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für uns tun. Vielleicht braucht es eine wirkliche ostdeutsche „#Me-Too“-Bewegung.

       Wind of Change

       Von Ilka Wild und Carolin Wilms

       Ilka Wild

      Ich bin kein Fan der Scorpions, aber es gibt einen Song, der die Stimmung in der DDR im Jahre 1989 beschreibt wie kein anderer: ‚Wind of Change‘.

      Schon im Jahr 1988 begann es. Es war etwas im Gange. Man spürte es in der Schule, auf Familienfeiern oder sogar im Zugabteil. Man sprach über Verbotenes, man diskutierte Missstände, es brannte den Leuten unter den Nägeln. Manchmal brach es aus ihnen heraus, und man merkte, dass sie erst später darüber nachdachten. Dann blickte man sich verstohlen an, verschwörerisch. Besonders, wenn das Gespräch mit wildfremden Leuten aufkam, war es nicht ungefährlich. Doch anders als in den Jahren zuvor hatten viele Menschen ihre Angst abgelegt oder waren zumindest weniger vorsichtig. Natürlich hatte das Ganze mit den Vorgängen in der Sowjetunion zu tun: Gorbatschow hatte bereits Mitte der 1980er Jahre mit seiner Perestroika Politik begonnen. Und auch das konnte man in der DDR spüren. Über das Westfernsehen erfuhren wir von Sacharows Rehabilitation und konnten das kaum glauben. Und auch das gesellschaftspolitische Magazin Sputnik aus der UdSSR, das in der DDR verkauft wurde, brachte Artikel, die man sich kaum traute zu lesen, so kritisch waren sie. Dieser ‚Wind of Change‘ war wohl genau das, was in dem gleichnamigen Lied beschrieben wurde. Die Rockband The Scorpions aus Hannover durfte im August 1989 in Moskau auftreten, die dortige Stimmung inspirierte die Band zu dem Song: In Russland änderte sich etwas.

       Carolin Wilms

      Auch im Westen nahm man die Veränderungen in Russland genau wahr und schöpfte Hoffnung: Das Wettrüsten und die nukleare Bedrohung hatten in den späten 1980er Jahren beängstigende Formen angenommen. Als Gegenentwurf dazu gab es im Westen eine sehr aktive Friedensbewegung. Die Menschen und vor allem die Jugendlichen waren politisch engagiert. NATO-Doppelbeschluss, Stationierung von Marschflugkörpern mit Atomsprengköpfen waren Themen, die im Westen nicht nur am sonntäglichen Kaffeetisch diskutiert wurden, und es gab – vereinfacht gesagt – zwei Lager: Die eher Konservativen wollten sich bis zu den Zähnen bewaffnen und aufrüsten, die Jungen wollten „Petting statt Pershing“.

      „Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin!“ stand auf den Aufnähern, die auf unsere Parkas genäht waren. Der Look der Friedensbewegung war unverwechselbar: lange Haare, selbst gestrickte Pullis, Räucherstäbchen und Jute-Beutel. An eine militärische Konfrontation mit der DDR hatten dabei die wenigsten gedacht. Das Feindbild war die UdSSR. Mit Gorbatschow konnte man endlich etwas hoffnungsvoller gen Osten blicken. Dennoch schien bei den unmittelbaren Nachbarn im Osten – in der DDR – alles beim Alten geblieben zu sein: Die Opa-Fraktion mit Hut und falschem Gebiss nahm weiterhin die albernen Stechschritt-Paraden ab.

      Und so war es größtenteils auch. Es gab in der DDR keine umwälzenden Veränderungen wie in Russland. Den Wandel konnte man nur minimal spüren: Etwa die Tatsache, dass der erwähnte russische Sputnik noch bis zu seinem Verbot im November 1988 gekauft und die kritischen Artikel darin von jedem gelesen werden konnten. Andere Minimal-Ausschläge am gesellschaftlichen Seismografen waren das Outing von Homosexuellen, womit man sich in den DDRJugend-Magazinen beschäftigte. So klein oder manchmal banal die Veränderungen auch waren: Es gab eine gewisse Öffnung. Es gab beispielsweise Platten von Michael Jackson zu kaufen. Zumindest, wenn man das Glück hatte, eine zu ergattern: Die sozialistische Mangelwirtschaft konnte die große Nachfrage nach derlei Produkten nicht im Entferntesten decken, und so bildeten sich lange Schlangen, falls es überhaupt einmal etwas zu kaufen gab, das irgendwie aus dem Westen kam. Die Platten von Künstlern aus dem Westen wurden in Lizenz von einem volkseigenen Betrieb hergestellt, die Qualität des Plattencovers war so dürftig, dass man auf den ersten Blick sah, dass es sich um ein DDR-Produkt handelte. Dennoch war jeder glücklich, der eine solche Platte sein Eigen nennen konnte.

      Die DDR-Führung passte jedoch peinlich genau darauf auf, dass es nicht zu westlich zuging. Und somit musste es für Trends, die aus dem Westen kamen, aber die herrlich unpolitisch waren, ihre eigenen, teilweise peinlichen, DDR-Namen geben. So gab es die Bezeichnung Pop-Gymnastik für Aerobic, die DDR-Variante des Hamburgers hieß Grilletta und der ostdeutsche Hotdog war die Ketwurst, eine Kombi-nation aus Ketchup und Wurst.

      Dieser Öffnung im unpolitischen Leben stand eine unerbittliche Haltung gegenüber allen Kritikern des Systems entgegen, ebenso gegenüber all denjenigen, die die DDR verlassen wollten. Und dies sogar bis in die unmittelbare Vorwendezeit hinein: Ein Freund unserer Familie äußerte sich im Sommer 1989 am Frühstückstisch in seinem Betrieb zum Thema Ungarnflüchtlinge sinngemäß so: „Ich hau dann auch bald ab, ist eh fast keiner mehr da!“ Obwohl scherzhaft gemeint, führte diese Äußerung dazu, dass er, drei Wochen später, als er seinen Jahresurlaub in der damaligen ČSSR antreten wollte, an der Grenze abgefangen wurde: Er saß bis November 1989 im Stasi-Gefängnis. Dieser Freund hat nach der Wende nicht Fuß fassen können und war viele Jahre arbeitslos.

      Es war eine indifferente Stimmung, die schwer zu beschreiben ist, an die sich aber viele Ossis erinnern können: Ungefähr 18 Monate vor dem Fall der Mauer lag etwas in der Luft. Einerseits hoffnungsvoll, andererseits bedrohlich. „Es wird etwas passieren.“ Das ist der Satz, der für viele Ostdeutsche charakteristisch in dieser Zeit gewesen sein mag. Und man wusste nicht, ob es in eine positive oder eine negative Richtung ging. Schließlich gab es die Vorfälle am Platz des Himmlischen Friedens in Peking – dort war man mit Panzern und scharfer Munition gegen oppositionelle Studenten vorgegangen.

      Angst und Hoffnung wechselten sich ab und vieles geschah im Verborgenen. Vielleicht ist damit zu erklären, dass man in Westdeutschland vom ostdeutschen ‚Wind of Change‘ nicht viel mitbekommen hat.

      Mein Mann hatte im September 1989 mit seinem Schulfreund eine einwöchige Reise in die DDR unternommen und dessen ostdeutsche Familie besucht. Er sagt im Nachhinein, dass er selbst vor Ort nichts von diesem Wind of Change mitbekommen hatte. Vielleicht waren die Veränderungen zu subtil, dass sie ein Westdeutscher hätte spüren können. Vielleicht hatte die Familie schlichtweg Angst, denn mein Mann gehörte ja nicht dazu und hätte auch ein Stasi-Spitzel sein können. Wie wenig paranoid diese Überlegung war, zeigt bereits das Beispiel von dem Freund aus Ilka Wilds Familie, der an der tschechisch-slowakischen Grenze verhaftet wurde. Somit reiste mein Mann wieder nach Hause und konnte es nicht glauben, als keine sieben Wochen später die Mauer fiel. Ihn überkam das beklemmende Gefühl, überhaupt gar nichts in der DDR mitbekommen zu haben, obgleich sie individuell gereist waren und Verwandtschaft besucht hatten.

      In unserer Familie war die Vorwendezeit persönlich eine ganz spezielle Zeit. Meine Schwester floh mit ihrem Mann und dem Trabant meiner Eltern über Ungarn in den Westen. Wir halfen ihr bei allen Vorbereitungen, mussten dies aber mit äußerster Vorsicht tun, damit die Pläne nicht aufflogen und in letzter Minute die Flucht misslang. Gleichzeitig mussten wir mit dem Gedanken leben, die Schwester eventuell für Jahre, Jahrzehnte nicht wiederzusehen, denn die Mauer war noch immer unüberwindbar.

      Dieses Gefühl, die Wohnung der Schwester auszuräumen und nicht zu wissen, ob und wann man sie wiedersieht, werde ich nicht vergessen.

      Derart zerrissene Gefühlswelten charakterisierten die Vorwendezeit. Und niemand, wirklich niemand, hätte damit gerechnet, dass sich die Lage derart weiterentwickelte.

      Diese kollektive Erfahrung der Ostdeutschen, zu spüren, dass etwas im Gange war, wirkt bis heute nach. Es scheint, als haben die Ostdeutschen eine Sensibilität für derartige gesellschaftliche Situationen entwickelt. Vielleicht sind sie auch aufgrund derartiger Erfahrungen vorsichtiger, zurückhaltender. Vor allem aber eint dieses gemeinsame Erleben einer äußerst ungewissen Zeit. Egal, wie sehr ein Westdeutscher sich bemüht, eine Erfahrung wie diese kann man nicht wiederholen, nicht nachstellen. Diese Erfahrung ist ein ideeller Schatz, der viele Ostdeutsche in dieser Hinsicht reicher gemacht hat.

      Tja und im Westen? Ich war bis September 1989 im Ausland und kann daher nicht sagen, ob auch im Westen der Wind of Change zu spüren war. Ich erinnere mich an die Bilder vom „Platz des

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