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stellen sich Zweifel gegenüber ihrem Entstehungsprozess und ihrem Status ein. Nach Koselleck bestehen diese aus folgenden Kategorienpaaren: »Sterbenmüssen-Tötenkönnen«, »Freund-Feind«, »Innen-Außen«, »Herr-Knecht« und der Kategorie der »Generativität«, die die »zwangsläufige Abfolge von Generationen« bedinge.19 Meiner Meinung nach kann eine solche Begriffsreihe – und das gilt vor allem für die Begriffspaare »Herr-Knecht« und »Freund-Feind« – nicht als eine transzendentale Bedingung möglicher Geschichte wirken. Denn wenn es auch der Fall wäre, dass in der geschehenen Geschichte die Wirklichkeiten, auf die diese Begriffe verweisen, allgegenwärtig wären, dann hätten wir doch keinesfalls die Möglichkeit, dasselbe über die noch vor uns liegende Geschichte zu sagen. Diese Begriffe können daher nicht als formal-transzendental angesehen werden, sie sind vielmehr imprägniert von Faktizität: der Faktizität der gewesenen Geschichte. Im eigentlichen Sinne sind damit also auch Kosellecks Begriffe der Historik nicht transzendental; auch sie sind aus einer Art Verallgemeinerung bestimmter geschichtlicher Phänomen gebildet. So projizieren sie das Gewesene auf das Zukünftige als seinen nur vermeintlichen Möglichkeitshorizont, während sie die wirklichen Möglichkeiten dadurch verstellen.

      Kehren wir zurück zu Marcuses Kritik an Freyers Auffassung der Begriffe; wir finden dort auch die Gründe für eine weitere Kritik der koselleckschen Historik. Denn nach Marcuse liegt das Problem von Freyers Vorstellung der Begriffe gerade in der These, dass sich die Bildung der Begriffe aus dem Stoff der bisherigen Geschichte vollziehe. Das hat für Marcuse die Unfähigkeit, mit solchen Begriffe das Neue zu ergreifen, zur Folge. Solange diese Begriffe auf der Basis des Gewesenen gebildet werden, müsse Freyers System der Soziologie gewärtig sein, dass irgendwann ein neues geschichtliches Gebilde entstehe, das durch keine der bisherigen Begriffe verstanden werden könne und »also den immanent-sachlichen Zusammenhang des Systems zerreißt, das System aufhebt.«20 Meiner Ansicht nach kann diese Kritik nun auch wieder Kosellecks Theorie der Historik treffen. Denn ihre aus der Faktizität der geschehenen Geschichte gebildeten Begriffe grenzen auf eine ebenso beschränkende Weise – als vermeintliche Möglichkeitsbedingungen aller möglichen Geschichten – die Erfahrung und die Vorstellung der noch vor uns liegenden Geschichte auf unzulässige Weise ein. Damit werden letzten Endes auch die geschichtlichen Möglichkeiten reduziert, so dass die Vorstellung und das Schaffen von etwas geschichtlich Neuem verunmöglicht werden. Das problematische Fazit auch aus Kosellecks Historik wäre eine Beschränkung unserer Erfahrung möglicher Geschichten nach dem Muster des Gewesenen, d. h. eine Verengung unseres Erwartungshorizontes. Eine solche Fassung der transzendentalen Kategorien der Geschichte macht es schwer, unsere Rolle als erkennende und vor allem als geschichtlich handelnde Menschen zu verstehen.

      III. Eine ontologische Phänomenologie des geschichtlichen Lebens?

      Worin besteht nun der theoretische Vorschlag von Marcuse gegenüber einer so defizitären Auffassung der Begriffe und der Geschichte bei Freyer – und meines Erachtens auch bei Koselleck? Nach Marcuse scheitert Freyers Anspruch, ein System der Soziologie herauszuarbeiten, aufgrund eines Mangels an philosophischer Reflexion über die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit als ihr Gegenstandsgebiet. Das wäre letztlich die Ursache dieser problematischen Begriffskonstruktion. Marcuse spricht sich für eine erweiterte philosophische Reflexion aus, in welcher er vielmehr die Aufgabe der Philosophie erblickt. In seiner Kritik an der Soziologie als nur scheinbar neutraler und reiner Wissenschaft macht sich Marcuse für die Rolle der Philosophie stark, die das Fundament der Soziologie zu sichern habe:

      »Die Kritik der ›reinen‹ Soziologie bedarf aber nun wieder eines Bodens, von dem aus sie das in Frage stellen kann, was die Soziologie über das gesellschaftliche Sein ausmachen will und kann; ein Boden der in Wahrheit ›grundlegend‹ sein muß, also nicht mehr Standpunkt gegen Standpunkt stellt, sondern die ursprüngliche Möglichkeit aller Aussagen über das gesellschaftliche Sein begründet. Dieser Boden kann allein von der Philosophie vorgegeben und gesichert werden. Das gesellschaftliche Sein kann als eine Grundweise des menschlichen Seins auf seine seinsmäßigen Charaktere, Gesetze und Formen nur von der Philosophie befragt werden.«21

      Marcuse verteidigt hier zunächst die Rolle der Philosophie als Phänomenologie im heideggerschen Sinne einer Fundamentalontologie.22 In seinem ersten Aufsatz schlägt Marcuse eine Synthese zwischen Phänomenologie und Dialektik als der einzigen Methode vor, die »der Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins gerecht zu werden [vermag].«23 Eine solche Synthese bezeichnet er als »dialektische Phänomenologie«: »Sie geht zunächst auf die ihrem Sein nach geschichtliche menschliche Existenz, und zwar sowohl in ihrer Wesensstruktur als in ihren konkreten Formen und Gestaltungen.«24 Die dialektische Phänomenologie also betrachtet die Geschichtlichkeit des Daseins sowohl auf der Ebene ihrer Grundstrukturen, das heißt sowohl auf ihre ontologische Dimension als auch auf der Ebene ihrer konkreten Verwirklichungen, ihre ontische Dimension hin. Der junge Marcuse will beides beibehalten: Marx’ geschichtliche Konkretion und Heideggers ontologischen Anspruch.

      In seiner Auseinandersetzung mit Freyer behauptet Marcuse, dass nur eine »Analyse des menschlichen Lebens als geschichtliches«25 in der Lage ist, die Grundstrukturen der Geschichtlichkeit herauszustellen und die angemessene philosophische Grundlegung für ein System der Soziologie oder eine Theorie der Gesellschaft zu geben. Aber diese phänomenologische Grundlegung gebe uns zugleich eine neue Vorstellung davon, was philosophische Begriffe eigentlich seien:

      »Die Grundcharaktere der Geschichtlichkeit liegen (ontologisch) vor jeder bestimmten geschichtlichen Sozialstruktur; sie müssen sich herausstellen lassen, ohne daß sie zu abstrakten und formalen Kategorien umgedeutet werden. Phänomene wie Herrschaft und Knechtschaft, Bewährung und Vergegenständlichung, Arbeit und Bildung, Selbst-transzendenz und Revolution sind solche Grundweisen des Seins des geschichtlichen Lebens«26.

      Wie sind nun nach Marcuse solche Grundweisen des Seins des geschichtlichen Lebens zu verstehen? Mit Heidegger könne man, wie er fortfährt, sagen, dass solche Grundstrukturen des geschichtlichen Lebens dessen Grundmöglichkeiten seien:

      »Die Strukturen des Daseins, die Zeitlichkeit selbst, sind nicht so etwas wie ein ständig verfügbares Gerüst für ein mögliches Vorhandenes, sondern sie sind ihrem eigensten Sinn nach Möglichkeiten des Daseins zu sein, und nur das.«27

      Die Phänomenologie als Fundamentalontologie ist also auch für Marcuse der dem Sein des geschichtlichen Lebens geeignete Zugang und daher in der Lage, alle möglichen Gebilde und Phänomene des geschichtlichen Lebens zu umfassen. Im Unterschied zur beschränkenden Auffassung der Begriffe bei Freyer (und Koselleck) könne sie eine vollständige Herausarbeitung der Grundkategorien oder -begriffe des geschichtlichen Lebens liefern, die alle Phänomene, sogar diejenigen, für die es noch keinen geschichtlichen Präzedenzfall gebe, umfassen. Nach Marcuse gibt sie die eigentliche philosophische Grundlegung für die Wissenschaften und Theorien ab, die sich mit der geschichtlichen Wirklichkeit beschäftigen. Im Unterschied zu Heidegger hat die Fundamentalontologie bei Marcuse nun aber nicht etwa das individuelle Dasein als Gegenstandsgebiet, sondern das gesellschaftliche Dasein, die gegenwärtige Gesellschaft in ihrer gesamten sozial-politischen Problematik. Die Fundamentalontologie wird damit bei Marcuse zu einer Sozialontologie, die das soziale Dasein zum Gegenstand nimmt:

      »Dieses Dasein ist nun eben als geschichtliches ein primär veränderndes und zu veränderndes. Die Geschichtlichkeit als seine seinsmäßige Bewegtheit geschieht nicht mit ihm oder an ihm, sondern es selbst ist dieses Geschehen und ist nur dieses Geschehen. Das Dasein findet jeweils seine Situation vor, es muß sie auf sich nehmen, – aber nur um sie zu verändern. Denn diese Situation ist selbst ›Geschehen‹, sie trägt in ihr selbst die Möglichkeit und Notwendigkeit ihrer Veränderung. Die Veränderung ist die eigentliche Kategorie der Geschichtlichkeit des Daseins.28

      Für Marcuse ist es also das Ziel der Phänomenologie des sozialen Daseins zu zeigen, dass die Veränderung, die Umwälzung, die Revolution eine Grundmöglichkeit der gegenwärtigen Gesellschaft ist. Diese Sozialontologie Marcuses will auf ontologischer Ebene belegen, dass die Veränderung der bestehenden Gesellschaft ihr als eine ihrer Grundmöglichkeiten offen steht. Marcuses Anspruch ist es, die Veränderung als ontologische Möglichkeit der gegenwärtigen Gesellschaft aufzuzeigen. Auf der politischen Ebene hat dies Folgen gerade für die sozialen Kollektive, die auf eine

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