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      Zunächst gab es einen wochenlangen Ausnahmezustand. Einen Ausnahmezustand der Freude. Der Überraschung, des Ungewissen. Wahnsinn eben.

      Den Ausnahmezustand der Freude konnte man auch im Westen spüren. Zumindest in West-Berlin und in den grenznahen Regionen in Westdeutschland. Man begrüßte unzählige Menschen in ihren Trabbis, in hessischen Grenzdörfern wurden an der Bundesstraße Kaffee und Plätzchen verteilt. Wenige Jahre später standen an denselben Stellen Schilder, die auf den Verkehrsinfarkt aufmerksam machten. Der Autobahnbau der A4 dauerte bis in die späten 1990er hinein. Zumindest für diese westdeutschen Kommunen änderte sich durch die Grenzöffnung vieles und in diesem Fall nicht zum Guten. Die vielen Autos und Lkws, die sich durch die hessischen Grenzdörfer quälten, waren laut, machten die Straßen kaputt und vergifteten die Luft in einer Gegend, die bisher im Dornröschenschlaf des Zonenrandgebietes lag.

      Meine Mutter war eine der Ersten, die sich bei der Stadtverwaltung Koblenz meldete, um Ostdeutsche aufzunehmen. Wenig später hatten wir auch einen jungen Mann sonntags zum Essen, der als Überkopfschweißer in der DDR gearbeitet hatte, mit der Stasi in Konflikt geraten und gerade aus der Haftanstalt in Bautzen entlassen worden war. Meine Eltern hielten irgendwie die Unterhaltung beim Essen in Gang, ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Was sagt man zu jemand, der wochenlang an eine Heizung gefesselt worden war?

      In der Noch-DDR hingegen änderte sich das Leben radikal, besonders für meine Generation. Wir spürten: Das ist unsere Zeit, wir können es schaffen! Viele brachen Studium oder Ausbildung ab und gingen einfach in den Westen, fingen etwas Neues an.

      Für mich selbst war das kein Thema, ich wollte meine Schneiderlehre abschließen. Von meiner Lehrlingsklasse jedoch blieb nur gut die Hälfte übrig.

      Kurze Zeit später hatte meine Mutter ein Ehepaar aus der Koblenzer Partnerstadt Sondershausen über unsere Stadtverwaltung zugeteilt bekommen, mit denen sich ein reger Briefverkehr entspann. Sie luden uns spontan ein, Silvester bei ihnen in Thüringen zu verbringen, wir waren aber schon verplant. Wenig später kam das Ehepaar nach Koblenz zu Besuch. Um sich am Bahnhof zu erkennen, hatten der Mann und mein Vater sich eine rote Nelke in den Reverskragen gesteckt.

      Unsere Familie war glücklich, da wir wieder Kontakt zu meiner Schwester hatten, dass wir uns wohl doch wiedersehen können. Sie war mit Mitte 20 im September 1989 über die ungarische Grenze in den Westen gelangt. Mittlerweile hatte sie in Baden-Württemberg Fuß gefasst, hatte sofort eine gute Arbeitsstelle als Kartografin bekommen. Im Osten wäre sie vermutlich recht schnell arbeitslos geworden und hätte keine neue Anstellung in ihrem Beruf gefunden.

      Eine euphorische, teils anarchische Stimmung herrschte im Osten. Die DDR-Volkspolizei hatte zwar offiziell noch für Ordnung zu sorgen, aber die Beamten, vor denen man früher eine höllische Angst hatte, kamen uns plötzlich machtlos, fast hilflos vor.

      Es gab Straßenszenen, bei denen Polizisten vor Jugendbanden Reißaus nahmen, da sie nicht wussten, wie sie sich am besten verhalten sollten. Die Staatsgewalt war erodiert.

      Das Straßenbild bei uns in Rheinland-Pfalz änderte sich nach dem Mauerfall wenig. Ab und zu sahen wir Trabis auf der Autobahn. Anfangs hupten wir und winkten den Leuten freudig zu. Das legte sich mit der Zeit. Mein Leben ging in den gewohnten Bahnen weiter: Nichts änderte sich!

      Das Wie und Was war noch nicht klar: Werden wir jetzt Gesamtdeutschland? Es war das bestimmende Thema in Ost- und Westdeutschland und auch international. Und trotzdem, in erster Linie genossen die meisten den Mauerfall. Wie viele Ostdeutsche erlebte ich diese Zeit in einer Art Rauschzustand, in den uns die Überdosis Möglichkeiten versetzte. Die Möglichkeiten, uns frei zu bewegen, uns die Nasen an westdeutschen Schaufenstern platt zu drücken und uns etwas zu kaufen. Wenn man heute bedenkt, welch geringe Mengen Devisen wir hatten: Bis zur Währungsunion im Frühsommer 1990 hatten wir nur die paar D-Mark, die wir von westdeutschen Verwandten zugesteckt bekamen oder das Begrüßungsgeld, dass alle Ostdeutschen bei Reisen in den Westteil bekamen: Pro Person und Jahr bekam jeder DDR-Bürger bis Ende 1989 100 D-Mark, 1990 bis zur Währungsunion durfte man 100 DDR-Mark gegen 100 D-Mark umtauschen. Für uns war das zu der Zeit unglaublich viel. Die Ossis kauften hauptsächlich Schokolade, Kaffee und Südfrüchte. Dieser chaotisch-euphorische Zustand hielt an bis zur Währungsunion im Juli 1990.

      Es waren acht Monate seit dem Mauerfall, in denen die Ostdeutschen ihr glückliches Schicksal genossen, aber auch verdauen mussten. Die eigentliche Wiedervereinigung, der Staatsakt Anfang Oktober stand noch bevor.

       Blühende Landschaften?

       Von Ilka Wild und Carolin Wilms

       Ilka Wild

      Der Staatsakt zur Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 sollte das Symbol der Wiedervereinigung werden. Mit einem Konzert in der Philharmonie Berlin, der bundesdeutschen Flagge über dem Reichstag und ökumenischem Gottesdienst: Nun ist der 3. Oktober der Nationalfeiertag der Deutschen.

      Doch für viele Menschen, hüben wie drüben, hatte dieser Tag nur eine mäßige Bedeutung, dieses mehr oder weniger zufällig gewählte Datum konnte es nicht mit der Wucht des 9. November, dem Tag des Mauerfalls, und mit der Erwartung auf den 1. Juli, den Tag der Währungsunion aufnehmen.

       Carolin Wilms

      Ich habe die Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 auf dem Mahnmal der Deutschen Einheit – dem Deutschen Eck – in Koblenz erlebt, wo die zweitgrößte Feierlichkeit im Land – nach Berlin – stattfand. Durch einen Kontakt hatten eine Freundin und ich VIP-Karten bekommen und standen mäßig bewegt in einer dicht gedrängten Menge und schauten uns das Feuerwerk über der Festung Ehrenbreitstein an, die sich am gegenüberliegenden Rheinufer erhebt. Nationale oder patriotische Gefühle waren und sind mir fremd. Irgendwie kam mir der Gedanke, dass etwas Großes passierte, das ich in seinen Ausmaßen aber nicht begriff, mich aber gleichzeitig nicht sonderlich berührte. Während die Spider Murphy Gang am Fuß des Deutschen Ecks das Lied vom „Skandal im Sperrbezirk“ spielte, beschlich mich das Gefühl, dass ich eigentlich nicht im Ansatz eine Vorstellung davon hatte, was das für unsere schöne alte BRD bedeuten würde.

      Auch für mich plätscherte dieser neblige Oktobertag vor sich hin, die Bewegtheit hielt sich in Grenzen. Die Monate zuvor hatten wir in einem Taumel der Gefühle erlebt, fast jeden Tag geschah etwas Neues – irgendwie war ich erschöpft von all dem, was in den letzten Wochen passiert war.

      Vielen Ostdeutschen dämmerte es schon, dass die Veränderungen der letzten Wochen und Monate nicht nur Gutes bringen würden. Mit der Einführung der D-Mark konnten viele volkseigene Betriebe mit einem Schlag ihre Produkte nicht mehr bei ihren osteuropäischen Partnern absetzen, es war in erster Linie ein Devisenproblem.

      Außerdem war die Treuhand bereits am Werk und begann, einen Betrieb nach dem anderen abzuwickeln. Also hatten bereits viele Ostdeutsche am 3. Oktober zwar die Deutsche Einheit, aber keinen Job mehr.

      Doch wie viele andere hielt auch ich die Werksschließungen für ein kurzes, reinigendes Gewitter, danach würde es aufwärtsgehen für den Osten. Was dann kam, die schleichende Erkenntnis, dass die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe nicht von einem Tag auf den anderen zu beheben war, wurde bald für viele eine bittere Gewissheit. Langsam, aber stetig machte sich immer mehr Hoffnungslosigkeit breit. Im dritten Quartal 1991 hatte die Zahl der Erwerbstätigen um 2,23 Millionen, also um 25 Prozent abgenommen.

      Trotzdem: Ende 1991 dachten noch viele in der DDR, dass alles besser werden würde. Es konnte ja auch nicht alles innerhalb von zwei Jahren perfekt werden. Man würde durchhalten. Man vertraute dem Westen, den Politikern und wünschte sich „blühende Landschaften“.

      Ich glaube, eines der heutigen Grundprobleme zwischen Ost- und Westdeutschland stammt aus dieser Zeit: Dass diese Hoffnung, die Politiker wie Helmut Kohl bewusst aufgebaut hatten, und an die man auch selbst zu gern glauben wollte, zerstört wurde. Um Wählerstimmen im Osten zu gewinnen, wurden Dinge versprochen, die, bei Licht betrachtet, nie gehalten werden konnten. Die Ostdeutschen sind heute vielleicht skeptischer denn je, was Politiker, was die Demokratie

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