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       Süßes Erwachen

      4. KAPITEL

      Gestern war Michal bereits mit ihren Mädchen in den Wald gezogen. Sie hatte mithilfe eines Steins einen kurzen, angespitzten Stecken schräg von unten in die weiße Birkenrinde geschlagen. Sofort war der Saft herausgeronnen, der jedes Jahr im Frühling zwei Wochen lang durch die Birkenstämme floss. Sie hatte einen kleinen Eimer um den Zapfhahn gebunden, um ihn aufzufangen. Die Schülerinnen hatten jeden ihrer Handgriffe verfolgt, denn diese Methode, eine der köstlichsten Gaben Gottes zu empfangen, war in Heidenheim unbekannt gewesen. Bis zur Non hatte jedes Mädchen seinen eigenen Eimer aufgestellt, in den der Birkensaft tröpfelte.

      Heute war Michal bereits nach der Prim in den Frühlingswald gezogen. Jetzt freute sich die junge Meute über den süßlichen Saft, der sich in den Eimern angesammelt hatte.

      Michal ermahnte sie, nicht mehr als die Hälfte ihrer Ernte zu trinken, denn sie wollten die Früchte ihrer Arbeit mit den Mönchen teilen, die seit Tagen hart arbeiteten.

      Von widerwilligem Gemurmel begleitet setzten die Mädchen ab und folgten Michal den Abhang hinunter durch den Wald, sprangen über einen Bach und standen neben der Lichtung, auf der die Mönche schaufelten, Eimer schleppten, schwitzten und fluchten, während sie den ersten Fischweiher des Klosters aushoben. Nur Goumerad stand im Schatten, auf dem schmalen Streifen zwischen Grube und Bach, durch den der Zufluss zum Fischweiher gelegt werden sollte. Seit dem Lichtwunder hatte der Prior jeden Gottesdienst pflichtschuldig gehalten und die Nonnen in ihrer ausdauernden Arbeit auf dem Acker Gottes nicht aufgehalten. Sogar als Walburga die Mönche angewiesen hatte, den Fischweiher auszuheben, hatte er kein Widerwort erhoben. So lebten Mönche und Nonnen friedlich nebeneinander, wie es sich für eine klösterliche Gemeinschaft geziemte. Auch um diese Gemeinschaft zu stärken, war Michal jetzt hier.

      Goumerads Blick streifte die Nonne kurz, dann sah er über sie hinweg auf die Mädchen und grummelte abschätzig: „Was tut ihr hier?“

      „Wir bringen den erfrischenden Saft der Birke sowie einige Brote für Euch und eure Männer. So möchten meine Schülerinnen und ich uns bedanken für die harte Arbeit, die ihr für unser Kloster verrichtet.“

      „So, so.“

      Die Mönche tranken dankbar den Birkensaft und schnitten sich dicke Stücke von den Broten ab. Michal sorgte dafür, dass jeder seinen Teil bekam. Nach allen Seiten blickte sie sich um, doch wann immer sie sich in eine Richtung drehte, wandten die Mönche schnell den Blick von ihr ab. Bald meinte Michal, sie werde von allen Seiten angestarrt. Was war an ihr so besonders? Sie gewahrte, dass sie seit ihrer Kindheit Männern nie mehr so nahe gewesen war wie jetzt, mit Ausnahme ihres Vaters. Vielleicht war es doch eine gute Idee von Mutter gewesen, sie vor den Männern zu schützen. Denn sie waren ihr unheimlich.

      Sie bekreuzigte sich unwillkürlich, als die Mönche ihr Mahl beendet hatten und wieder in die Grube kletterten. Dabei wechselten sie leise Worte, plötzlich lachten sie laut heraus. Michal spürte ihre Ohren heiß werden, denn irgendetwas sagte ihr, dass sie es war, über die die Mönche lachten. Sie fand es ungehörig, dass sie ihr nicht sagten, was sie falsch gemacht hatte. Dabei hatte sie ihnen mit dem Birkensaft nur eine Freude bereiten wollen! Sie sprang über den Bach und stapfte die Anhöhe hinauf, bis die Mädchen quengelten, sie sei zu schnell.

      In Heidenheim wurde schon zur Terz gerufen. Nach dem Gebet wurden die Mädchen von Walburga in die Heilige Schrift eingewiesen, zuvor jedoch schickte Walburga Michal und fünf weitere gottgeweihte Jungfrauen zum ehemaligen Heidendorf auf der Lichtung, nicht ohne sie zu ermahnen, bis zur Sext wieder zurück zu sein, weil das Gebet die wichtigste Aufgabe einer gottgeweihten Jungfrau sei. „Es tut mir leid, Schwester Michal“, sagte Walburga, „dass du nicht öfter in der Schreibstube die Feder führen kannst, denn der Herr hat dich gesegnet mit einer feinen Schrift und einem guten Verständnis der Texte. Doch der Herr hat uns wenigen Nonnen viele Aufgaben anvertraut.“

      Michal versicherte, sie erfülle jede Aufgabe mit Freude, und machte sich zusammen mit ihren Gefährtinnen auf den Weg durch den Wald.

      Auf der Lichtung trafen sie auf eine zahnlose, beinahe blinde Frau. Als einzige Bewohnerin hatte sie die Lichtung nicht verlassen, weil sie nirgendwo anders sterben wollte als dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht hatte, auch wenn die Hütten verfielen und eine im Winter gar unter der Schneelast zusammengebrochen war. Die Nonnen beteten mit ihr.

      Michal hielt im Gebet inne, ihr Kopf, eben noch demütig gesenkt, zuckte nach oben, der Blick huschte zum Wald, der jene Lichtung umsäumte, auf der sie einst auf Wulfhardt getroffen war.

      Sie hatte einen Schrei gehört. Kurz zwar, aber spitz.

      Doch die fünf gottgeweihten Jungfrauen, die Walburga mit ihr zur Lichtung geschickt hatte, beteten weiter, also fiel auch sie hastig wieder ein in das Pater noster, bis das „Amen“ erklungen war.

      Michal fragte: „Habt ihr das gehört?“

      „Was?“, rief Rosweidis mit hoher Stimme, die Augen weit aufgerissen. Sie war vierzehn Jahre lang auf dieser Lichtung aufgewachsen, war zusammen mit den anderen Heiden von Willibald, dem tapferen Streiter des gütigen Gottes getauft worden und anschließend in das Kloster eingetreten.

      „Wenn ich mich recht entsinne“, sagte Michal, „dann hat jemand geschrien, irgendwo dort im Wald, der uns vom Grafenhof trennt.“

      Ihre Schwestern beteuerten, nichts gehört zu haben.

      Michal lauschte, doch sie hörte nur einen Spatz, der über ihnen mit wilden Flügelschlägen gen Sonne flatterte und ein Frühlingslied tschilpte. „Wahrscheinlich habe ich mich verhört“, sagte sie. Vielleicht war nur das kurze Bellen eines Hirsches oder eines Wolfswelpen an ihre Ohren gedrungen.

      Sie nahm das Brot aus dem Beutel, tunkte es in Wasser und gab es der Frau in den Mund. Nachdem diese das Brot gemümmelt hatte, reichte Aebbe ihr mit Schlehenblüten aufgegossenes Wasser, dem Walburga noch den Saft der Anemone zugesetzt hatte, um das Augenleiden zu lindern.

      „Seht!“, rief Eadburga und deutete zum Waldrand, gerade als die Sonne über die hohen Buchen gestiegen war und auch den letzten Winkel der Lichtung beschien. Ein Tier brach aus dem Wald hervor, machte vier große Sätze in ihre Richtung, sprang zwei Mal auf der Stelle, kehrte um und blieb am Waldrand stehen. Michal glaubte ihren Augen nicht: Gott hatte dieses Tier zwar in der Form eines Rehs erschaffen, jedoch mit weißem Fell überzogen.

      Erst der Schrei, jetzt dieses weiße Reh. „Das Tier will uns etwas zeigen! Wir sollten ihm folgen.“

      Frideswide und Aebbe, betreten zu Boden blickend, fürchteten sich davor, in den Wald einzudringen. Aebbe hatte sich schon auf dem Weg zur Lichtung immerzu umgesehen wie ein Igel, der jederzeit damit rechnet, sich zu einer Kugel zusammenrollen zu müssen. Michal fragte sich, warum ihre Freundin so wenig auf die schützende Hand Gottes vertraute, so wie damals, als er sie durch den schweren Sturm hindurch über das Meer geleitet hatte.

      Eadburga und Hilda, unschlüssig zum weißen Reh blickend, schienen zu erforschen, was es ihnen zeigen wollte. Michal nahm sich vor, auf das Urteil der beiden Nonnen zu vertrauen, denn sie folgten Walburga schon viel länger als sie selbst.

      Rosweidis, ängstlich in den Wald blickend, rief: „Wir müssen bis zur Sext zurück sein. Und Walburga hat uns nicht erlaubt, weiter zu gehen als bis zu dieser Lichtung. Und dort, wo das Reh hin will, liegt der Grafenhof!“

      Michal verstand Rosweidis’ Angst, war doch einst Wulfhardt aus jener Richtung gekommen, um ihr Dorf zu überfallen. Sie sagte: „Liebe Schwestern, vertrauen wir in Gott! Jesus könnte uns in Gestalt dieses wundersamen Rehs begegnen. Was, wenn wir ihm jetzt nicht folgen?“

      Der Spatz hörte auf zu tschilpen.

      Eadburga ergriff das Wort: „Wir können Gottes Wege nicht ergründen. Aber da war dieser Schrei, den Michals Gehör vernahm, und jetzt das Reh. Mir scheint, als erfordere dort im Wald etwas unsere Aufmerksamkeit.“

      Hilda hatte längst die Stirn in Falten gelegt, wie immer unglücklich, wenn

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