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seine Finger und Zehen froren ein, Blätter legten sich auf ihn wie auf sterbende Maiglöckchen und Farne, begleitet vom dumpfen Ruf des Uhus.

      Woche um Woche wurden die Nächte kälter.

      Eines Tages kam der Hunger. Viel zu lange hatte er sich nicht ums Essen gekümmert, hatte nur hier und da eine Beere gepflückt oder eine am Boden liegende Nuss aufgelesen. Doch jetzt, mit einem Mal, fühlte er sich schwach wie nach einem Fieber. Er durchpflügte das Unterholz und stopfte alles Essbare in sich hinein. Schließlich erlegte er einen Keiler mit seiner Franziska. Sein Fleisch stillte Gerolds Hunger.

      Je kürzer die Tage wurden, umso mehr Blätter verloren die Bäume. Er wusste, dass er den Tod seiner Familie rächen musste, dass er um seine Grafschaft kämpfen musste. Doch allein der Gedanke daran ließ die schaurigen Bilder vom Überfall wieder in ihm aufsteigen. Er war unfähig, an seine Pflichten zu denken. Vor jeder Siedlung schreckte Gerold zurück, der Wald hielt ihn gefangen. Er konnte hier leben, denn er hatte früher viele Tage im Wald verbracht, hatte Hunger ertragen und Kälte getrotzt. Ein Griff an sein Wehrgehänge verriet ihm, dass er alles hatte, was er hier brauchte: Schwert und Dolch steckten in den Scheiden, die Franziska in der Schlaufe. Die Franziska hatte er einst von der Wand des Großen Saales geschnappt, wo sie als Erinnerungsstück gehangen hatte. Obwohl Vater ihm hatte ausreden wollen, mit dieser altmodischen Waffe umzugehen, hatte er tagaus, tagein geübt. Als er mit ihr aus zwanzig Schritten einen Ast vom Baum hatte schlagen können, war auch Vater beeindruckt gewesen.

      Irgendwann begann die Einsamkeit ihn zu quälen. Er legte die Wange an die Rinde einer Eiche. Die Rinde war rau und kalt, doch meinte er, auch Wärme zu spüren, die aus dem Inneren des Stammes nach außen drang. Er umarmte den Stamm und erzählte der Eiche von seiner Schwester: wie er sie gefüttert hatte, wie er ihr die ersten Schritte beigebracht hatte, wie sie seine größte Bewunderin gewesen war, wenn er sich in einem Zweikampf geschlagen hatte. Der Eiche schienen seine Worte egal zu sein. Eine Böe rauschte durch ihre Krone und riss gelbe Blätter von den Ästen. Sie rieselten auf ihn herab, begleitet von der immer gleichen Melodie eines Waldlaubsängers. Langsam setzten die hohen, spitzen Töne ein. Sie verschnellerten sich rasch, um dann wieder abzufallen.

      Plötzlich sprang das weiße Reh an ihm vorbei. Fast gleichzeitig berührten seine Vorder- und Hinterläufe den Boden, mit einem Sprung schaffte es vier Schritte.

      Ein Wolf jagte ihm hinterher.

      Gerold nahm die Verfolgung auf, zog die Franziska aus der Schlaufe und schleuderte sie. Am Abend briet Gerold Wolfsfleisch über seinem Feuer.

      Von nun an folgte das weiße Reh − dem er den Namen „Flocke“ gab − seinen Spuren durch den Wald, wahrscheinlich fühlte es sich sicherer in seiner Nähe. Und abends, wenn Gerold sich am Stamm einer Buche niederlegte, rollte es sich neben ihm ein, und er erzählte Flocke von früher.

      Er erzählte von den Honigplätzchen, die er oft aus der Küche des Grafenhofes stibitzt hatte. Und er erzählte von der Tafel am Abend im Großen Saal, dem Höhepunkt eines jeden Tages. Er hatte an der Stirnseite zwischen seinen Eltern sitzen dürfen, nachdem Mutter ihm den Schmutz aus dem Gesicht gewischt hatte. Eines Abends, als er noch keine zehn Jahre gezählt hatte, war ein fahrender Sänger zu Gast gewesen. Er hatte, begleitet von einer Fidel, das Epos von den Nibelungen vorgetragen, eine Geschichte aus alter Zeit. Viele Abende hatte Gerold an seinen Lippen gehangen, sich jedes Wort gemerkt und bald selbst Geschichten erfunden, natürlich mit sich selbst in der Rolle des Helden, der nie einen Kampf verlor, die Schwachen beschützte − und Adelheids Herz eroberte.

      Auf dem Pfad zu ihrem Herzen war er damals tatsächlich weit vorangeschritten: Er pflückte den süß duftenden Goldwurz, verzierte ihn mit einigen Kuckucksblumen und umband sie mit einer roten Schleife. Des Nachts schlich er zu ihrer Kammer, überreichte ihr den Strauß und gestand sogleich, sie habe die schönsten Augen, in die er jemals geblickt habe. Ihre Wangen färbten sich rot, sie hielt die Hand vor den Mund und kicherte. Obgleich sie nur „danke“ hauchte und die Tür verschloss, wähnte Gerold den Augenblick nicht mehr fern, an dem sie ihm die Gunst eines Kusses gewähren würde.

      Doch ein Tag hatte alles geändert.

      Wulfhardt hatte alles geändert.

      Gerold sprang auf. Längst war die Sonne untergegangen, der Buchenstamm vor ihm nur ein Schatten. Er schrie den Stamm an: „Warum meine Familie?“

      Flocke sprang auf und davon.

      Kurz vor Wulfhardts Überfall war Gerold selbst sterbenskrank darniedergelegen. Hat Walburga ihn nur geheilt, damit er das miterlebte? Er hackte mit der Franziska in den Stamm, immer wieder. Alle Strafen, die ihm in den Sinn kamen, beschwor er auf Wulfhardt herab, bis sein Arm schmerzte. Keuchend ließ er sich nieder.

      Wulfhardt.

      Fast nichts wusste er über ihn, obwohl er am Grafenhof gewohnt und an der Abendtafel wenige Stühle von ihm entfernt gegessen hatte. Ab und an hatte er sich am Tischgespräch beteiligt, doch an kein einziges seiner Worte konnte er sich erinnern. Wahrscheinlich, so erkannte Gerold, hatte er ihn einfach nicht beachtet. Schon jener missmutige Gesichtsausdruck, mit dem er für gewöhnlich über den Grafenhof gestiefelt war, hatte ihn abgestoßen. Wie viel schöner da die Erinnerungen waren an Vater, an die liebe Mutter, an seine wunderbare Schwester, an die schöne Adelheid, ja selbst an den Priester, der ihm mit viel Geduld die Kirchensprache beigebracht hatte. Mit jedem anderen Knecht am Grafenhof hatte er seine Zeit lieber verbracht als mit Wulfhardt.

      Was hatte Wulfhardt dazu getrieben, seine Familie zu morden? Ja, da waren die Stockschläge nach einer Schlacht gegen die Baiern gewesen, ein alter Waffenknecht hatte ihm davon berichtet: Es war Wulfhardts erste Schlacht gewesen, und deshalb hatte ihm sein Vater befohlen, sich am Rande zu halten. Doch übereifrig hatte Wulfhardt sich ins Getümmel geworfen und alsbald von feindlichen Kämpfern umringt gesehen. Schließlich hatte ihn sein Bruder − Gerolds Vater − aus höchster Not gerettet. Vielleicht trug er seitdem Groll in sich? Er musste ein guter Mime sein, dass er den Hass all die Jahre vor seinem Bruder verborgen gehalten hatte, während es in ihm gebrodelt hatte wie in einem Kessel, randvoll gefüllt mit siedend heißem Wasser. Nur einmal war diesem Kessel heißer Wasserdampf entwichen − es war wenige Tage vor dem Überfall gewesen: Nach Gerolds Heilung durch Walburga hatte Graf Gebhard in seiner Grafschaft die Oberhoheit des Papstes anerkennen wollen. Dies hatte Wulfhardt abgelehnt, vor allem, weil er von seinen Pfründen nichts nach Rom abgeben wollte. Bei einem Abendgelage hatten sich die Brüder über diese Angelegenheit ereifert, bis Wulfhardt mit gotteslästerlichen Flüchen auf den Lippen aus dem Saal gestürmt war. Zwei Tage später hatte er den Grafenhof verlassen, um, wie er behauptet hatte, Pfarreien in der Grafschaft zu besuchen. Mit bewaffneten Reitern war er zurückgekehrt.

      Als Schnee den Waldboden bestäubte, fand Gerold eine Höhle. Genauer: Flocke fand sie. Das Reh ging hinter ein Gebüsch und verschwand plötzlich, hatte sich durch den Spalt eines mit Moos bewachsenen Felsens in die Höhle gezwängt, ein niedriges Gewölbe, in dem Gerold nur gebückt gehen konnte. Aber hier war es warm, wenn er ein Feuer schürte, während draußen die jungen Fichten unter Schneebergen verschwanden und in den Bächen Eisplatten trieben. Nur zum Wasserholen und zum Wasserlassen ging er hinaus.

      Dann, gegen Ende des überlangen Winters, kam der Hunger. Das Wolfs- und Eberfleisch war aufgebraucht, die Beeren sowieso, und unter dem Schnee fand er nichts Essbares mehr. Immer weiter trieb es ihn von der Höhle weg auf der Suche nach Beute. Nur einmal hatte er Glück: Eine Spur im Schnee führte ihn und seine Franziska zu einem Hasen. Doch von seinem Fleisch konnte er nur einige Tage zehren. Rastlos streunte er durch den Wald, es fiel immer mehr Schnee, das Wild schien sich vor ihm verkrochen zu haben.

      Gerold merkte: Er hatte seine Kräfte überschätzt. Und er hatte vergessen, ausreichend Vorräte für den Winter anzulegen.

      Er trottete zu seinem liebsten Ort im Wald: Aus sieben Quellen, die in einem Halbkreis angeordnet waren, sprudelte Wasser aus dem Waldboden hervor und sammelte sich in einem Teich, der selbst jetzt, im tiefsten Winter, nicht zufror. Er sah in verschneite Baumkronen, neben sich entdeckte er einen Abdruck im Schnee. Er stemmte die Hände auf die Knie und sah genauer hin: Neuschnee hatte die einst tiefen Spuren fast verdeckt, doch es waren eindeutig Spuren von riesigen Pfoten. Gerold starrte

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