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differenziert deshalb Real- und Denkabstraktion: bewusstloses und bewusstes Abstrahieren vom Gegenstand Ware.25 Abstraktion bezeichnet den Gang vom Gebrauchswert zum (Tausch-)Wert; Reduktion die umgekehrte Bewegung. Ebenso ergeht es der Arbeit, aus welcher Marx den Wert der Ware deriviert:

      »Da die Tauschwerte der Waren nur gesellschaftliche Funktionen dieser Dinge sind und gar nichts zu tun haben mit ihren natürlichen Qualitäten, so fragt es sich zunächst: Was ist die gemeinsame gesellschaftliche Substanz aller Waren? Es ist die Arbeit. Um eine Ware zu produzieren, muß eine bestimmte Menge Arbeit auf sie verwendet oder in ihr aufgearbeitet werden. Dabei sage ich nicht bloß Arbeit, sondern gesellschaftliche Arbeit. Wer einen Artikel für seinen eignen unmittelbaren Gebrauch produziert, um ihn selbst zu konsumieren, schafft zwar ein Produkt, aber keine Ware. Als selbstwirtschaftender Produzent hat er nichts mit der Gesellschaft zu tun. Aber um eine Ware zu produzieren, muß der von ihm produzierte Artikel nicht nur irgendein gesellschaftliches Bedürfnis befriedigen, sondern seine Arbeit selbst muß Bestandteil und Bruchteil der von der Gesellschaft verausgabten Gesamtarbeitssumme bilden. […] Wie aber mißt man Arbeitsquanta? Nach der Dauer der Arbeitszeit, indem man die Arbeit nach Stunde, Tag etc. mißt. Um dieses Maß anzuwenden, reduziert man natürlich alle Arbeitsarten auf durchschnittliche oder einfache Arbeit als ihre Einheit26«.

      Das Quantum an Arbeit, welches zur Herstellung einer Ware aufgewendet werden muss, heißt gesellschaftliche oder abstrakte Arbeit. Es ist die gesellschaftliche Formbestimmung der Arbeit. Sowohl der kapitalistische ›Reichtum der Nationen‹, als auch der sozialistische, ›vergesellschaftete Reichtum‹ führen eine in erster Linie abstrahierte Existenz. Es gilt hier das gleiche wie für Engels’ Obst, welches gleichermaßen existiert und nicht existiert: dilemmatische Ontologie. Auch ›vergesellschaftete Arbeit‹, ausschließlich zur Produktion von Gebrauchsgütern bestimmt, ist abstrakte Arbeit, sofern sie gemein ist und vom Besonderen sich distanziert. Mag sie inhaltlich konvertiert, gar revolutioniert sein, ist sie doch nur im Begriffe wirklich, da sie vom Ganzen her und auf es hin gedacht wird.

      Hier schließt sich der Kreis und führt uns zurück zur Moral. Um den ersehnten Zustand gelingender Planwirtschaft und kommunistischer Gesellschaft zu erreichen, kam es zu ›Problemen des Übergangs‹. Unerreichtes wurde als Nichtidentisches in Kauf genommen, der Einzelne dem Ganzen subordiniert. Das Totum versprach ihn bald zu erlösen, wofern er nur den Glauben an es, dessen Sinn ja er selbst sei, nicht verliere. Von Beginn an drohte der realexistierende Sozialismus zugrunde zu gehen, weil jene Abstraktionsleistung, die jedes Ideal für sich beansprucht, vom Subjekt der Arbeit nicht genügend erbracht wurde. Dessen gewahr, suchte man in den jungen Volksrepubliken das nötige Bewusstsein mit Hilfe von Erziehung wie Bildung der Massen herbeizuführen. Ungebrochen blieb der Glaube an ein »richtiges Leben im falschen« (Adorno), an die Kongruenz von privatem und gesellschaftlichem Interesse. Schaff:

      »Das, was also in dieser Hinsicht postuliert wird, ist auf den ersten Blick bescheiden und einfach, wenn auch weittragend in den Folgen: aus der Psyche der Menschen die Folgen der Warenwirtschaft zu beseitigen, insbesondere die Folgen der kapitalistischen Warenwirtschaft. Anders gesagt: Die Sache beruht darauf, daß der Mensch in der Überzeugung handle, daß sein richtig verstandenes Interesse ihm immer gebietet, das Interesse anderer Menschen zu respektieren, also das gesellschaftliche Interesse, und daß die so geformte Mentalität entsprechende Gebote und Verbote des Verhaltens im Rahmen der Normen enthalte, die für einen anständigen Menschen im alltäglichen Sinne des Wortes bezeichnend sind«27.

      Das Einwirken auf das Bewusstsein des neu zu kreierenden sozialistischen Menschen bedürfe Zeit, ja ›Ausdauer‹. Was immer am Ende dabei herauskommt, ist mit Glück nicht gleichzusetzen. Marxistische Ethik ist kein Pendant aristotelischer Tugendlehre, welche durch das bürgerliche Gelöbnis auf die am Nicht-Bürger sich schuldig macht.

      »Die Marxisten versprechen nur die Beseitigung – aber nicht einmal eine dauernde Beseitigung – der Ursachen des Massenunglücks, das heißt sie versprechen, die gesellschaftlichen Möglichkeiten eines glücklichen Lebens für den Einzelmenschen zu schaffen. Nicht mehr versprechen sie, aber damit versprechen sie sehr viel.«28

      Die Moral des Marxismus definiert sich in ihrem Kern als Selbstvergesellschaftung, nicht als Unterpfand von Glückseligkeit: Einsichten der Chruschtschow-Ära.

      Sowenig wie mit stoischer Askese und Illusion, ist marxistische Ethik mit deontologischen Modellen zu verwechseln. Dies sei gesagt, weil gerade der Neukantianismus innerhalb der moralphilosophischen Theoriebildung der Sowjetunion eine nicht unerhebliche Rolle spielte (Berdjajew, Tugan-Baranowsky etc.). Statt durch Bewusstseinsbildung Willen zu erzeugen, wurde hilflos an die blinde Pflicht dem Ganzen gegenüber appelliert. Abgeschnitten vom inneren Gefühl ihrer Adressaten, brachte sie das Zwanghafte kantischer Ethik ungeschmälert zur Geltung. Es wundert nicht weiter, wenn in der Praxis man auf gutes Gelingen vergeblich wartete.

      Eine Untersuchung des »Moralbewusstseins« in sowjetischen Betrieben um 1970 ergab, dass »Gleichgültigkeit« und »Trunksucht«, gefolgt von »Bummelei« und »Verletzung der Arbeitsdisziplin« als »typische Abweichungen von den Normen der kommunistischen Moral«29 betrachtet wurden. Die »Normabweichungen« in jener sowjetischen Brigade könnten auch einen westlichen Industriebetrieb beschäftigen. Allein die Absicht des ›moralischen Überbaus‹ unterscheidet sich: Erhöhung der kollektiven Produktivität hier und des Kapitalprofits dort. Dem Arbeiter ist es am Ende einerlei. Das Trinken ist ihm nicht zu verübeln. Tugendappelle werden ausgegeben, um Subalterne am Denken zu hindern. Dies gilt auch für die nötigenden Versuche kapitalistischer Wirtschaftsethik, welche durch Verhaltenscodices das Heer der Angestellten auf die anonyme Totalität des Systems verpflichten. Dem einmal zugestimmt, sieht das Individuum, lustlos und leer geworden, sich so absorbiert, dass für Änderungen am Ganzen es zu spät scheint.

      Die stille Allianz von bürgerlicher Wirtschaftsethik und sowjetischer Arbeitsmoral zu beschreiben, gelang bereits in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Herbert Marcuse:

      »Arbeiten im Dienste des Sowjetstaats ist per se sittlich – die wahre Berufung des Sowjetmenschen. Die individuellen Wünsche werden diszipliniert; Versagung und harte Arbeit sind der Weg zum Heil. Die Theorie und Praxis, die zu einem neuen Leben in Freiheit führen sollten, werden in Instrumente verwandelt, die Menschen für eine produktivere, intensivere und rationellere Arbeitsweise zu trainieren. Was die kalvinistische Arbeitsmoral durch die Verstärkung irrationaler Angst vor den auf ewig verborgenen göttlichen Ratschlüssen erreichte, wird hier durch rationalere Mittel geleistet: ein befriedigenderes menschlicheres Dasein soll die Belohnung für die wachsende Arbeitsproduktivität sein. Und in beiden Fällen garantiert die weit nachhaltigere ökonomische und physische Gewalt ihre Wirksamkeit. Die Ähnlichkeit ist mehr als zufällig: die beiden Ethiken begegnen sich auf dem gemeinsamen Boden geschichtlicher ›Gleichzeitigkeit‹– sie reflektieren die Notwendigkeit, eine gut ausgebildete, disziplinierte Arbeitskraft zu schaffen, die es vermag, der ewigen Routine des Arbeitstages ethische Gesetzeskraft zu verleihen und auf immer rationellere Weise stets ansteigende Gütermengen zu erzeugen, wobei die vernünftige Anwendung dieser Güter für individuelle Bedürfnisse durch die ›Umstände‹ stets mehr hinausgezögert wird. In diesem Sinne bezeugt die sowjetische Ethik die Ähnlichkeit zwischen der Sowjetgesellschaft und der kapitalistischen Gesellschaft.«30

      Gemein ist beiden Systemen weiter, dass sie, obgleich auf Produktion bezogen, ebenso alles Private sich einverleiben. So hat auch das menschliche Triebleben seine Autonomie verloren.

      »Das [sowjetische] Lob der monogamen Familie und der Freude und Pflicht ehelicher Liebe erinnert an die klassische ›kleinbürgerliche Ideologie‹, während die Auflösung der Privatsphäre die Wirklichkeit des zwanzigsten Jahrhunderts widerspiegelt. Der Kampf gegen Prostitution, Ehebruch und Scheidung beschwört dieselben sittlichen Normen wie im Westen, während die Erfordernisse der Geburtenziffer und des verstärkten Energieaufwands für wettbewerbliche Arbeit als Manifestationen des Eros gepriesen werden.«31

      Die

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