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blieb hier in seinem Revier, er musste nur auf ihn warten.

      Der Schnee schmolz, und Leberblümchen kündigten den Frühling an, bis es eines Morgens passierte: frische Spuren! Während Gerold sich, vom Hunger gepeinigt, in der Höhle hin- und hergewälzt hatte, war der Bär um die Höhle gestreunt. Er griff den Speer, den er aus Buchenholz geschnitzt hatte, steckte die Franziska, Schwert und Dolch in das Wehrgehänge und folgte den tiefen Spuren, bis er eine Lichtung erreichte, wo der Bär die Rinde vom Stamm einer Eiche kratzte.

      Der Frühnebel stieg vom feuchten Boden auf und verfing sich in den Baumkronen. Die ersten Sonnenstrahlen, die auf der Lichtung durch den Nebel drangen, ließen den Frühling erahnen. Gerold legte die Handkante an die Stirn: Der Bär hatte braunes Fell, der Rücken war breit wie ein Heuwagen.

      Dafür ist er nicht so wendig, redete Gerold sich ein. Er musste sich nur an ihn heranschleichen. Wie um ihn zur Eile zu drängen, grummelte sein Magen.

      Er brauchte das Bärenfleisch. Jetzt.

      Er setzte Fuß vor Fuß. Jetzt nur nicht auf einen Ast treten.

      Er stand zehn Schritte hinter ihm, da stellte der Bär die halbrunden Ohren auf. Schwerfällig tapste er auf mächtigen Pranken zu ihm herum, schnaubte, eine weiße Atemwolke dampfte aus dem Maul, er fixierte Gerold mit schwarzen Äuglein.

      Ein eisiger Finger legte sich auf Gerolds Halswirbel, wie damals, mit vierzehn Jahren, als er seinen ersten Auerochsen erlegt hatte. Und doch war jetzt alles anders: Heute kämpfte er ums Überleben, damals hatte er Ansehen errungen, zur Belohnung das erste Schwert aus den Händen seines Vaters erhalten.

      Sie standen sich gegenüber, keiner bewegte sich. Der Bär legte die Ohren zurück, er zog die Lefzen hoch, die Eckzähne funkelten Gerold entgegen. Ein Muskelberg türmte sich auf den Schultern. Gerolds leerer Magen gab das Signal zum Angriff: Er schleuderte die Franziska. Im letzten Augenblick zuckte der Kopf des Bären aus der Flugbahn, das Beil grub sich hinter ihm in den Waldboden, der Bär stieß wütendes Gebrüll aus.

      Gerold sprang auf ihn zu, den Speer voran.

      Der Bär stellte sich auf die Hinterbeine, er knurrte tief und zeigte ihm die fingerlangen Krallen, die aus den behaarten Ballen hervorblitzten. Er überragte Gerold um mehrere Köpfe, doch für die Flucht war es zu spät. Gerold flog auf ihn zu. Er zielte mit der Speerspitze nach oben, er musste den Bären in die Gurgel treffen.

      Mit den Vorderpranken schlug der Bär den Speer weg, als würde eine lästige Fliege vor seinem Gesicht schwirren.

      Die Wucht warf Gerold auf den feuchten Boden, er rollte zur Seite, überall klebten feuchte Blätter am löchrigen Hemd, das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er rappelte sich auf, schützend hielt er den Speer vor das Gesicht.

      Wer war der Jäger, wer der Gejagte?

      Der Bär stürmte, nein, er rollte auf Gerold zu wie ein riesiges Gebirge. Die Zähne zielten auf seinen Hals.

      Im letzten Augenblick sprang Gerold zur Seite, der Bär stürmte ins Leere. Mit einem Satz stand Gerold hinter ihm und rammte den Speer in das zottelige Fell auf dem Rücken.

      Der Bär brüllte, riss sich los und rannte davon. Gerold blieb zurück, in der Hand den Speer, besudelt mit Bärenblut. Er verfolgte den Bären, der Waldboden raste unter ihm hinweg, Baumwurzeln brachen aus ihm heraus. Sein ausgemergelter Körper ächzte, Schweiß tropfte ihm von der Stirn, dann – endlich – wurden die Schritte des Bären träger. Die Vorderpranken knickten ein, das Blut quoll aus dem Rücken, rann an der Seite hinab, tropfte auf den Boden.

      Vorsicht, dachte Gerold. So sind sie am gefährlichsten!

      Mit seinen letzten Bärenkräften stürzte sich das Tier auf Gerold.

      Gerold sprang weg, der Bär schlug mit den Tatzen nach ihm. Gerold spürte den Windhauch im Gesicht. Blind stach er mit dem Speer zur Seite, er hatte Glück: Wieder bohrte er sich ins Bärenfleisch, wieder brüllte der Bär, dieses Mal brachte er die Äste zum Zittern. Dann wurde das Brüllen zu einem Röcheln, er fiel auf die Seite. Ein letzter Stich in die Gurgel, und seine Zuckungen erstarben.

      Gerold ließ sich auf den Waldboden sinken, langsam beruhigte sich sein Atem.

      Mit seinen letzten Kräften zog er den Bär zur Höhle, schürte ein Feuer, schnitt mit dem Dolch ein mächtiges Stück von der Schulter ab, briet es und schlang es herunter. Er schlief. Als er aufwachte, fühlte er sich wie neugeboren. „Ich habe einen Bären erlegt!“, rief er, zwischen den Baumstämmen tanzend. „Ich habe ihn besiegt! Einen Bären, groß wie zwei Ochsen!“

      Er schlenderte durch den Wald zu seinem Lieblingsplatz: Vor ihm gluckerte das Wasser von sieben Quellen aus dem Waldboden hervor und floss zu dem in der Sonne glitzernden Teich zusammen. Von dort strudelte es leise plätschernd den Hang hinab, bis es hinter einer Biegung verschwand. Über ihm zwitscherte ein Buchfink.

      Gerold trat an den Teich, sodass er sein Gesicht darin sehen konnte. Die blonde Strähne strahlte wie eh und je zwischen seinen braunen Haaren hervor, doch das Gesicht darunter hatte sich verändert in den letzten Monaten: Hager war es geworden, und ernster. Vielleicht trauriger. Der Überfall hatte ihn verändert. Seither hatte er nur Trauer, Wut und Verzweiflung gespürt. Und Hoffnungslosigkeit. Und Angst. Doch jetzt, mit gefülltem Magen, der Euphorie über seinen Sieg gegen den Bären in den Gliedern und den Sonnenstrahlen auf der Haut − da keimte in ihm zum ersten Mal wieder Hoffnung auf. Zum ersten Mal seit dem Überfall schlich sich der Gedanke in seinen Kopf, dass es wieder werden könnte wie früher. Dass er nicht machtlos war, sondern stark. Konnte jemand, der einen Bären erlegte, es nicht mit jedem aufnehmen?

      Gerold starrte auf sein Ebenbild im Teich, doch vor seinem inneren Auge lief der Überfall ab: der Pfeil in der Brust seines Vaters, der Reiter hinter seiner Schwester, seine Machtlosigkeit im Verlies. Bisher hatten diese Erinnerungen ihn traurig und wütend werden lassen, jetzt spornten sie ihn an. Entschlossen verjagte er die Erinnerungen und krallte die Hand fest um den Griff der Franziska. Er würde seine Familie rächen, würde den Mörder seiner Familie zur Strecke bringen. Und er würde Graf sein, wie es seine Bestimmung war. Noch heute würde er das Werk beginnen, nahm er sich vor. Er würde an den Grafenhof zurückkehren. Er hielt inne. Nein, unmöglich! Allein der Gedanke an eine Rückkehr zum Grafenhof ließ sein Herz vor Panik schneller schlagen.

      Ein Glitzern an seinem Finger lenkte den Blick auf den Siegelring, den einst sein Vater getragen hatte. Er fragte sich, was Vater sagen würde, sähe er ihn jetzt. Wie er sich seit einem halben Jahr im Wald versteckte. Würden seine Augen immer noch voller Stolz auf ihm ruhen? Er hielt den Siegelring in die Sonne. Nein, er konnte sich nicht länger verstecken. Er musste sein Erbe einfordern. Das wäre Vaters Wille.

      Er zog den Dolch aus der Scheide und wanderte, gemächlich einen Fuß vor den anderen setzend, zum Waldrand, auf den Grafenhof zu, vor dem er in den letzten Monaten immer geflohen war. War der Grafenhof noch verwaist, nachdem alle Bewohner ermordet worden waren? Oder waren wieder Menschen in die Wirtschaftsgebäude eingezogen, vielleicht sogar in das Wohnhaus der Grafenfamilie? Auf einer Anhöhe endete der Wald, mit dem Rücken zum Grafenhof lehnte er sich gegen den Stamm einer Birke, das Herz raste. Flocke trabte heran.

      „Soll ich es tun?“, fragte Gerold ihn.

      Der Wind trug aufgeregte Stimmen vom Grafenhof zu ihm herauf.

      Flocke entdeckte ein Hexenkraut und trabte dorthin.

      Tief schnaufte Gerold durch. Er klemmte den Dolch zwischen die Zähne, fasste den Birkenast über sich und zog sich hoch, dann weiter zum nächsten Ast und wieder zum nächsten, bis er sich, zehn Schritte über dem Boden, setzte. Sich mit beiden Händen an den Ast klammernd, drehte er die Augen zum Grafenhof. Auf einem schwarzen Pferd ritt ein Mann hinein. Er trug einen schwarzen Mantel, der von einer goldenen Spange geschlossen wurde. Die Waffenknechte und Bediensteten verneigten sich vor ihm.

      Vor ihm wurde die goldene Lanze des Grafen hergetragen.

      Wulfhardt!

      Für einen Augenblick wich jede Spannung aus Gerolds Muskeln, der Dolch rutschte aus dem Mund, die Hände lösten sich vom Ast. Hastig versuchte

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