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Als er ihn absetzte, fühlte er sich besser. „Und die anderen Kinder sind noch krank?“

      „Ja, Herr.“

      „Hm“, brummte Wulfhardt. Seit einigen Wochen griff die Krankheit um sich. Kinder bekamen Bauchfluss mit Blut und Schleim, gefolgt von Fieber und Bauchschmerzen. Bisher hatte er sich darüber nicht den Kopf zerbrochen. Kinder wurden nun mal oft krank und starben. Doch wenn nun ein Kind an dieser Krankheit gestorben war, konnten bald weitere Kinder folgen. Und dies, gewahrte er jetzt, könnte sich zu einem Problem für ihn auswachsen: Die Menschen würden munkeln, dass es so etwas früher in der Grafschaft nicht gegeben habe, geschweige denn am Machtsitz des Grafen. Er sog die Luft durch die Nasenlöcher ein und vernahm den Geruch der Urinbottiche, die hinter dem Großen Saal standen, gut gefüllt von den Zechern der letzten Tage. Er setzte den Trinkpokal an die Lippen und stellte ihn erst nach drei tiefen Zügen wieder ab. Was ist jetzt anders als früher am Grafenhof?, überlegte er. Ihm fiel nichts ein. Nein, die Krankheit musste durch Mächte verbreitet worden sein, die er nicht bemerkte. Mächte, über die Walburga verfügte.

      Wulfhardt kramte den Dolch hervor, den er im Wald gefunden hatte, und bohrte die Spitze der Klinge vor sich in den Tisch. Seit er das Licht im Nonnenkloster gesehen hatte, wusste er um die Macht des Christengottes. Seitdem hatte er vieles getan, um die Gunst dieses Gottes zu erlangen: Zweimal am Tag zelebrierte er die Heilige Messe, für den Altar in der Kapelle des Grafenhofs hatte er einen goldenen Kelch aus einem Römergrab gestiftet. Er zog den Dolch aus dem Tisch, hob den Arm über die Schulter und warf den Dolch hinunter. Er drehte sich einmal in der Luft, dann schlug die Spitze im Tisch ein. Zürnte ihm der Christengott immer noch? Oder hatte Walburga die Krankheit heraufbeschworen mit ihren Zauberkräften? Er legte die Hand um den Dolchgriff, als er die Gravur auf der Klinge bemerkte: ein Eber.

      Das Zeichen der Grafenfamilie!

      Wulfhardts Hand zuckte vom Dolch weg, als hätte er an glühendes Eisen gefasst. Ein Schrei entfuhr ihm, er sprang auf.

      Gerold!

      Der Dolch konnte nur von Gerold sein!

      „Herr?“ Drogos Stimme schien aus weiter Ferne an seine Ohren zu dringen. „Geht es Euch nicht gut?“

      „Nein, nein“, stammelte Wulfhardt, die Hände um das Kreuz seiner Halskette gekrallt, als wollte er es mit bloßen Händen zermalmen. Er sank auf den Stuhl und blickte über den Dolch hinweg.

      Er wusste nicht, wie lange er da gesessen hatte, bis Drogos Räuspern ihn aus der Erstarrung riss.

      Wulfhardt fragte: „Starb der Sohn des Kochs nach ihrem Besuch?“

      „Ja, Herr.“

      „Dachte ich mir.“ Er nickte, seine eigene Stimme erschien ihm fremd. „Es fügt sich alles zusammen. Gerold, er steckt mit den Nonnen unter einer Decke. Sie waren es, die ihn aus dem Verlies befreiten. Und Walburga hat im Namen des Christengottes die Krankheit heraufbeschworen. Sie will mir schaden, um Gerold auf den Grafenthron zu helfen. Deshalb kommt sie an meinen Machtsitz: So wirkt ihr verderblicher Zauber am besten. Darum ist kurz nach ihrem Besuch der Sohn des Kochs gestorben.“

      Eine Hitzewelle stieg ihm von den Gedärmen bis zur Kehle. Gerold! Dieser Angeber! Schon als Kind hatte er in allem der Beste sein wollen, wie sein Vater. Ausgerechnet an der Seite der wundertätigen Walburga!

      „Drogo!“, rief Wulfhardt. Seine Stimme klang gefestigter, als er sich fühlte. „Instruiere Goumerad: Er soll nach einem jungen Mann Ausschau halten, der sich in Heidenheim versteckt. Er erkennt ihn an einer blonden Strähne inmitten seiner braunen Haare.“

      „Ja, Herr.“ Drogo und sein Sohn erhoben sich zeitgleich.

      Wulfhardt griff zum Beutel mit den Eibennadeln an seinem Gürtel. Am liebsten hätte er jetzt gleich Gerold das Gift eingeflößt und zugesehen, wie er mit gelähmten Gliedern und vom Brechreiz gepeinigt das Leben aushauchte.

      Alles fühlte sich bleischwer an, als Gerold erwachte: die Beine, die Arme, die Augenlider. In seinem Kopf hämmerte ein Schmied und verwendete dabei die Schädeldecke als Amboss. Er fürchtete, der Schmied würde stärker hämmern, wenn er die Augen öffnete, also hielt er sie geschlossen. Irgendetwas Feuchtes umwickelte seinen Fuß.

      Gerold versuchte, sich zu erinnern − und sah Wulfhardt: wie er in den Grafenhof einritt, in den Händen die goldene Lanze des Grafen. Danach wusste er nichts mehr. War er vom Baum gefallen, von dem aus er Wulfhardt beobachtet hatte? Wahrscheinlich. Danach hatte jemand seinen Fuß behandelt. Aber wer? Wo war er? Die einzig mögliche Antwort raubte ihm die Luft zum Atmen: am Grafenhof.

      Gerold hörte einen Riegel, der zur Seite geschoben wurde, und eine Tür öffnete sich. Er hielt die Augen geschlossen und versuchte, trotz seines rasenden Herzschlags ruhig und gleichmäßig zu atmen.

      Schritte näherten sich.

      Er war wehrlos − wie beim Überfall.

      Die Schritte verstummten neben ihm. Eine Mädchenstimme erhob sich. Sie murmelte in der Kirchensprache, wiederholte stets die gleiche Formel, abgeschlossen mit einem „Amen“, wie einst Walburga während seines Fiebers neben dem Bett. Doch es war nicht Walburgas Stimme, diese Stimme klang wie die seiner Schwester.

      Gerold nahm sich vor, nur zu blinzeln. So, dass sie es nicht bemerkte. Er hob das schwere, rechte Augenlid. Was er sah, ließ ihn auch das linke Auge aufreißen.

      Seine Schwester! Sie stand neben ihm.

      Die kindlichen Pausbacken. Und die vollen Lippen, darunter eine Einkerbung.

      Alle Schmerzen verschwanden. Alles − vom Überfall bis zum Sturz vom Baum – war nur ein böser Traum.

      „Schwesterherz“, sagte er und lächelte.

      Da bemerkte er den schwarzen Schleier, der die hohe Stirn zur Hälfte bedeckte und von dort zu den Schultern herabfiel, wo er in einem weißen Rand endete; unter dem Schleier umschloss eine weiße Haube Hals und Ohren. Eine Tunika aus grobem Wollstoff wurde an den Hüften von einem Gürtel umschlossen, an ihm hing ein Wachstäfelchen mit Griffel.

      Seine Schwester konnte nicht schreiben. Und sie trug keinen Schleier. Außerdem ragte ihr Philtrum nicht so weit in die Oberlippe hinein wie bei diesem Mädchen; auch meinte er jetzt, dass sie einige Jahre älter sein musste als seine Schwester.

      Alles krampfte sich in ihm zusammen. Ohne es zu wollen, entfuhr ihm ein Schrei, mit der rechten Faust schlug er neben sich auf das Strohbett. Schmerz zuckte durch die rechte Seite, der Schmied im Kopf hämmerte kräftiger.

      Sie hielt ihm eine Schale Wasser unter den Mund.

      Er drehte sich weg.

      Sie umgriff seinen rechten Arm und sagte etwas, doch es dauerte, bis ihre Worte zu ihm drangen. „… Name?“, verstand er.

      Er schwieg. Er konnte seinen Namen nicht preisgeben, ohne zu verraten, dass er der Sohn des Grafen ist. Und wenn das Wulfhardt zu Ohren bekäme …

      „Woher kommst du?“, fragte die Nonne weiter. Ihr Akzent erinnerte an Walburga. Am Grafenhof sprach niemand so. War er doch nicht am Grafenhof? Oder waren die Nonnen aus Heidenheim an den Grafenhof gekommen? Aber Wulfhardt betrachtete sie, die Vertreter der römischen Kirche, doch als Feinde! Er ließ den Blick durch den Raum kreisen. Neben seinem Bett standen zwei weitere Betten, in einem davon döste ein Mann, dessen graue Haare eine Tonsur formten. Über den Betten fiel ein wenig Licht durch schmale Fenster in den kleinen Raum. Er kannte diesen Raum nicht. Vielleicht hatte Wulfhardt ihn nach dem Brand errichtet, denn er schien neu zu sein: Der frische Geruch nach Eichenholz erinnerte ihn an den Wald, die Blockbohlen waren noch hell, in keiner Ecke entdeckte er Spinnweben, kein Staubkorn bedeckte sein Laken.

      Wieder fragte die Nonne: „Aus welchem Dorf kommst du?“

      „Aus dem Wald.“

      Forschend blickte ihn die Nonne aus großen, graugrünen Augen an. „Zu welcher Familie gehörst du?“

      Gerold dachte an seine toten Eltern und an seine tote Schwester. Er hatte keine Familie. Außer Wulfhardt. Er wünschte

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