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Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 34/35. Группа авторов
Читать онлайн.Название Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 34/35
Год выпуска 0
isbn 9783866746718
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Жанр Афоризмы и цитаты
Издательство Автор
»die alten Redensarten von der Harmonie der Interessen von Kapital und Arbeit. Wenn die Kapitalisten ihr wahres Interesse kennten, würden sie den Arbeitern gute Wohnungen liefern und sie überhaupt besserstellen; und wenn die Arbeiter ihr wahres Interesse verständen, würden sie nicht streiken, nicht Sozialdemokratie treiben, nicht politisieren, sondern hübsch ihren Vorgesetzten, den Kapitalisten folgen. Leider finden beide Teile ihre Interessen ganz woanders […]. Das Evangelium der Harmonie zwischen Kapital und Arbeit ist nun schon an die fünfzig Jahre gepredigt worden […]. Und wie wir später sehen werden, sind wir heute grade so weit wie vor fünfzig Jahren.«32
Theoretischen Vertretern ökonomischer Harmonie- und Kompromissgläubigkeit wie Proudhon, wirft Marx politischen Indifferentismus und Mutualismus vor. Es ist die Angst vor der Tatsache der Differenz, welche jene »Apostel« sich nicht eingestehen, und der Glaube, dass das »Gute« und die »ewigen Prinzipien« am Ende siegen werden, wenn das Proletariat nur mehr Geduld und Verständnis aufbrächte. »Wir müssen nichtsdestoweniger anerkennen, daß sie die 14 oder 16 Arbeitsstunden, die auf den Fabrikarbeitern lasten, mit einem Stoizismus ertragen, der der christlichen Märtyrer würdig ist.«33 Dieser Argumentation treu, wandte Lenin sich in Was tun? gegen die Methoden der russischen Sozialdemokraten, welchen er »Trade-Unionismus« vorhielt, da sie sich auf den Gang durch öffentliche Institutionen (Parlament, Gewerkschaften etc.) einließen, um auf ›legalem‹ Wege den begehrten Umsturz zu erwirken. Ausschließlich die Revolution könnte jedoch die Harmonie totaliter leisten, so der Verfasser.
Die Behandlung der Symptome im kapitalistischen Wirtschaftssystem dient der Ablenkung vom Wesentlichen. Die Ursachen bleiben unberührt, die Diagnose ungenannt. Es ist die Trägheit der Struktur als ganzer, als gegebener, welche die Kräfte des Subjekts bindet. Innerhalb dieses Schicksals eine Variation zu leben, mag sie größer oder kleiner ausfallen, bedeutet in Wahrheit, sich in es zu fügen, gar es zu bestätigen, »confirmer«, wie Sartre sagt:
»Tel ouvrier quitte une usine où les conditions de travail sont particulièrement mauvaises pour aller travailler dans une autre, où elles sont un peu meilleures. Il ne fait que définir les limites entre lesquelles son statut comporte quelques variations […] mais il confirme par là même son destin général d’exploité.«34
Die Pluralität der Moral des Kapitalismus entspricht der Trennung seiner gesellschaftlichen ›Sphären‹ und deren Interessen: Wirtschaft, Staat, Religion etc. Ein je eigener Ethos bildet dort sich heraus. ›Bereichsspezifische‹, ›angewandte‹ Ethik findet als Alibi Verwendung, um ungeniert in dem fortzufahren, was zur Scham Anlass bietet. Diese Polytomie des Ethischen will der Marxismus mittels der Verbrüderung von Individuum und Gesellschaft sowie der Aufhebung der Klassen beseitigt wissen. Die moralische Konkordanz kann ihm nur durch die Veränderung des Ganzen gelingen. Konkrete Probleme treten in der sozialistischen Gesellschaft dann auf, wenn Reste aus überkommenen feudalen oder bürgerlichen Moralsystemen mit der neuen, marxistischen Ethik kollidieren. Gemeint seien religiöse und rassistische Vorurteile sowie allgemein die Diskriminierung von Minderheiten. Unter diesen, durch lokale Traditionen erschwerten Umständen die ›Schöpfung des neuen Menschen‹ zu inszenieren, können wir uns mit Recht als besondere Schwierigkeit denken. Die sowjetische Sozialphilosophie ließ sich nicht davon abbringen, für solcherlei Konflikte, mochten sie noch so spezifisch sein, praktische Lösungen zu finden. So entstanden in der UdSSR paradigmatisch
»viele moralische Konflikte in den Städten auf Grund der Enge in Gemeinschaftswohnungen. Der intensive Wohnungsbau beseitigt viele Standardkollisionen moralischer Art aus dem Leben der Städte. Die wesentlichen Unterschiede [der] Lebensbedingungen in der Stadt und auf dem Land führen immer noch dazu, daß der energischste Teil der Jugend aus den Dörfern fort in die Städte geht.«35
Mit der Aufhebung der kulturellen Differenz zwischen Stadt und Land würden, so die optimistische Vorstellung, auch jene ›Kollisionen‹ rasch beseitigt. Übersetzt: Handgreiflichkeiten unter rivalisierenden Jugendgruppen russischer Metropolen wollen sich nicht zum Bild des ›guten Sowjetmenschen‹ fügen. Dass urbane Aggression, welche an rustikaler Minorität sich entlädt, nicht nur strukturell, sondern auch psychologisch zu verorten ist,36 bleibt ein Defizit der Moralforschung überhaupt. Unnötigerweise – Sartre beklagt dies ausführlich in Questions de méthode – mied der sowjetische Marxismus die Erkenntnisse der Psychoanalyse Freuds.
Den hier dargestellten Versuch einer Vereinigung der Moral auf das Ziel der Veränderung des Ganzen hin, zum Wohle aller partizipierenden Individuen, bezeichnet Marcuse als »Politisierung der Ethik«. Zugleich macht er darauf aufmerksam, dass die »Politisierung der Ethik« sowohl am Anfang wie am Ende der abendländischen Philosophie stünde. Was ist gemeint? Von Platon bis Hegel existiere eine Tradition, nach welcher die Individual-Ethik sich jener der res publica unterwerfe. Wenn nämlich die »Idee des Guten« zu ihrer Verwirklichung oder zur Annäherung an diese der Polis bedürfe, dann sei das Gute nur im bios politikos erreichbar, und die Polis verkörpere die »absoluten sittlichen Maßstäbe«, so Marcuse:
»Ethische Wahrheit ist somit politische Wahrheit, und politische Wahrheit ist absolute Wahrheit. Wesentlich dieselbe Auffassung lebt in der Marxschen Theorie weiter, insbesondere in der Behandlung der Ideologie. Wir haben bemerkt, daß sowjetische Darlegungen über die geistige Kultur bis in ihre Formulierungen hinein an Platons Staat und die Gesetze erinnern«37.
Die Macht, welche das ›Verschwinden‹ der unabhängigen Moralphilosophie und die Auflösung der privaten sittlichen Werte bewirke, sei die Geschichte. Der Fortschritt der westlichen Zivilisation selbst habe die Überführung der inneren Werte in äußere Verhältnisse, der subjektiven Ideen in objektive Realität und der Ethik in Politik auf die Tagesordnung gesetzt. Wenn Hegel die Vernunft als Geschichte interpretierte, habe er in einer idealistischen Formulierung den Marx’schen Übergang von der Theorie zur Praxis vorweggenommen. Der historische Prozess habe die materiellen wie geistigen Vorbedingungen für die Verwirklichung der Vernunft (Hegel) in der Organisation der Gesellschaft (Marx) geschaffen, für das Konvergieren von Freiheit und Notwendigkeit.
Es gilt also die Freiheit des Einzelnen als Notwendigkeit des Ganzen sowie die Notwendigkeit des Einzelnen als Freiheit des Ganzen zu erhalten und stets neu ins Werden zu setzen. In der Konsistenz demokratisch institutionalisierter Diskurse hat die dialektische Spannung zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft fruchtbar ausgetragen zu werden. So allein wird es möglich, die Teile und das Totum, aus der Sklerose ihrer Beziehung, vom Nihil zum Novum, von bloßer Differenz zu wahrer Identität zu führen.
Resümee
Gerade die Zergliederung des Ethos unter Beibehaltung der Entfremdungsbedingungen gereicht der Profitwirtschaft zum Vorteil. Aus diesem Grunde erkennt sie es als ihre tückische Pflicht, einer Änderung des Ganzen entgegenzuwirken. Erst die Vereinigung moralischer Prinzipien auf die Emanzipation des entfremdeten Subjekts und seiner Selbstvergesellschaftung hin könnte neue Möglichkeiten einer in toto stimmigen Ethik eröffnen. Grundlage und Leitidee vermag ihr jener (allein gültige) »kategorische Imperativ« zu sein, den Marx selbst formuliert: »[…] alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.«38
Die nicht abgegoltene Wirkmacht marxistischer Moral besteht in ihrer anspruchsvollen, aus der geschichtlichen Materie und materiellen Geschichte deduzierten Reflexion. Sie ist als »Umschlagsmoment« mit Potenz zur »konkreten Utopie« (Bloch) zu begreifen und für einen verbesserten Fortgang gesellschaftlicher Praxis zu nutzen. Nicht nur demaskiert sie die Tartüfferien des Kapitals, sondern auch die seiner ›moralischen‹ Regulierungsversuche. Unbeschadet ihrer guten Absichten, permaniert als Fauxpas ihre Angst vor psychoanalytischer Vertiefung. Allein die Furcht vor einem Zuviel an subjektiven (Trieb-)Kräften und emanzipiertem Ich bietet als Deutung