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diesen riesigen Wal erlegt und im Kampf mit dem Tier auf hoher See ihr Leben riskiert hätten. Der Wal wiege lebend ganze 55 Tonnen, 55 Tonnen ge­ballter Kraft, der die mutigen Männer mit nichts als ihren Harpunen entgegengetreten seien. Aber der Mensch habe vom Herrgott auch einen Verstand mitbekommen, der mache wett, was ihm an Kraft fehle, um solch ein Untier zu erledigen. Schon wieder brandet der Beifall durch den Bahnhof, den nicht anwesenden Helden zu Ehren und dem Verstand, den sie alle vom Schöpfer erhalten haben. Die Ehrung will kein Ende nehmen, schulterklopfend feiert der Mut seine Stunde, die sonst verschlossenen Gesichter leuchten dem Redner entgegen, der sich zufrieden die Hände reibt.

      Daskind lässt die Hurrarufe, das Gejohle und Gestampfe hinter sich, hat sich an den Schulter an Schulter stehenden Dörflern vorbeigezwängt und den Bahnhof verlassen. Das Dorf war menschenleer. Unschlüssig blieb Daskind stehen, wusste nicht recht, welchen Weg es nehmen sollte. Im Chalet Idaho, wusste Daskind, wütete Frieda Kenel mit ihren Pfannen, die Einzige, die sich nicht zu der um den Wal versammelten Menge gesellt hatte.

      Das Chalet gehörte zu den besonderen Gefahrenzonen innerhalb der großen Gefahrenzone, in der Daskind lebte. Auch dann, wenn nur Frieda Kenel anzutreffen war. Die Pflegemutter. Ein langes Wort, denkt das mutterlose Kind, dem die vier Silben höhnisch durch den Kopf rollen, wie Marmeln in die falsche Richtung. Sind nicht aufzuhalten, die Silben im Kopf.

      Daskind ist sich selbst ein vielfaches Wesen: Seiltänzerin, Menschenfresser, Rübezahl, Schneewittchen, Rosenrot und mehr. Der Trauer ist nicht standzuhalten, wenn dem Kind die Welt eindringt, die es nicht begreift. Dringt das Gift durch die Poren, durch alle Körperöffnungen, breitet sich fremde Welt aus im Kind, spürt sich Daskind zerfranst.

      Über dem Kind kreist ein Mäusebussard. Ein Krähenschwarm versucht, ihn mit schrillem Gezeter abzudrängen. Die Straße zieht eine schnurgerade Linie durch die Landschaft, sie endet am Horizont. Durch die dünnen Schuhsohlen ist die Wärme des Asphalts zu spüren. Teergeruch vermischt sich mit dem Duft der blühenden Magerwiesen, die sich zu beiden Seiten der Landstraße ausbreiten. Gedankenlos kaut Daskind an einer Margeritenblüte, der säuerliche Geschmack überzieht den Gaumen mit luftiger Haut.

      Lange wandert Daskind auf der Straße. Nun hat es den östlichsten Rand der Harch erreicht. Hinter dem letzten Dorf sind links der Straße die Kiesgruben am Hang zu sehen. Graue, ausgeschabte Wunden, um einen schrundigen Krater verteilt, der mit milchig schimmerndem Wasser gefüllt ist. Auf der Wasseroberfläche schwimmt Abfall. Eine tote Ratte streckt ihren aufgedunsenen Bauch in den Himmel. Über den beiden Gruben erstreckt sich ein langer Hügelkamm, der fast zur Gänze für den Kiesabbau freigegeben wurde. Baumstümpfe ragen in die Höhe, die gefällten Stämme haben eine tiefe Schleifspur in den Hang bis hinunter zur Straße gefressen.

      Daskind sitzt am Kraterrand, die Füße baumeln über dem Wasser. Es könnte sich fallen lassen, denkt es, das Wasser würde in die Lungen eindringen, ihm den Atem nehmen. Es hat gehört, dass man beim Ertrinken als letztes Musik hört. Da es an Musikerinnerungen keine große Auswahl hat – außer Pflegemutters Fernimsüd vielleicht noch ein paar Kindermelodien, Zählreime und Spottlieder –, ist das keine Verlockung.

      Träge schwimmt die Rattenleiche auf dem Wasser. Daskind angelt mit einem Stock nach ihr, erzeugt immer größer werdende Kreise um den Kadaver. Es schlägt nach ihm, erst gleichgültig, ungenau, dann bricht plötzlich die Wut durch. Daskind zerpflügt mit seinem Stock das Wasser. Die Ratte wird lebendig, schnappt mit ihren spitzen Zähnen nach den Füßen des Kindes, reißt ihren Raubtierrachen auf. Sieben Feuerzungen greifen nach dem Kind. Aus den Vorder­­bei­nen werden grüne Drachenflügel, dann wächst dem Tier Kopf um Kopf aus dem Rumpf, erst sind es nur große Beulen, die platzen, ledrige Köpfe freilegen, die sofort ihre Mäuler mit den sieben Feuerzungen aufreißen, auf Daskind starren, das ums Leben kämpft. Schwerfällig erhebt sich der Drache aus dem Wasser, zieht einen engen Kreis über dem Krater. Daskind kann seinen fauligen Atem riechen, und den ledrigen Geruch seiner schuppigen Haut. Der lange Drachenschwanz peitscht die Wassermasse, die jetzt über den Kraterrand schwappt, mit einer gefräßigen Wellenbewegung Daskind erfasst, über ihm zusammenbricht, es in den Abgrund reißt. Da will Daskind schreien, aber seine Stimme gehorcht ihm nicht, es bleibt stumm. Verzweifelt greift es nach dem Drachenschwanz, zieht sich daran hoch, kriecht über den schartigen Kamm des Schwanzes zum Rücken, hält den Hals des Drachen umklammert. Der schwingt sich mit dem Kind auf dem Rücken hoch in die Luft, die von Fabelwesen erfüllt ist. Ihr Kreisen erzeugt ein melodiöses Sirren, dass im Kind die Wut abstirbt wie ein dürrer Ast an einem noch gesunden Baum. Lächelt Daskind. Der Himmel ist ein blaues Land, grenzenlos, Daskind kann endlich atmen.

      Höher und höher steigt der Drache, Daskind schwimmt jetzt im gleißenden Licht der Sonne, fühlt sich in der Hitze gut aufgehoben. Bis sich ein schwarzer Schatten vor die Sonne schiebt. Da fürchtet es sich einen Augenblick lang, denn es hat gelernt, dass Überraschungen meist aus dem Hinterhalt kommen, zuschlagen, ehe man sich’s versieht. Doch dieser Schatten ist freundlich, ist der Wal, der sich in einem weiten, fröhlichen Bogen in die Höhe katapultiert, dann in einer eleganten Abwärtsbewegung am Rand des Horizonts verschwindet. Daskind auf dem Rücken des Drachen kann den orgelnden Lockruf des Wals hören, kann an diesem Samstagnachmittag die Sprache der Wale verstehen. An diesem Tag geht Daskind nicht unter. Ein Wal und ein Drache haben dem Kind den Tag gerettet.

      Die rechte Straßenseite säumt Schirmers fruchtbarer Obstgarten. Hier reifen der Reihe nach Kirschen, Zwetschgen, Äpfel, Birnen und Nüsse, die Schirmer im eigenen Boot über den See in die benachbarte Kleinstadt bringt. Wenn die Früchte reif sind, achtet der Bauer darauf, dass sich kein Kind an einer Frucht vergreift. Dabei hilft ihm Zorro, der schwarze Dobermann mit den blutunterlaufenen Augen. Wenn der durch den Obstgarten jagt, wenn sich dem Hund das Fell über dem Rücken sträubt und er mordlustig die Zähne fletscht, hechten die Kinder über den Zaun, bleiben keuchend einen Augenblick stehen, ehe sie die Straße entlang zurückrennen.

      Bauer Schirmer hat noch einen zweiten Verbündeten. Einen Stier, den er manchmal, nur so zum Spaß, mit einem Gewehrschuss über die Weiden hetzt, damit die Kinder vor Schreck erbleichen. Sein Gesicht glänzt vor schwarzer Freude, wenn eines der Kinder am Drahtzaun hängen bleibt und nur in allerletzter Minute die schützende Seite erreicht. Besonders, seit sein Sohn unter der Erde liegt. Das hat der Schirmer nie verwinden können. Hat lange mit Gott gehadert, die Schuld dem Mädchen gegeben, der Anni Bamert, dem sündigen Fleisch.

      Weil Moritz Schirmer die umliegenden Kirchen mit großzügigen Legaten versorgt, übersieht man seine Bosheit. Und die Eltern wagen nicht, sich zu beschweren, einige von ihnen sind bei Schirmer hoch verschuldet. Unvorsichtig, sich mit dem Bauern anzulegen. Besser ist es, Schirmer noch beflissener, noch unterwürfiger zu grüßen.

      An Schirmers stattlichen Besitz grenzt die gemeindeeigene Allmend mit der Kromenkapelle, die 1693 von Landammann Johann Krieg als Dank für die Bewahrung vor Raubüberfällen errichtet worden und der Heiligen Muttergottes von Loreto geweiht ist. Das Innere der Kapelle ist eine Nachbildung des heiligen Hauses von Nazareth, der Santa Casa, die nach der Legende Engel nach Loreto getragen haben. Über dem Engelsfenster, durch das der Engel Gabriel bei der Verkündigung eintrat, hatte sich ein Bienenschwarm niedergelassen und bildete eine schützende, dunkle Traube um die unsichtbare Königin. Das geschäftige Summen der Bienen erfüllte den rechteckigen Raum, als das Kind eintrat. Und im Summen der Bienen vermeinte es noch etwas von der Weite zu spüren, in die es mit dem Drachen aus dem Traum eingetaucht war wie in ein unverständliches Glück.

      Stufen und Gitterschranke trennen den Raum mit dem Tonnengewölbe in das westliche Schiff mit dem Altar und den östlichen Chor, der ursprünglich im Hause von Nazareth die Küche mit einer Kaminnische, dem Santo Camino, bildete. Über der Nische ist die heilige Mutter mit dem Kind zu sehen, beide in kostbare, bestickte Gewänder gekleidet, einander liebevoll haltend. Ihre Gesichter und Gliedmaßen sind schwarz wie mattes Ebenholz, Mutter und Sohn lächeln sich zu.

      Daskind setzt sich auf die Stufen. Die Arme um beide Beine geschlungen, kauert es lange vor dem Bild aus einer Welt, die ihm verschlossen bleibt. Warum nur ist so viel traurige Gewissheit im Kind? In einem Alter, das ein bunter Rausch sein könnte. Und da ist er wieder, der Zorn, der sich aus seinem Innern nach außen frisst, ein Unge­heuer, die Nachtseite des Drachen. Kann Daskind nicht an sich halten, muss Luft in die Lungen

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