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Reh hat uns zu dir geführt.“

      Gerold lächelte. „Flocke“, murmelte er.

      Auch das Mädchen lächelte, dabei entblößte sie eine kleine Zahnlücke in der oberen Zahnreihe, zwischen Schneidezahn und erstem Eckzahn. Kleine Fältchen schwangen sich von der Nase zu den Enden ihrer Lippen. „Du kennst das Reh?“

      Gerold ärgerte es, sich verplappert zu haben. Die Fragen nervten. War nicht er es, der ein paar Antworten bekommen sollte?

      „Wo bin ich?“

      Die Nonne senkte den Blick, und eine feine Röte überzog ihre Pausbacken, als schäme sie sich für ihre Neugierde, die sie hatte vergessen lassen, sich vorzustellen. „Du weilst im Krankenlager des Klosters zu Heidenheim.“ Sie legte die linke Hand auf ihre Brust, während die rechte Hand auf seinem Arm verweilte. „Mein Name ist Michal. Das weiße Reh führte mich und meine Schwestern gestern zu dir, du lagst unter einem Baum am Waldrand. Der Knöchel im rechten Fuß ist gebrochen, wir umwickelten ihn mit Leinentüchern, die wir zuvor mit Eiweiß bestrichen haben. Das hält den Fuß fest, sodass der Knochen zusammenwächst. Sonst haben wir nur Abschürfungen und blaue Flecken gefunden.“

      Erleichterung durchströmte Gerold und nahm dem Schmied in seinem Kopf etwas von seiner Kraft. „Ich hatte Glück.“

      „Ja, Gott hat dir viele Seraphim zur Seite gestellt. Aber noch bist du nicht gesund.“

      Gerold starrte ins Leere. Er hatte das Fieber überlebt, dann den Überfall, jetzt den Sturz. Was hatte dieser Gott mit ihm vor?

      Michal hielt ihm den Becher Wasser hin. Mühsam hob er den Kopf, und sie stützte ihn mit ihrer Hand. Er nippte am Becher, bekam plötzlich Durst und trank den Becher aus. Zufrieden seufzend ließ er den Kopf zurücksinken. Das Wasser floss die Kehle hinunter, frische Kraft durchströmte den Körper.

      „Mein Name ist Gerold“, verriet er nun und wunderte sich, dass Walburga, die ihn einst geheilt hatte, seinen Namen noch nicht den Nonnen verraten hatte. „Ich bin …“

      Die Tür schwang auf. Herein trat ein Mann, der über der Tunika die Kukulle der Mönche trug. Unter seiner Halbglatze sprangen die Augenbrauen weit vor, sodass die Augen in deren Schatten verschwanden. Michal ließ beinahe den Becher fallen, hastig stellte sie ihn ab.

      „Was geht hier vor?“, donnerte der Mönch mit tiefer Stimme. „Im Namen Gottes, ein Weib!“ Ein Wortschwall ergoss sich, den Gerold mit seinem fragmentarischen Lateinwortschatz nicht verstand. Mit jedem Wort sank die kleine Nonne noch tiefer vor dem hochaufgeschossenen Mönch zusammen. Nur einmal entgegnete sie etwas in leisen Worten, doch der Mönch fiel ihr rüde ins Wort, fuhr den langen Arm aus und wies mit dem Zeigefinger zur Tür. Ihr Blick huschte zu Gerold, dann drehte sie auf der Ferse um und stob hinaus. Der Mönch folgte ihr wie ein böser Schatten.

      Gerold streichelte mit der linken Hand seinen rechten Arm, genau jene Stelle, auf der ihre Hand gelegen hatte.

      Goumerads tiefe, donnernde Stimme füllte die Kirche aus, als er Michal vor ihren Mitschwestern anklagte: „Es war Äbtissin Walburga selbst, die einst die Anordnung traf, dass Nonnen nur unter ihrer persönlichen Aufsicht die Erlaubnis zur Versorgung der Patienten erhalten. Doch findet sie damit bei ihren Untergebenen kein Gehör, ja sie verhöhnen die Autorität der Äbtissin, setzte sich doch die Nonne Hugeburc in geradezu unverfrorener Art und Weise über ihr Gebot hinweg: Allein stürmte sie in die Krankenstube, getrieben von niederen Gelüsten.“ Goumerads Blick brannte auf Michal, er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

      Dem Blick ausweichend, fragte sich Michal, was Goumerad mit „niederen Gelüsten“ meinte.

      „Dieses infame Verhalten erfordert dringlich die unnachgiebige Ahndung mit harter Hand, alles andere würde die Autorität der Äbtissin noch weiter sinken lassen. So denn: Die Regel des heiligen Benedikts sieht vor, die Schwester, auf der eine schwere Schuld lastet, von Tisch und Oratorium auszuschließen. Jedoch bestimmt sie auch, Schwestern, denen es an Einsicht mangelt, seien anstelle der Ausschließung mit Rutenschlägen zu bestrafen. Diese Bestimmung muss hier Anwendung finden. Denn nicht nur die nassforsche Art und Weise der Tat beweist den Mangel an Einsicht, nein, auch das geringe Alter der Fehlgeleiteten lässt auf ihre Unreife schließen.“

      Michal schnappte nach Luft. Rutenschläge! Sie erinnerte sich ans Kloster Wimborne und an die Schreie der Knaben von jenseits der Mauer, die dort die Rute bekommen hatten. Sie schloss die Augen, leise betete sie: „Vater, willst du, so nimm diesen Kelch von mir; doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe!“

      Als sie die Augen aufschlug, blickte sie von der Büßerbank, die hinter der Holzschranke stand, hinauf zum Altar, wo sich Goumerad zu voller Größe aufgerichtet hatte, hinter sich das Altarkreuz. Seine Worte schienen immer noch von den Kirchenwänden widerzuhallen und sich mit dem beständigen Plätschern des Regens zu vermischen, das durch die Fenster drang: im Norden und Süden durch jeweils drei Fenster in der oberen Hälfte des Langhauses, im Westen durch das rechteckige Fenster über dem Portal, im Osten schließlich durch die zwei runden Öffnungen am östlichen Ende des Langhauses, bevor es sich zum Chor hin öffnete, wo sich ein weiteres rechteckiges Fenster in die Mauer fügte. Hilfesuchend sah Michal hinüber zur Sitzbank, die auf der gegenüberliegenden Seite des Langhauses für Walburga und die anderen sieben Nonnen aufgestellt worden war. Walburga starrte auf den Altar, den Rücken durchgedrückt, Aebbe bewarf Goumerad mit wütenden Blicken, und es schien, als warte hinter ihren Lippen ein reißender Strom von Wörtern, den sie nur zurückhalten konnte, indem sie die Lippen fest zusammenpresste.

      Michal fühlte sich ausgestoßen. Sie hatte dem Knaben aus dem Wald doch nur helfen wollen mit ihrem Gebet! Trotzdem hätte sie sich nicht allein in das Krankenlager schleichen dürfen. Kein einziges Mal seit ihrem Besuch am Krankenbett vor sechs Tagen hatte sie Walburga in die Augen sehen können. Sie wollte jede Strafe fügsam auf sich nehmen, auf dass sie durch ihre läuternde Kraft von jeder Schuld gereinigt würde. Gleichwohl hoffte sie, von einer allzu harten Strafe verschont zu bleiben. Der Herr und Walburga, die in seinem Namen das Urteil sprechen würde, mussten doch ihre aufrichtige Buße in den vergangenen sechs Tagen mit Wohlgefallen betrachten: Sie hatte in Demut geschwiegen, an zwei Tagen hatte sie zudem auf jede Mahlzeit verzichtet.

      Goumerads Miene verbarg sich im düsteren Licht des Chors, jetzt fuhr er zuerst den rechten Arm, anschließend den rechten Zeigefinger in ihre Richtung aus. „Fürwahr, fürwahr, die Dämonen der heidnischen Götter spuken noch immer unter uns, von dieser Nonne haben sie Besitz ergriffen! Gegen die Dämonen ist unsere Äbtissin seither nur mit halber Kraft vorgegangen, doch das werde ich nicht länger dulden: Ich werde, um die Dämonen endgültig zu vertreiben, das Aufstellen von Holzkreuzen veranlassen, überall dort, wo früher die Heiden die Fratzen ihrer Dämonen eingeritzt haben. Dort, wo bereits Holzkreuze stehen, wie in der Kapelle neben dem Wynnebaldsbrunnen oder hier, nur wenige Schritte zu meiner Linken, werde ich die Ersetzung durch doppelt so große Kreuze anordnen.“ Er zeigte auf die Stellen neben den Altar, auf der weiße Fliesen der verfallenen Römervilla zu sehen waren. Auf einer dieser Fliesen hatten die Heiden einen Dämon eingemeißelt, den einst Wynnebald mit einem Holzkreuz versucht hatte zu bannen.

      Aebbe sprang auf, das Kinn nach vorne geschoben. „Ihr seid nicht der Abt! Ihr könnt gar nichts anordnen!“

      Goumerad schnappte nach Luft.

      „Gebt doch zu“, setzte Aebbe nach, „Ihr habt es nicht verwunden, dass Wynnebald seiner Schwester das Kloster vermachte und nicht Euch!“

      Walburga schritt ein: „Mäßigt Euch, Schwester Aebbe. Ich befürworte den Vorschlag des Priors und beauftrage ihn mit der Umsetzung.“ Sie nickte Goumerad zu. „Fahrt fort.“

      Goumerad, die Arme vor der Brust verschränkt, die Hände in den weiten Ärmeln der Tunika vergraben, schien nicht zufrieden, obwohl Walburga seinen Vorschlag angenommen hatte. Wahrscheinlich, weil Aebbe mit ihrem Vorwurf die bittere Wahrheit gesprochen und obendrein Walburga ihm durch die Beauftragung der Umsetzung vor Augen geführt hatte, dass sie es war, die das Kloster führte. Er fuhr die Arme wieder aus, zeigte auf Aebbe und sagte, hier zeige sich, dass das Weib das Einfallstor des Teufels sei, und zwar seit Eva den Sündenfall verschuldet habe. Was

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