Скачать книгу

es vor über zehn Jahren noch erlebt hatte. Schließlich gibt es zwei große Automobilhersteller im Norden Leipzigs, die viele gut bezahlte Arbeitsplätze geschaffen haben, und so die Menschen in der Region an der Prosperität dieser Industrie teilhaben.

      Es geht auch in anderen Wirtschaftszweigen voran. Wissenschaftler, Gründer und Künstler sind in Leipzig dicht auf dicht beieinander. Das macht den besonderen Reiz dieser Stadt aus, die trotz der über 600.000 Einwohner wie ein Dorf wirkt, dabei aber jung und dynamisch ist: Die Stadt ist im Kommen, strahlt auf die Region aus und zieht magnetisch neue Menschen an. Sie ist noch eine zarte Pflanze, mit der man behutsam umgehen muss, damit sie weder niedergetrampelt wird, noch beim ersten Sturm umknickt. Die Arbeitslosigkeit hat mit knapp 6,5 Prozent im März 2019 den niedrigsten Stand seit 1991 erreicht. Das ist sicher kein Grund, um die Hände in den Schoß zu legen und alles schön zu reden: Nicht alle partizipieren von dem Boom, der Leipzig zu „Hypzig“ werden ließ. Die große Zahl der Hartz-IV-Empfänger, die über 58 Jahre alt sind, taucht in der Arbeitslosenstatistik nicht auf.

      Viele Menschen finden heute noch die von der Treuhand veranlasste Deindustrialisierung Ostdeutschlands unverhältnismäßig, finden, dass ihr dadurch verursachter Arbeitsplatzverlust ungerechtfertigt sei und ihre Lebensleistung nicht ausreichend gewürdigt werde. Einige sehen in der Wiedervereinigung ein „unfriendly take over“, wie es im Investmentbanking üblich ist: Filetstück rausschneiden und der Rest kommt in die Wurst. Sie verstehen nicht, warum außer den minimalen Relikten von grünem Pfeil und Ampelmännchen, keine einzige ostdeutsche Einrichtung übernommen wurde. Sie fragen sich, warum haben die Westdeutschen den Sinn von Polikliniken nicht erkannt. So falsch kann es nicht gewesen sein, stellen sie heute teils mit Genugtuung fest, da genau dieses Konzept wieder diskutiert wird. Warum hat es keine neue Hymne gegeben, die Ausdruck von Neuem für alle Deutschen gewesen wäre? Warum wurde ein x-beliebiges Datum für den Feiertag der Deutschen Einheit gewählt, das in keinem Bezug zu den historischen Vorgängen steht? Einzig die Hauptstadt änderte sich für die Westdeutschen.

      Das bewegt trotz des ökonomischen Aufschwungs die Gemüter und wird manchmal laut gefordert, manchmal hinter vorgehaltener Hand gesagt. Mitunter werden diese Befindlichkeiten befeuert durch Plattitüden, die die meisten zwar als solche erkennen, während bei anderen die Saat aufgeht. Zur Leipziger Buchmesse 2019 erschien ein Buch von einer Politikerin, die zwischenzeitlich als Lobbyistin scheinbar weniger Erfolg gehabt hatte und die Partei wechselte – Antje Hermenau. Die als Frau der ersten Stunde an den damaligen Runden Tischen und als späteres Mitglied des Bundestages in vieles Einblick nehmen konnte, das anderen verborgen blieb. Sachsentümelnd und polemisch bedient sie in ihrem Buch Gedanken, dass etwa die Wessis auch „keinen Plan haben“ und dass mit dem Geld, das für die Integration der Migranten ausgegeben wird, hervorragende Internetverbindungen bis zur letzten sächsischen Milchkanne verlegt werden könnten; erschienen in der Evangelischen Verlagsanstalt.

      Es lese sich wie eine Abrechnung, schrieb ein Leser der Leipziger Volkszeitung in einem Leserbrief zu diesem Buch, ohne Optionen aufzuzeigen, wie ein Miteinander gelingen könne. Ein anderer nannte es gar eine primitiv und diskriminierend formulierte Lektüre.

      Anders als über die berufssächsische Verfasserin habe ich im Podcast der Wochenzeitung Die Zeit vom 14. Februar 2019 in einem Gespräch mit der Leipziger Autorin und Journalistin Jana Hensel gestaunt, als sie auf die Frage, was sie beruflich gemacht hätte, wenn die Mauer nicht gefallen wäre, antwortete, dass sie genau dasselbe machen würde wie heute. Dass kritische Berichterstattung in der gleichgeschalteten DDR-Staats-propaganda nicht möglich war und zu Berufsverboten und Zuchthausstrafen geführt hat, ist bekannt. Eine solche Aussage verklärt die Situation, in der sich Andersdenkende in der DDR befunden haben.

      Und wieder frage ich mich, wie das weitergehen soll? Die eine peitscht auf, die andere spielt die mangelnde Meinungsfreiheit in der DDR runter.

      Bei allen Ungerechtigkeiten, die die Kommission zur Aufarbeitung der Tätigkeit der Treuhand aufdecken soll, darf nicht aus dem Blick verloren werden, was alles erreicht wurde.

      Für beide Teile Deutschlands war es die erste Wiedervereinigung, beim nächsten Mal wäre man schlauer, könnte einer einwenden, aber Gift entsteht erst durch seine Dosis: Daher wäre es für das Zusammenwachsen wichtig – allen Befindlichkeiten zum Trotz – das Positive zu sehen, was bisher erreicht wurde und den Blick nach vorn zu richten. Welches andere Land hat in diesem Hinblick etwas Vergleichbares vorzuweisen? Dieser Prozess war und ist nicht ohne Schwierigkeiten und Rückschläge möglich. Wenn sich die Menschen eher auf das Verbindende als auf das Trennende konzentrieren und nicht mit „Besatzer“-Begriffen die Glut schüren, wird das Gemeinsame in den Vordergrund gerückt.

      Während früher die Unterschiede zwischen Bayern und Hamburg mit zahl- und achtlosen Witzen bedacht wurden, wird heute gern auf den Klischees des Ostens rumgeritten: Alle Ossis sind arbeitslos und rechts. Der Gag-Schreiber ist mit diesen Themen auf der sicheren Seite, die Lacher sind garantiert. Aber der Vergleich zu den alten BRD-Witzen hinkt.

      Als ich in Nürnberg studierte, fragte mich mein oberbayrischer WG-Bewohner, wie das eigentlich sein könne, dass ich als Bremer Nutznießerin des Länderfinanzausgleichs, überhaupt ein Stimmrecht bei der Bundestagswahl haben könne. Wie sich zeigte, hatte nicht nur ich den Eindruck, dass er dämlich war, denn er fiel durch seine letzte Prüfung, aber befremdlich fand ich diese Denke schon. Der Spruch „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“ mag vielleicht in einigen Familien funktionieren, innerhalb eines Landes aber sicher nicht. Den Ostdeutschen vorzuhalten, dass man so viel Geld in ihre Bundesländer gepumpt hat und sie mit ihren neuen Bürgersteigen endlich zufrieden und dankbar sein sollen, ist nicht nur unsensibel, sondern nicht zielführend. Wie bei Montessori ist Hilfe zur Selbsthilfe, eins der besten Konzepte überhaupt. Der Aufbau Ost war eine Selbstertüchtigung und sollte keine endlose Alimentierung werden. Die finanzielle Unterstützung läuft bald aus und das ist auch gut so. Das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Halle kam im März 2019 in seiner Studie „Vereintes Land – drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall“ etwa zu dem Schluss, dass die Produktivität des Ostens, der im Westen um 20 Prozent nachhängt, und zwar deswegen, weil der Arbeitsplatzerhalt staatlich subventioniert ist.

      Und die Studie der Bertelsmann Stiftung „Monitor Nachhaltige Kommune“ aus dem Jahr 2018 ergab, dass die Armutsquote in Ludwigshafen und im Ruhrgebiet zugenommen, dafür aber in Städten wie Erfurt, Chemnitz und Rostock merklich abgenommen hat. Vielleicht verschiebt sich die Fokussierung für Wirtschafts- und Sozialhilfe nun auf diese Regionen im Westen und der Osten kann jetzt, auf eigenen Füßen stehend, den Westen unterstützen. Dann hören Neid, Bezichtigungen und Unterstellungen vielleicht von ganz allein auf und „Schnauze“-Bücher haben ausgedient.

       Wo geht die Reise hin?

       Von Ilka Wild

      Ich habe große Teile meines Studiums auf Taiwan verbracht und dort einige Jahre gearbeitet. Die Insel im südchinesischen Meer nennt sich offiziell „Republik China“ und ist der Gegenentwurf zum großen kommunistischen Festland. Hier herrscht offiziell Marktwirtschaft, die kommunistische Propaganda ist weit weg. Durch die Seestraße von Taiwan geht noch immer eine Trennlinie, ähnlich wie eine solche durch die beiden deutschen Staaten ging. Das wird, je nach politischer Ausrichtung, von Taiwanern verflucht oder begrüßt. Sollte es jemals zu einer faktischen Wiedervereinigung kommen (offiziell gibt es keine zwei chinesischen Staaten, nur zwei unterschiedliche Interpretationen davon), wird das überlegene System eines sein, das sich selbst kommunistisch nennt. Für die Taiwaner heute ist das ein nicht ganz unwahrscheinliches Szenario.

      1989 wäre ein solcher Ausgang für das vereinte Deutschland undenkbar gewesen. Ich stelle mir vor, wir hätten die Möglichkeit des Siegs des Kommunismus über ganz Deutschland 1989 einmal diskutiert: Kaum ein Ostdeutscher hätte das für realistisch oder gar erstrebenswert gehalten. Hätte es so viele Anhänger des alten Systems im Osten Deutschlands gegeben, wie es in manchen Diskussionsrunden heute scheint, hätte es im Osten einen Bürgerkrieg gegeben und keine Friedliche Revolution. Der Konsens unter den damaligen DDR-Bürgern, dass das alte System wegmusste, war so groß, dass es glücklicherweise ohne große Gegenwehr in sich zusammenfiel.

      Das

Скачать книгу