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In der Kunst »versammelt sich, was seit undenkbaren Zeiten von Zivilisation gewalttätig weggeschnitten, unterdrückt wurde samt dem Leiden der Menschen unter dem ihnen Abgezwungenen, das wohl schon in den primären Gestalten von Mimesis sich äußert«58: In Zeiten, da der magische Zweck und die zwecklose ästhetische Verhaltensweise noch nicht voneinander geschieden sind, bekundet diese daher schon, was jenem konträr ist – nämlich den »Einspruch gegen Verdinglichung«, gegen mimetische reduplicatio des Seienden im Abbild um seiner Manipulation willen.

      Schon die ältesten Höhlenzeichnungen zeigen nämlich »äußerste Treue in der Darstellung« nicht des statischen ruhenden, leblos-unbewegten Seienden, sondern gerade »von Bewegtem«, so »als wollten sie […] das Unbestimmte, nicht Dingfeste an den Dingen minutiös nachahmen. Dann« aber »wäre ihr Impuls nicht der von Nachahmung, nicht naturalistisch gewesen, sondern von Anbeginn Einspruch gegen die Verdinglichung«59. Ohne Mimesis aber käme das nicht heraus: Der Ausdruck des Lebendigen, das gegen Fixierung, Stillstellung und Tod im Dinglichen sich sträubt, würde nicht sinnfällig.

      Hier befinden wir uns an einer der wichtigsten Stellen der Adorno’schen Kunsttheorie; an ihr ist die Entdeckung ausgesprochen, dass die beiden zentralen Kategorien der Kunst – Ausdruck und Bild; also ein Naturhaft-Subjektives, Lebendiges, und ein Dinglich-Objektives, Stillgestelltes und Fixiertes –, sosehr sie choris sind und generisch verschieden scheinen, zuinnerst miteinander vermittelt sind; sie sind in gewisser Weise Funktionen, Ausdrücke voneinander.

      Adornos Ausdruckstheorem besagt, dass expressio keine Elementarbestimmung, kein Ursprüngliches ist. Der Ausdruck bildet sich, so nimmt er an, im Animismus: da, wo Totemtiere, Gottheiten, Dämonen imitiert werden, genauer, wo diese Gestalten bereits die Resultate von objektivierenden Schreckens- und anderen Reaktionen darstellen. Der Ausdruck ist nichts anderes als dieser angehaltene, in Gestus60 und Mimik fixierte Schrecken – verwandt jenem Warburg’schen »Engramm« im Innersten der kulturellen Ausdrucksgeste,61 die kraft seiner den objektiven »Prägewert« der stets wieder durchschlagenden Pathosformeln in Kunst und in deren Abhub erlangt.62 Dem anscheinend Subjektivsten, dem Subjekt-Eigensten wohnt das Ich-Andere ein. Der Ausdruck ist nicht sowohl subjektive Regung als Bezeugung von objektiv Seiendem und seiner Gewalt, seinem Druck auf das Ich, im Ich. Die physiognomische Prägung aber ist Bild, Lineatur, mimetisches Abbild des Ich-Andern. Der Ausdruck zeigt sich als »Zeugnis eines Risses«63 – dessen zwischen Subjekt und Objekt, Subjekt und Kollektiv, welche sich im Subjekt malen, ein- und ausprägen. Solche Prägung, solches Mal, solches Bild kann als Verdinglichung des Ausdrucks gedeutet werden, »feind […] der Regung, welche der […] Ausdruck ist«64.

      Das Theorem ist ingeniös; es lässt begreifen, dass ohne den (konstitutiven) Bildcharakter – die Objektivation in der Kunst – kein (ebenso konstitutiver) Ausdruckscharakter – die Irritation, Erregung und Regung in der Kunst – ist; dass ohne Ausdrucksbewegung keine Bildgestalt, und keine Ausdrucksprägung ohne eingreifend bildende Kraft ist. – Haben wir die kategoriale Physiognomik des Kunstwerks genauer entziffern gelernt, werden wir stets auf polare Bestimmungen stoßen, die von jenen duplexen, reflexiv vermittelten Grundbestimmungen deriviert sind oder sie variieren – Zeugnis dessen, dass die Kunst geschichtsphilosophisch jenen Riss zwischen Wesen und Schein manifestiert, auf dessen Heilung im wahren Sein sie hindeutet.

      Die duplexen Bestimmungen Ausdruck und Bild erlauben den Grundtypus des Kunstwerks – etwas wie das Urphänomen des künstlerischen Gebildes – zu umreißen. Adorno definiert es in anthropologisch-naturgeschichtlichen Begriffen. Was ist das ästhetische Verhalten, das Verhalten, das ästhetische Gebilde hervorbringt? »Die Fähigkeit, irgend zu erschauern – so als wäre die Gänsehaut das erste ästhetische Bild«65. Das erste; proton eidolon: der Prototyp, der allen wirklichen Werken einbeschrieben ist. Das Erschauern vor dem, was schaudern macht, findet den Ausdruck, der dieses erschauern Machende sinnfällig nachmacht: an der sich zusammenziehenden Haut, dem gesträubten Fell; in der Abwehrhaltung, die dem Angreifenden, standhaltend, sich gleichmacht. – Das Werk ist die Erschütterung des Subjekts, in der das Erschütternde Gestalt annahm, so wie das Anpackende im Bilde der kontrahierten Haut. Es an ihm abzulesen, illustriert die Weise der Kunst, Erkenntnis und Erfahrung zu erlangen. Dass sie die Weise der Theorie, Erkenntnis zu erlangen, intensiviert; durch Mimesis und Regung den Begriff und das Urteil stärkt – das heißt das Gegenteil davon, dass Kunst die Erkenntniskompetenz usurpiere und die Rationalität verabschiede.

      Matthias Mayer

       Aktualität und Kritik marxistischer Ethik

      Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.

       Theodor W. Adorno

      Zusammenbruch und Krise der internationalen Kapitalmärkte in den Jahren 2008 und 2009 reanimierten weltweit eine Kritik der politischen Ökonomie. Marx war gefragt – wieder. Zugleich stieg das Verlangen nach Regulation und Normierung. Künftige Entgleisungen galt es zu verhindern. Es erging der alte Ruf nach Moral. Neben der Unkenntnis über den wahren Inhalt der Marx’schen Lehre verbarg sich dahinter die Absicht, den Schaden nur in seinen Teilen zu beheben, das Ganze jedoch als System unverändert zu lassen.

      Keine Philosophie ist dem Gehalt ihrer Bestimmung nach so eng mit praktischer Intention verwoben wie jene, welche die Veränderung der wirklichen Verhältnisse sich zum erklärten Ziele setzt. Dennoch ist die von Marx so entworfene und gemeinte keineswegs eine Moralwissenschaft oder in irgendeiner Weise als solche zu bezeichnen. Diese Auffälligkeit weckte von jeher Interesse und versuchte zugleich viele, unter dem Etikett (sowjetischer) Marxismus eine Moral zu konstruieren, welche dem eigentlichen Anliegen von Marx widersprach. Um den Marxismus von moralphilosophischen Widersprüchen und ideologischen Extremen zu befreien, ist es also dringlich, seine Quellen erneut zu sichten.1

      Auch wenn Marx selbst kein bündiges System einer positiven Ethik2 hinterließ, vielmehr Analyse und Dekonstruktion seine Methode waren, ist es dennoch möglich, aus ihm einen Beitrag sowohl zu aktuellen Moraldebatten als auch zur Klärung der normativen Grundlagen kritischer Theorie zu destillieren.

      »Anders als in der zur autoritären Herrschaftsideologie erstarrten Dogmatik des M[arxismus] L[eninismus] gibt es in der marxschen Theorie keine E[thik]. Marx sieht seine kritisch-aufklärerische Aufgabe vielmehr zu einem nicht geringen Teil gerade darin, E[thik] als eine Gestalt falschen Bewusstseins zu entschleiern, die mit gesellschaftlicher Notwendigkeit generiert wird, und zu zeigen, dass die bloß ›moralisierende Kritik‹ (MEW 4, 331) inhumaner gesellschaftlicher Verhältnisse eine resignativ verklärende Funktion hat, weil sie ein Werkzeug zur Aufrechterhaltung dieser Verhältnisse ist.«3

      Wir beginnen unseren Gedankengang bei Hegel, ohne den Marx, dessen habitus operativus wir uns im direkten Anschluss zuwenden, nicht wäre, was er uns geworden ist. Hinterher erweist eine Betrachtung der moralischen Aporien der Sowjetgesellschaft sich als angebracht. Erst die Applikation marxistischer Ethik innerhalb sozialistischer Produktionsverhältnisse lässt uns ihre Suffizienz beurteilen. Durch die kritische Sicht auf jenes System sowie seine Abgleichung mit Marx selbst gelangen wir zu der Möglichkeit, Gültiges und Überkommenes in jenem scheiden zu können. Von da aus wären dann fruchtbare Impulse für gegenwärtige Fragestellungen zu gewinnen.

      1. Hegel

      Wegweisend und belastet zugleich bleibt bei Hegel, dass nicht das Individuum von sich zum Ganzen drängt, sondern das Ganze die Anlage besitzt, am Einzelnen sich zu vergehen, ihn zu totalisieren: objektiver Idealismus. Der Schatten des Determinierenden liegt über ihm. Die Freiheit des Individuums droht durch die ›List der Vernunft‹ zum trompe l’œil zu werden.

      Der Sinn dieser Spekulation spiegelt sich noch und erst viel später, wenn in der sozialistischen Gesellschaft jene permanente Spannung, in welcher konkrete (subjektive, individuelle) und abstrakte (objektive, gesellschaftliche) Arbeit, Einzelner und Gemeines zueinander stehen, auf Kosten des Individuums zu äquilibrieren versucht wird.

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