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schwamm, er würde nicht mithalten können, nie würde er mithalten können mit dem Kind, das ihm so fremd geblieben war.

      Es gab Zeiten, da hatte Kari Kenel Grund zur Hoffnung gehabt. Ärzte hatten Daskind untersucht und behauptet, es sei nicht wirklich stumm, es sei, im Gegenteil, sehr wohl imstande, seinem Alter entsprechend zu reden. Das war kurz nachdem Kari Kenel darauf bestanden hatte, Daskind zu sich nach Hause zu holen. Ermutigt durch die Ärzte, setzte sich Kari Kenel mit dem Kind in die Besenkammer, wo ein großer Stapel alter Zeitungen aufgeschichtet lag. Geduldig reihte er Buchstaben um Buchstaben zu einfachen Wörtern aneinander, bald war der Riemenboden mit ausgeschnittenen Buchstaben übersät. Aber Daskind schaute verstört auf die Wörter, als wären sie gefräßige Tiere, die jederzeit nach ihm schnappen konnten. Kari Kenel bemühte sich, sanfte Wörter zu finden, Wörter, die keine Angst verursachen sollten. Aber Daskind schien die Wörter nicht wirklich zu sehen, es lebte in einem Universum zwischen den Wörtern, sprang mit seinen Blicken an den Wörtern vorbei in eine geheimnisvolle Welt, die, so vermutete der Pflegevater, keiner Sprache bedurfte. Kari Kenel holte Blumennamen aus dem Gedächtnis hervor, von denen er wusste, dass sie Daskind kannte. Rosen, Margeriten, Ringelblumen und Königskerzen erstanden in der Kammer, doch Daskind tastete sich trotzig an ihnen vorbei in seine Welt, die keine Blumen kannte. Kari versuchte es mit den Vögeln, die er auf seinen Waldspaziergängen, Daskind an der Hand, mit Pfiffen, Trillern und Zirpen herbeilockte. Entmutigt sah er zu, wie Daskind teilnahmslos vor sich hin starrte.

      An jenem Abend hatte Kari Kenel das erste Mal zugeschlagen, dem Kind befohlen, sich über den Stuhl des Immergrünen zu legen, eigenhändig das Hemd über das Gesäß des Kindes gestreift und den Gürtel aus den Schlaufen seiner Arbeitshose gezogen. Hatte ihn erst prüfend durch die Luft zischen lassen, dann ausgeholt und geweint. Wer sein Kind liebt. Wer sein Kind sprechen hören will. Der Züchtigung ging eine kurze Aussprache mit Frieda Kenel voraus. Die Daskind nie züchtigte, es nie berührte, nicht im Zorn, nicht in Zärtlichkeit. Die an der Nähmaschine saß und dem Zischen des Ledergurts lauschte, den Atem anhielt, die Hände ruhig im Schoß. In der Küche kaute der Immergrüne an einem Stück Käse, trank dazu dunkles Bier aus der Flasche und wischte sich nach jedem Schluck mit dem Handrücken den Schaum von den Lippen. Wartete auf seine Beute, die ein andrer ihm zurichtete. Er roch förmlich, wie die Gier von seinen Lenden Besitz ergriff, gelb wie die tabakfleckigen Finger, die er in die Öffnungen des Kindes bohren würde.

      Nach zwanzig Schlägen, die Daskind auf Geheiß des Pflegevaters mitzuzählen hat, wischt sich Kari Kenel, wie der Immergrüne unten in der Küche den Bierschaum, die Tränen mit dem Handrücken aus dem Gesicht. Wortlos verlässt er das Grünezimmer, schlurft die knarrende Treppe hinunter, wo er dem Immergrünen auf halber Höhe begegnet. Daskind auf dem Stuhl rührt sich nicht. Du hast mir Schande gemacht, hatte der Mann gemurmelt, bevor er das Zimmer verließ. Daskind wusste nichts von Schande, stumm hatte es die Schläge erlitten, nach keinem Grund gesucht. Seine Welt steckte voller Unbegreiflichkeiten, nach Erklärungen zu suchen war müßig, wenn eine strafende Hand die andere ablöste. Eine kalte Brise erfasst es. Daskind versucht, vom Kummer zu leben. Es wird gut daran tun, sich darin einzurichten, weiß Daskind. Das Leben ist eine nie heilende Wunde, die man sich selbst zugefügt hat.

      Nach Kari Kenel versuchten die beiden Nonnen, dem Kind die Namen von Blumen, Vögeln oder süßen Speisen zu entlocken. Daskind blieb stumm, so sehr sie sich bemühten. Selbst Schwester Guido Marias sanfte Art, dem Kind das Sprechen beizubringen, blieb vergeblich.

      Man hätte den Balg lassen sollen, wo er war, hieß es im Dorf. Daskind sei hier unglücklich, meinten einige freundlicher Gesinnte. Aber schon bald nahm man das stumme Kind hin, wie man ein Unwetter, eine kurze Unpässlichkeit hinnahm oder streunende Katzen, die man nur des Spaßes wegen, sie wegrennen zu sehen, mit Steinen vom Hof verjagt. Wenn selbst die Seelenärzte nicht helfen konnten, waren andere Mächte im Spiel. Dem Teufel ab dem Karren, man hatte es immer gewusst. Daskind hörte die Hinundherworte, die kleinen Wortbomben. Es lernte, nicht zusammenzuzucken, wenn sich die Dörfler bei seinem Anblick bekreuzigten. Wenn es von andern Kindern durch die Dorfstraße gejagt wurde, flüchtete sich Daskind in die Leere, die sein Gehirn jederzeit erzeugen konnte. Wenn Bannflüche nichts nutzten und die Wirklichkeiten durcheinandergerieten, hatte Daskind keine Gewalt über die Hände, die nach dem Tod griffen.

      Keller wollte Daskind wie eine Laus zertreten. Schon immer. Seit dem Tag, als Daskind ins Haus geholt wurde. Alle hatten sie eine Strafe für Daskind, das fremde. Auch der Sigrist und Derpensionist, die Freudenstau, die auch. Und die Kinder, die es von ihren Eltern lernten. Daskind fühlte sich in der Falle. Später, dachte es, würde möglicherweise vieles anders, auch Daskind konnte gerettet werden, versprach Daskind dem Kind, es solle sich den Tod zum Sklaven machen. Aber solchen Befehlen ist schwer nachzukommen. Daskind weiß noch nichts von der Geduld des Wartens. Kennt den verkapselten Zorn zu wenig, noch trägt der Hass kein bestimmtes Gesicht. Das wird sich ändern, sagt es dem Kind ins Ohr, und dass der Hass ein strahlender Stern sei, ein schwarzes Licht hinter der Angst, die es quält.

      10

      Das Herz des Wals wiegt 500 Kilo, sagt Kari Kenel zum Kind. Der Wal liegt auf einem langen, mit Planen ausgekleideten Eisenbahnwagen. Wäre das aufgerissene Maul nicht, das von Eisenstäben gestützt wird, könnte man meinen, das Tier schliefe. Wie ein riesiger, schwarz geteerter Neger, lacht der Gemeindepräsident, dem das Dorf dieses Ereignis zu verdanken hat. Sein Arm verschwindet im aufgerissenen Rachen. Die Kinder an den Händen ihrer Mütter sind ängstlich. Wissen nicht, ob sich das riesige Tier nicht doch plötzlich bewegt, aufersteht vom Tod, der ihm von Männern mit großen Harpunen zugefügt wurde. Tapfer schreien sie im Chor nach Mister Haroy, es hallt durch den Bahnhof, als würde eine Horde Wilder den Geist des toten Tiers beschwören. Daskind schreit nicht mit. Wagt sich näher an den Leib, will dem Tier in die Augen schauen. In den Augen des Wals muss seine Heimat zu sehen sein, meint Daskind, eine Landschaft aus Farben und Licht, mit geheimnisvollen Höhlen, von regenbogenfarbenem Licht durchflutete, moosüberwachsene Korridore, durch die ein Schwarm schwereloser, friedlicher Tiere dahingleitet, ein ruheloses, einander umwerbendes Gedränge aus kühlen, wendigen Leibern. Aber in den Augen des Wals ist die Heimat nicht abzulesen, die Daskind meint. In den Augen des Wals sieht es die Augen seiner Widersacher, und in deren Augen wiederum die Augen der Widersacher hinter diesen Widersachern, Jahrmillionen zurück, und immer der lachende Töter hinter dem lachenden Töter hinter dem Töter. Ein Schachteltraum bindet Daskind an den toten Wal. In diesem Traum sind sie beide Gejagte, Daskind findet sein Entsetzen in den Augen des Wals wieder, seine Angst und den hilflosen Zorn, der jedem Töter entge­gen­brandet und doch, kurz vorm Zuschlagen, ungenutzt verebbt.

      Daskind und der Wal sind eine Insel inmitten des Lachens und Schreiens. Die andern hauen dem Tier kameradschaftlich auf die präparierte Haut, stellen sich neben den Wal, ihn mit der einen Hand berührend, die andere in der Hüfte, als ob sie die Sieger wären. Tun, als hätten sie das Tier erlegt, jeder den andern in der Haltung übertrumpfend. Tun, als bedrohe sie das Tier noch immer, besonders die Kinder, die in gespielter Angst zurücktreten, wieder vorpreschen, Mister Haroy skandierend um den Wagen tanzen, bis sie vom wütenden Gellen der Eltern zurückgerufen werden, sich anständig aufzuführen, das sei ein feierlicher Augenblick. Aber die Kinder lassen sich nicht zähmen. Sie beschießen den Kadaver mit unsichtbaren Harpunen, können ihre Lust am eingebildeten Töten kaum unterdrücken.

      Bis der Gemeindepräsident in die Hände klatscht, weil er eine Ansprache halten will. Er wirft sich in die Brust, wartet, bis auch das übermütigste Kind an der Hand der Mutter den Mund hält, breitet die Arme aus. Als Dank für das Vertrauen der Gemeinde, der er seine Wahl verdanke, habe er diesen Anlass ermöglicht. Es sei ein hartes Stück Arbeit gewesen, die Veranstalter zu überreden, einen kurzen Halt in ihrem Dorf einzuschalten. Die Reiseetappen des toten Wals seien von langer Hand vorbereitet gewesen, aber er habe doch den Wunsch gehabt, der Dorfjugend diesen einmaligen Anblick eines Riesenwals von sage und schreibe – er wiederholt ‹sage und schreibe› noch mehrere Male – 23 Metern Länge zu bieten. Man sei der Jugend etwas schuldig, wolle man sich ihrer als künftiger treuer Bürger verge­wissern. Natürlich habe er eine bestimmte Summe aus der Gemeindekasse erbitten müssen, einen nicht unbedeutenden Anteil habe noch Moritz Schirmer beigesteuert, man solle ihn hochleben lassen. Sogleich brechen die Kinder in ein ohrenbetäubendes Gebrüll aus, das mehrstimmige

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