürzt in wattige Nacht.
Da sitzt ihnen der Schrecken doppelt in den Gliedern, den Arbeitern. Erst der verletzte Mann, dann Daskind, das, die Arme schützend um den Kopf geschlungen, zwischen den Blechstücken liegt. Einer streicht dem Kind mit der Hand über die Stirn, dem Kind, das durch eine Nacht treibt, die kein Ende nimmt. Daskind träumt, dass es ganz und gar bei Gott ist, oder beim Satan, man kann das nie recht auseinanderhalten in der Nacht, die kein Ende nimmt. Beißt sich die Zunge wund, um nicht zu schreien. Hat einen roten Geschmack von zersägtem Blech auf der Zunge. Einen Essiggeschmack, saugt sich daran fest.
Kari Kenel wusste nicht, wie ihm geschah. Diese ohnmächtige Wut hatte er noch nie gefühlt, hatte nicht gewusst, dass ein Mordbube auch in ihm steckt. Nun hingen ihm die Arme wie große Schinken am Körper. Das hatte Daskind aus ihm gemacht, dieser hergeholte, stumme Balg, zu dem er keinen Zugang fand, an das er trotz allem gefesselt blieb. In Idaho hatte er vor langer Zeit ein zusammengewachsenes Paar gesehen. Von der Taille bis zu den Füßen waren die beiden unzertrennlich, sie bewegten sich zusammen auf drei Beinen. Gut aufeinander eingespielt, überwanden sie die täglichen Schwierigkeiten, die eine solchermaßen aufgezwungene Gemeinschaft mit sich brachte. Aber Kari Kenel erinnerte sich an den sehnsüchtigen Blick des einen Zwillings, wenn er sich nach der Vorstellung um den Bruchteil einer Sekunde später verbeugte als der andere. Sehnsucht und ein verzweifelter Hass lag in dem scheinbar freundlichen Gesicht. Einmal hatte sich Kari vorgedrängt, hatte die groteske Vorstellung des Zwillingspaars ganz nah auf sich einwirken lassen. Während die beiden auf drei Beinen über die Bühne steppten, traf ihn plötzlich ein Blick, der mörderischer nicht hätte sein können. Zu den Klängen einer Harmonika schrie sich der Verkrüppelte seinen Hass von der Seele, Kari Kenel konnte den Hass riechen, den Hass und die Not. Es war, als würde auf der Bühne Gott in den Boden gestampft, dieser unbegreifliche, sonderbare Gott, der einige mit Schönheit segnete und andere an Leib und Seele verkrüppelte. So erging es ihm oft beim Kind, dass er eine ohnmächtige, verzweifelte Wut spürte, die Sehnsucht, sich des Zwillings zu entledigen. Diese Sehnsucht war durch nichts zu besänftigen, auch nicht durch die Tränen, die er, über das nackte Gesäß des Kindes gebeugt, weinte, wenn er zuschlug. Die Sehnsucht war ein scharfer Luftzug im Gehirn, der alle andern Gefühle auf einen Haufen zusammenfegte, bis es einsam wurde im Kopf vor Kälte. Der Kälte folgte die Wut, eine Wut, an der er jetzt fast erstickte. Sie war anders beschaffen als alle Gefühle, die er kannte. Sie pflügte sich durch den Körper in die Fäuste, Kari Kenel konnte die Gelenke knacken hören, bevor er blitzschnell zum Schlag ausholte. Er war auf eine anstößige Weise in dieser