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      José M. Romero

       Ontologie und Geschichtlichkeit beim jungen Marcuse *

      I. Mit Heidegger gegen Heidegger?

      Nachdem Heideggers Sein und Zeit 1927 einen nachhaltigen Eindruck bei Herbert Marcuse hinterlassen hatte, entschied sich der Berliner Denker für einen Aufenthalt in Freiburg, um sich bei Heidegger zu habilitieren.1 Aber schon im Jahr 1928, vor seiner Zeit in Freiburg, veröffentlichte er den stark von Sein und Zeit beeinflussten philosophischen Aufsatz Beiträge zu einer Phänomenologie des Historischen Materialismus. In diesem Text lässt sich eine kritische Auseinandersetzung mit Heideggers Ontologie der Geschichtlichkeit ausmachen, die für uns noch wichtig werden wird. Ausgangspunkt dieser Auseinandersetzung ist Marcuses Anerkennung der zentralen Bedeutung der in Sein und Zeit dargestellten Phänomenologie des Daseins. Das Buch scheint Marcuse deshalb »einen Wendepunkt in der Geschichte der Philosophie zu bezeichnen […], einen Punkt, wo die bürgerliche Philosophie sich von innen her selbst auflöst und den Weg frei macht zu einer neuen ›konkreten‹ Wissenschaft.«2

      In dieser Bewertung spielt die Einsicht eine große Rolle, dass »die Analysen Heideggers […] das Phänomen der Geschichtlichkeit am ursprünglichsten aufgedeckt haben.«3 Das Besondere an Heideggers Buch ist die Auffassung der Geschichtlichkeit des Daseins als ontologisches: »Die Frage nach der Geschichtlichkeit ist eine ontologische Frage nach der Seinsverfassung des geschichtlich Seienden«.4 Die Geschichtlichkeit verweist dabei nicht etwa auf die Tatsache, dass jedes Individuum in einer konkreten geschichtlichen Situation lebt und durch die Umstände dieser Situation bestimmt ist. Die Geschichtlichkeit ist bei Heidegger vielmehr die ontologische Bedingungsmöglichkeit der Geschichte und ihrer Erkenntnis:

      »Der Satz: das Dasein ist geschichtlich, bewährt sich als existenzial-ontologische Fundamentalaussage. Sie ist weit entfernt von einer bloß ontischen Feststellung der Tatsache, daß das Dasein in einer ›Weltgeschichte‹ vorkommt. Die Geschichtlichkeit des Daseins aber ist der Grund eines möglichen historischen Verstehens, das seinerseits wiederum die Möglichkeit zu einer eigens ergriffenen Ausbildung der Historie als Wissenschaft bei sich trägt.«5

      Die so verstandene Geschichtlichkeit sei nun die ontologische Grundlage des Daseins überhaupt als die Seinsweise seines Geschehens:

      »Die Bestimmung der Geschichtlichkeit liegt vor dem, was man Geschichte (weltgeschichtliches Geschehen) nennt. Geschichtlichkeit meint die Seinsverfassung des ›Geschehens‹ des Daseins als solchen, auf dessen Grunde allererst so etwas möglich ist wie ›Weltgeschichte‹ und geschichtlich zur Weltgeschichte gehören.«6

      Das »eigentliche Sein zum Tode«, die »vorlaufende Entschlossenheit«, das »Wiederholen des Erbes« von durch die Tradition überlieferten Möglichkeiten, das »Schicksal« und das »Geschick« bestimmen demnach die »eigentliche Geschichtlichkeit« und umschreiben die Grundbestimmungen der Geschichtlichkeit des Daseins überhaupt.7

      Heideggers Analysen ebnen nun zwar einerseits den Weg für einen konkreten Zugang zum Dasein, sie sind andererseits aber dennoch für Marcuse nicht konkret genug. Das hat für ihn erstens seinen Grund darin, dass solche Analysen das Dasein als Dasein überhaupt betrachteten, und das bedeutet die Abstrahierung des Daseins von seiner konkreten historisch-sozialen Welt. Das Dasein überhaupt sei eine Abstraktion und die Herausstellung seiner Geschichtlichkeit verweile auf eben derselben Ebene der Abstraktion. Zweitens ergreife Heideggers Phänomenologie der Geschichtlichkeit das Dasein nach dem Muster des Individuums.8 Diese Analyse der Geschichtlichkeit in Bezug auf das Individuum zeigt Marcuse zufolge Heideggers Mangel an Konkretion, denn er verliert sowohl kollektive Grundphänomene und -strukturen aus dem Blick als auch die materielle Konstitution der Geschichtlichkeit. Marcuse spricht Heideggers Begriffen der Umwelt und Mitwelt ihren Anspruch auf Allgemeingültigkeit ab, d. h. den Anspruch für alles Dasein dasselbe zu sein: Diese Allgemeingültigkeit habe

      »ihre Grenzen zunächst in der geschichtlichen Lage. […] Wo liegen nun aber die Grenzen der jeweiligen geschichtlichen Lage selbst? Und ist die Welt auch für alles in einer konkreten geschichtlichen Lage gegenwärtige Dasein ›dieselbe‹? Offenbar nicht. Nicht nur die Bedeutungswelt der einzelnen gleichzeitigen Kulturkreise ist verschieden, auch innerhalb eines solchen Kreises klaffen noch Abgründe des Sinnes zwischen den Welten. Gerade in dem existenzial wesentlichen Verhalten gibt es z. B. kein Verstehen zwischen der Welt des modernen Bürgers des Hochkapitalismus und der des Kleinbauern oder Proletariers. – Hier stößt die Untersuchung notwendig auf die Fragen der materialen Konstitution der Geschichtlichkeit, einen Durchbruch, den Heidegger nirgends vollzieht oder auch nur andeutet.«9

      Gerichtet gegen Heideggers pseudo-konkreten Begriff von Geschichtlichkeit spricht sich Marcuse dann für eine konkrete Philosophie aus. Ihre Aufgabe sei es, eine Auffassung von Geschichtlichkeit zu gewinnen, die sich ihre kollektive Bedeutung und ihren materiellen Bestand aktiv aneigne:

      »Die konkrete Philosophie kann also an die Existenz nur herankommen, wenn sie das Dasein in der Sphäre aufsucht, aus der heraus es existiert: im Handeln in seiner Welt gemäß seiner geschichtlichen Situation. Im Geschichtlichwerden kommt die konkrete Philosophie, indem sie das wirkliche Schicksal des Daseins auf sich nimmt, zum Öffentlichwerden. […] Daß die Philosophie mit einem konkreten Dasein in der Gleichzeitigkeit steht, heißt, daß die Philosophie sich um die ganz konkreten Kämpfe und Nöte dieses Daseins zu kümmern hat, daß sie ›dieselbe‹ Sorge um sein so und nicht anders existierendes Leben zu tragen hat.«10

      II. Begriffe und Geschichtlichkeit

      Diese Kritik an Heidegger und das Plädoyer für eine andere historisierte Philosophie impliziert beim jungen Marcuse allerdings nicht den Verzicht auf eine Ontologie der Geschichtlichkeit.11 Das wird in mehreren Stellen seines Frühwerks aus den Jahren 1928-1933 deutlich.12 Für unser Thema ist Marcuses Auseinandersetzung mit Hans Freyers Buch Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft im Jahr 1931 besonders interessant. Hier können wir eine Kritik an Freyers Theorie der Begriffe finden, die meiner Meinung nach auch Reinhart Kosellecks Auffassung der Kategorien der Historik als transzendentale Theorie der Geschichte betrifft.13 Nach Marcuse ist Freyers Absicht »die ›philosophische Grundlegung‹ eines ›Systems der Soziologie‹«14, aber statt eine phänomenologische (das heißt für Marcuse in dieser Zeit: eigentlich philosophische) Analyse der Gegebenheit ihres Gegenstandes zu unternehmen, bleibe Freyer entgegen seiner ausdrücklichen Absichten auf einer erkenntnistheoretischen Ebene. Da es sich bei Freyers Entwurf um ein konkretes System der Soziologie handele, spreche er sich selbst aus »gegen alle abstrakte, formale Soziologie, die die Geschichtlichkeit der sozialen Gebilde und Strukturen verkennt«15. Freyer finde etwa die Versuche, ein System von Begriffen durch eine trans-zendentale Reflexion auszuarbeiten, unfruchtbar, weil ihre Ergebnisse vollkommen abstrakt und formal wären. Deswegen bleibe für Freyer nur ein einziger Weg offen: die Bildung der Begriffe für sein System der Soziologie aus der gewesenen Geschichte heraus. Er bilde seine Begriffe durch das Aufgreifen der »typischen Grundstrukturen der gesellschaftlichen Wirklichkeit aus der Geschichte«.16 So mache sich Freyers philosophische Grundlegung der Soziologie »an den bisher vorhandenen geschichtlichen sozialen Gebilden als ›typischen‹«17 fest. Freyer entnimmt nach Marcuse also seine Begriffe durch eine Art von Verallgemeinerung der geschehenen Geschichte. Das habe Auswirkungen auf sein System der Soziologie, wie wir später weiter im Lichte von Marcuses Kritik sehen werden.

      Zuvor betrachten wir jedoch die Auffassung der von Marcuse bei Freyer kritisierten Begriffe im Kontext von Reinhart Kosellecks Historik. Hier gibt es meiner Meinung nach Ähnlichkeiten mit Freyers Position. Gewiss wollte Koselleck – anders als Freyer – mit seiner Historik eine transzendentale Theorie der Geschichte entwickeln: eine Theorie der »transzendentalen Bedingungen möglicher Geschichten«18. Er beanspruchte Heideggers ontologische Analyse des Daseins auf der Ebene der wirklichen Geschichte zu verbreiten. Eine zentrale Aufgabe der Historik ist die Bildung der transzendentalen Begriffe, die die Bedingungsmöglichkeiten aller möglichen Geschichte ausmachen sollen. Solche Begriffe sollen die Grenze des Erkennbaren und Machbaren in der Geschichte ziehen.

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