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ist, nämlich Triebverzicht – weniger als Forderung an die Lohnabhängigen, denn als Praxis und Rapport herrschender Klassen –, kompromittierte jener mit analytischer Schärfe, wenn er im Kapital konstatiert:

      »Um das Gold als Geld festzuhalten und daher als Element der Schatzbildung, muß es verhindert werden zu zirkulieren oder als Kaufmittel sich in Genußmittel aufzulösen. Der Schatzbildner opfert daher dem Goldfetisch seine Fleischeslust. Er macht Ernst mit dem Evangelium der Entsagung. Andrerseits kann er der Zirkulation nur in Geld entziehn, was er ihr in Ware gibt. Je mehr er produziert, desto mehr kann er verkaufen. Arbeitsamkeit, Sparsamkeit und Geiz bilden daher seine Kardinaltugenden, viel verkaufen, wenig kaufen, die Summe seiner politischen Ökonomie.«19

      Nirgends sonst ist die Ambiguität bürgerlich-ökonomischer Moral, ihre unselige Herkunft wie Legitimierung aus der Religion, in solcher Klarheit vorgeführt – Marx’ bleibender Verdienst.

      Soziale Kontrasterfahrungen dürfen gemacht und artikuliert werden, ohne dem begriffenen Negativen ein bestimmtes Positivum entgegenbringen zu müssen. Die Utopie hat nicht »ausgepinselt« (Bloch) zu sein, realisiert sie sich doch von allein, sobald der ›Umschlagsmoment‹ bewusst wahrgenommen ist. Ethik kann nach Marx nicht anders verstanden werden, denn als Selbstbefreiung des Subjekts von unbegriffenen Mächten. An die Stelle des von oben verordneten politischen Status quo tritt die Selbstvergesellschaftung des Menschen von unten, die Nostrifizierung des Öffentlich-Allgemeinen durch das Proletariat:

      »Die Betroffenen nehmen das sie Betreffende selbst in die eigne Hand. Die Aufhebung der Moral ins Vergesellschaftungshandeln, wie sie Marx und Engels vorschwebte, rückt Fragen nach dem Wie, nach dem neuen Umgang mit Konflikten, Unterschieden, auch nach der Un/Annehmbarkeit von Mitteln zu erwünschten Zwecken ins Zentrum.«20

      Marxistische Moral steht philosophiegeschichtlich in einer postdestruktiv-antizipierenden Phase zwischen nicht mehr und noch nicht: Nach der Dekonstruktion und Aufhebung überkommener metaphysischer Werte hat sie eine neue Form von Sittlichkeit zu begründen, welche dem Prinzip der Selbstvergesellschaftung gerecht zu werden hat. Sie sieht sich mit dem Dilemma der gleichzeitigen Unmöglichkeit und Nötigkeit normativer Ethik konfrontiert. Diese Dialektik, ohne Aussicht auf Synthese, hat sie theoretisch wie praktisch zu durchstehen.

      Jene von Rousseau beklagte (und von Hegel rezipierte) Zerteilung des Bürgers in eine existence partielle et morale, in einen homme et citoyen harrt seitdem ihrer Vereinigung. Die Hauptlast im Marx’schen Erbe besteht im Versuch seiner politischen Umsetzung. Affektion und Abstraktion verweilen in hartnäckiger Diskordanz. Durch seine Unausgeglichenheit wandelt das Theorie-Praxis-Verhältnis sich zur Mesalliance. Unaufgearbeitetes bricht hervor und irritiert die Vernunft-Harmonie. Das Partielle, Sinnliche, die Qualia sind es, welche immerzu und aufs Neue Aufmerksamkeit verlangen. Wie versehentlich wird aus dem zum Partikularen gedrängten Ganzen wieder ein zum Totalen gefügter Einzelner. Unbehagen überfällt den zur Einheit Genötigten. Die Sprache absoluter Verständigung vermag auch Marx nicht zu leihen. Eine Hypothek, an welcher die Sowjetgesellschaft sich abmühte.

      Noch einmal: Der Marxismus fühlt sich dem Hegel’schen Identitätsprinzip verpflichtet; jedoch in der umgekehrten Folge seiner Elemente: Die Verhältnisse haben sich dem Individuum anzugleichen. Im Zentrum steht der einzelne Mensch und die von ihm sinnlich wahrgenommene Lebenswelt. Er wird zum Maßstab seiner Gattung. Das Ganze bildet die notwendige Peripherie: seine Umstände, im Wortsinn. Sie haben ihn aufzufangen. Einmal initiiert, steht diese Tendenz nicht mehr zur Disposition. Die Materie, im Einzelmenschen erscheinend, offenbart sich als anweisende: kritischer Materialismus. Marx schreibt:

      »Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst. Die politische Emanzipation ist die Reduktion des Menschen, einerseits auf das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf das egoistische unabhängige Individuum, andererseits auf den Staatsbürger, auf die moralische Person.«21

      Das staatliche Gemeinwesen hat die bürgerliche Gesellschaft, aus Individuen bestehend, in ihren privaten Vorlieben und Interessen als ›Naturbasis‹ zu akzeptieren. An ihr haben die öffentlichen Entscheidungen je sich zu orientieren. Im Gegensatz zu Hegel hat die politische Totalisierung von unten nach oben zu geschehen. Es ist die aufsteigende Bewegung, geronnen in der ›Tathandlung‹ von Ich und Wir, von Ich als Wir, welcher die Hoffnung auf Umsturz innewohnt. Die emanzipative Wandlung des Menschen zum Gattungswesen verspricht die Zusammenschau seiner Gegensätze. Dem Willen zur Veränderung entspricht der Wunsch nach der Identität dessen, welches sie verweigert.

      3. Sowjet-Marxismus

      Sowohl das vernünftig-ideale, als auch das historisch-materiale Allgemeine stellen eine Form von Abstraktion dar, deren Funktion Vermittlung zu sein hat. Abgehoben von aller Gegenständlichkeit, kommt es dann, dass die Vernunft ihre abstrahierenden, erklärenden Kräfte verwirkt und selbst vermittelt sein will. Die Vermittlung der Vermittlung: regressus ad infinitum. Früh entstand die Frage, ob Allgemeines überhaupt ist. Engels verneint dies im Anti-Dühring. Selbst Materie existiere nur als Begriff, sei ›Gedankensschöpfung‹. Man greife nach ihr ebenso vergeblich wie man statt Kirschen, Birnen, Äpfel das Obst als solches zu sehen verlange. Abstraktion erscheint in ihrer Notwendigkeit als kategoriales Produkt, welches die Einheit des Mannigfaltigen herstellt. Kategorien = ›reine synthetische Verstandesbegriffe‹ (Kant). Auch die exakte Analyse der Ware sowie ihrer und des Geldes Zirkulation im Kapitalismus machen die Fähigkeit abstrakten Denkens unverzichtbar.

      Nicht die Abschaffung der Warenproduktion per se postuliert Marx, sondern die für den Tausch und dessen Markt bestimmte. Um die Änderung der sie bedingenden kapitalistischen Produktionsverhältnisse geht es ihm, um die Übergabe der Produktionsmittel an die Produktivkräfte: Ex- und Transpropriation. In der sozialistischen Weise zu produzieren, soll der Gegensatz, welcher die Ware bewohnt, Gebrauchs- und Tauschwert nämlich, aufgelöst werden. Der Widerspruch, welcher zwischen privater (für den Gebrauch) und gesellschaftlicher (für den Tausch) Herstellung dominiert, soll im Rahmen vergesellschafteter Arbeit bezwungen sein. Dies bedeutet, dass der gesellschaftliche Reichtum nicht mehr an einer ›ungeheuren Warensammlung‹, sondern an seinem gesellschaftlichen Nutzen, an der Produktion nützlicher Gegenstände, welche ausschließlich der Existenzsicherung dienen, zu messen ist. Was dem Kriterium der utilité existentielle nicht entspricht, wird als ›Vergeudung‹ der Kräfte und Mittel bekämpft.

      »Ihre Befreiung aus diesen Banden ist die einzige Vorbedingung einer ununterbrochenen, stets rascher fortschreitenden Entwicklung der Produktivkräfte und damit einer praktisch schrankenlosen Steigerung der Produktion selbst. […] Die Anarchie innerhalb der gesellschaftlichen Produktion wird ersetzt durch planmäßige bewußte Organisation. Der Kampf ums Einzeldasein hört auf. Damit erst scheidet der Mensch, in gewissem Sinn, endgültig aus dem Tierreich, tritt aus tierischen Daseinsbedingungen in wirklich menschliche.«22

      Engels’ Wunsch nach uneingeschränkter Steigerung der produzierenden Kräfte sowie nach einem ›hohen Grad ihrer Entwicklung‹, um der Besserung der Verhältnisse willen, legitimiert die Ausrichtung der Sowjetgesellschaft auf totale Produktivität. »Der Kapitalismus kann endgültig besiegt werden und wird dadurch endgültig besiegt werden, daß der Sozialismus eine neue, weit höhere Arbeitsproduktivität schafft.«23 Diese wird als der höhere Zweck gesetzt, welcher absolute Explikabilität und langfristige Harmonie garantiert: »Sowjetmacht plus Elektrifizierung«24. Mit ihm resurgiert die Forderung nach Abstraktion. An obigen Überlegungen lässt sich nun anknüpfen.

      ›Vergesellschaftete‹ Arbeit koinzidiert mit ›gesellschaftlicher‹ insofern, als beide ein nicht geringes Maß an Abstraktionsvermögen, an Bewusstsein und Aufgeklärtheit um der Identifikation willen bedürfen. Was ist gemeint? Wie der Wert einer Ware enthält auch die Arbeit eine Doppelform. Die Wertabstraktion reicht uns den Schlüssel, das duplizierte Innere der Ware zu dechiffrieren: ihren Gebrauchs- und Tauschwert. Sie vollzieht sich bewusstlos, nicht unbewusst. Die Bewusstlosigkeit

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