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anderen sehen nach, was uns das weiße Reh zeigen will.“

      Eadburga und Michal nickten. „So sei es.“

      Frideswide und Aebbe erhoben keinen Widerspruch, mit einigen Schritten Abstand folgten sie den drei Nonnen zum Waldrand. Das weiße Reh führte sie durch Brombeergestrüpp und über verstreute Felder von Schlüsselblumen, die ihre gelben Blüten geöffnet hatten, weiter in den Wald hinein. Schließlich erspähte Michal Licht am Ende des Waldes, dahinter lag vermutlich der Grafenhof. Hatte das Reh sie in die Irre geführt, in eine Falle gar? Wartete dort Wulfhardt mit seinen Schlächtern? Michal zögerte, auch die anderen Nonnen hielten inne.

      Das Reh erreichte den Waldrand. Mit seiner rosa Stupsnase schnupperte es am Boden.

      „Da liegt etwas!“, rief Michal und marschierte voran, bis sie sah, was das Reh beschnupperte: einen Knaben.

      Er lag auf der Seite, das bleiche Gesicht nach oben gedreht, die Augen geschlossen, aus dem Mund hing die Zunge heraus. Die anderen Nonnen erschraken und traten einen Schritt zurück, Michal beugte sich zu ihm hinunter. Ein magerer Knabe, doch die breiten Schultern zeugten davon, dass er einmal kräftiger gewesen war. Sein Rock endete an den Knien in einem Saum und war aus feinem Wollstoff gewebt, inzwischen jedoch arg zerschlissen, Blätter klebten daran. Am Ringfinger prangte ein Ring mit eingraviertem Eber. Die Haare fielen vom Mittelscheitel zu beiden Seiten hinunter, anfangs glatt, ab den Ohren in kleinen Wellen, und am Ende, über den Schultern, kringelten sie sich zu Locken. Michal strich ihm eine blonde Strähne aus der Stirn, die sich mitten unter seine hellbraunen Haare geschmuggelt hatte.

      Sie tastete seinen Hals ab und fand den Herzschlag. „Er lebt. Bringen wir ihn ins Kloster.“

      Frideswide blickte auf den Jüngling herab, als betrachtete sie eine Erdkröte. „Es ist uns verboten, einen Mann zu berühren. Außerdem werden wir schwerlich Heidenheim zur Sext erreichen, wenn wir ihn tragen. Sollen die Mönche ihn holen.“

      „Wir können ihn doch hier nicht liegen lassen!“, brauste Michal auf, die geziemende Ruhe vergessend. „Ein wildes Tier könnte ihn töten. Die Rettung eines Menschen ist ein gottgefälliges Werk, schließlich hat Gott diesen Knaben erschaffen. Also lasst uns Gottes Schöpfung retten!“

      Eadburga, Hilda und Aebbe stimmten ihr zu, und gemeinsam hoben sie ihn hoch. Dabei löste sich etwas aus seinem Gürtel und fiel hinunter: ein Beil, die Oberkante des Blattes s-förmig geschwungen, die Unterkante einen einfachen Bogen beschreibend, die Schneide rot gefärbt. Michal erschrak, schnell steckte sie das Beil in ihren Beutel.

      Wulfhardts Waffenknechte trugen in ihrer Mitte das Reh, das er gerade erlegt hatte, an den Seiten hechelten die Jagdhunde. Eine erfolgreiche Jagd, auf der er seine Albträume vergessen hatte. Doch heute Nacht würden sie zurückkehren: Seit der Ermordung seines Bruders, nachdem das erste Triumphgefühl verflogen war, raubten sie ihm beinahe jede Nacht den Schlaf. Oft erschien sein Bruder als Untoter, den Pfeil noch in der Brust, mit den Armen nach ihm greifend. Einmal hatte er mitten in der Nacht an die Tür des Schlafgemachs geklopft. Wulfhardt war kopfüber aus dem Fenster gestürzt, kurz darauf hatte es im Schlafgemach gerumpelt. An die Hauswand gekauert, hatte er bis zum Sonnenaufgang ausgeharrt. Mehr denn je trieb ihn seitdem die Angst um, für den Brudermord bestraft zu werden. Vielleicht durch Gerolds Hände? Wahrscheinlich hatte Gebhards Geist Gerold aus dem Verlies befreit, um seinen Tod zu rächen. Doch warum verstrich Tag um Tag, ohne dass er etwas von Gerold sah oder hörte?

      Er gelangte auf einen Pfad, der sich drei Meilen lang durch den Wald bis zum Grafenhof schlängelte. Er schlug seinem treuen Ross auf den Hals, auch heute hatte es ihm aufs Wort gehorcht und zum Erfolg der Jagd beigetragen. Er überlegte, dass diese Eigenschaft ein Pferd wesentlich von einem Weib unterschied. Ein Weib gehorchte nicht, es hatte nur seine eigenen Wünsche im Sinn, dies wusste er seit der Schmach, die Hildegard ihm zugefügt hatte. Nein, ein Weib vermisste er seither ganz und gar nicht. Er schob die mühseligen Gedanken von sich und genoss für den Rest des Weges seinen Jagderfolg.

      Plötzlich fiel sein Blick auf etwas Schimmerndes. Er zügelte den Hengst. Der Wald endete hier auf dieser Anhöhe, von der aus er seinen Machtsitz erspähen konnte. Er stieg ab und beugte sich, die Hände auf die Knie gestützt, zu dem schimmernden Ding hinunter. Es war ein Dolch. Während er ihn aufhob, erkannte er Spuren im Boden, die zurück in den Wald führten. „Siehst du die Spuren?“, fragte er Hroutland.

      „Ja, Herr. Sind schon etwas verwittert, wahrscheinlich ein, zwei Tage alt. Müssen mehrere gewesen sein, mindestens drei. Haben Holzschuhe getragen, ziemlich kleine, wahrscheinlich Frauen.“

      Wulfhardt kratzte sich mit dem Dolch hinter der Ohrmuschel. Was machten Frauen so nah an seinem Machtsitz mit einem Dolch? „Wir folgen den Spuren“, entschied er und stieg auf, die Pfunde verfluchend, die er den ausgiebigen Gelagen der letzten Monate verdankte.

      Mit jedem Schritt, den der Hengst durch den Wald trat, verfestigte sich ein Verdacht, und als er den Hengst zügelte, nickte er: Vor ihm, im vom Gießbach durchflossenen Tal, lag Heidenheim. Es wurde zum Gebet gerufen. Von Norden trotteten die Mönche vom Klosterhof aus Richtung Kirche, südlich der Kirche traten die verschleierten Jungfrauen aus dem Kloster, der Äbtissin folgend, aufgereiht wie Küken hinter der Henne. Wulfhardt bedeutete dem schmächtigsten Waffenknecht, seine Rüstung abzulegen und den Spuren nach Heidenheim zu folgen.

      Als dieser zurückkehrte, meldete er: „Die Spuren führen zum Nonnenkloster, Herr.“

      In Wulfhardt keimte der Wunsch auf, das Kloster niederzubrennen. Was suchten die Nonnen in der Nähe seines Machtsitzes? Warum hatten sie einen Dolch dabei? Am liebsten wäre er mit gezücktem Schwert in die Kirche gestürmt und hätte Walburga zur Rede gestellt. Doch Walburga stand nach dem Lichtwunder überall in hohem Ansehen, auch bei seinen Waffenknechten. Er kehrte um, darüber grübelnd, wie er Walburga zur Strecke bringen könnte.

      Zurück am Grafenhof wartete sein Haushofmeister Drogo mit einer Nachricht: „Herr, der Sohn des Kochs ist am Fieber gestorben.“ Drogo verkündete dies im gleichen Tonfall, mit dem er seinem Herrn mitteilte, einem Dorf zwei Wagenladungen Weizen weniger als im letzten Jahr abgepresst zu haben. Wulfhardt schätzte es, dass sein Haushofmeister sich nicht von Gefühlsduselei leiten ließ. Wer sich von Gefühlen leiten ließ, der machte Fehler − das wusste er nur zu gut seit der Schmach mit Hildegard. Deshalb war er überzeugt, dass Drogo ein guter Verwalter war. Trotzdem musste er ihn regelmäßig kontrollieren, denn er vertraute grundsätzlich niemandem. Denn wie jeder Mensch, so hatte auch Drogo Schwächen. In seinem Fall war dies sein zwölfjähriger Sohn − der einzige Mensch, der ihm etwas zu bedeuten schien. Er stand auch jetzt an seiner Seite und blickte ihn aus eng beieinanderliegenden Augen an. Wie bei seinem Vater schienen die Augen auf die Nasenspitze zu schielen.

      „Lass uns das im Großen Saal bereden“, brummte Wulfhardt. Er stapfte voran. Nach dem Brand hatte er ihn, getreu dem Vorbild des Vorgängerbaus, neu errichten lassen: Der an einer Querstange hängende Kessel über der Feuerstelle wurde durch die Dachöffnung hindurch von der Sonne beschienen. Die Plätze am Tisch, zu denen sich Wulfhardt, Drogo und dessen Sohn begaben, mussten jedoch von Öllampen erhellt werden. Wulfhardt setzte sich an die Stirnseite des Tisches. „Dem Müller, der mich bestohlen hat, lässt du die rechte Hand abhacken“, beschied er. „Diese Hand wird mich nicht mehr bestehlen.“

      „Ja, Herr.“ Drogo räusperte sich. „Heute Morgen kam Walburga hierher.“

      Wulfhardt fuhr hoch. „Was?“

      „Sie wollte die kranken Kinder sehen. Hat behauptet, dass sie ihnen helfen will. Ich habe sie fortgeschickt.“

      „Gut gemacht“, murmelte Wulfhardt, während er sich wieder setzte und dabei die Hände zu Fäusten ballte, um das leichte Zittern in seinen Fingern zu verbergen.

      Erst die Spuren im Wald, die zum Nonnenkloster führten, jetzt kam Walburga sogar am hellichten Tag zu seinem Machtsitz spaziert. Was führte sie immerzu hierher? Er spürte ein Drücken in den Eingeweiden. Walburga machte ihm Angst. Niemals hätte er es zugegeben, aber es war so. Jeder hatte beim Lichtwunder gesehen, dass sie in der Gunst des mächtigen Christengottes stand. Diese Frau hatte man besser nicht zur Feindin. Und sie hatte allen Grund, ihn zu verfluchen.

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