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lag.

       Carolin Wilms

      Ich hatte mir zu der Zeit lieber Guatemala, Costa Rica und Venezuela angeschaut, meine Eltern hingegen fuhren oft in den Osten. Mein Vater bekam einen neuen ostdeutschen Kollegen, der Russisch sprach. Seine Perspektive änderte sich mit der Wende vollständig, denn mein Vater hatte plötzlich beruflich mit Russland zu tun. Dies eröffnete ihm neue Einblicke: Er reiste nach Moskau und lernte über die beruflichen Kontakte Land und Leute kennen. Eine ungewöhnliche Annäherung.

      Auch ich hatte beruflich viel mit Westdeutschen zu tun, aber in den ersten Jahren war es ein ständiges Kommen und Gehen. Für viele Westdeutsche war der Osten einfach noch nicht lebenswert genug. Die Wohnverhältnisse waren oft noch sehr schlecht, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Somit war es eher eine Seltenheit, wenn sich eine westdeutsche Familie im Osten ansiedelte, was umgekehrt sehr häufig passierte: Die Abwanderungswelle aus dem Osten hielt an, erst im Jahr 2018 gab es einen Überhang von ca. 500 Personen, die vom Westen in den Osten zogen.

      Um den Osten attraktiver zu machen und natürlich auch um Arbeitsplätze zu schaffen, initiierte man eine ganze Menge Infrastrukturprojekte. Wie lange eine Angleichung der Lebensverhältnisse wirklich dauert, und wie sich die Dinge in der Zwischenzeit entwickeln können, sieht man sehr anschaulich am größten Infrastrukturprojekt der Deutschen Bahn, VDE-8: Es brauchte 26 Jahre, von 1992 bis 2018, um Berlin und München mit der neuen ICE-Trasse zu verbinden. Die Strecke verläuft durch Brandenburg, Sachsen, Thüringen und Bayern. Somit braucht man zwischen Leipzig und München nur noch ca. drei Stunden. Leider wurde durch den Bau Jena, eine der wichtigsten Leuchtturmstädte im Osten mit vielen Technologiefirmen, vom direkten ICEVerkehr abgeschnitten, die Trasse verläuft über Erfurt. Dass sich Jena so gut entwickeln würde im Vergleich zu anderen Städten, hatte man bei der langfristigen Planung nicht abschätzen können.

      Die Ungleichheit, die man untereinander verspürte, kam in Witzen oder in Satire zum Ausdruck. Während die Ossis sich über die arroganten Wessis Witze erzählten, kam im gesamtdeutschen Privatfernsehen immer mal wieder der unbedarfte, dümmliche Ossi mit schlechtem Geschmack und schrecklichem Dialekt vor: Ein berühmter TV-Komiker, dessen Scherze ausschließlich auf Kosten anderer funktionierte, vertonte Mitschnitte aus anderen Sendungen, unter anderem eine Hausfrau aus Sachsen, die sich bei einer TV-Gerichtsshow darüber aufregte, dass ihr Nachbar ihren Maschendrahtzaun beschädigt hatte. Die Aussprache verschiedener Wörter wurde in einen Liedtext eingefügt. Alles in allem lag der Witz darin, dass die Dame einen sehr breiten sächsischen Dialekt sprach. Ganz Deutschland lachte darüber, aber so platt der Witz war, einer beiderseitigen Annäherung von Ost und West war er sicherlich nicht dienlich.

      Andere Formate und Protagonisten, von „Go, Trabbi, go“ bis Sachsen-Paule, bedienten das Klischee des kauzigen Ostdeutschen mit starkem Dialekt, der sich zwar nicht auskennt, aber sehr störrisch ist. Gleichzeitig verzichteten auch die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten im Rahmen einer Fernseh-Serie, dem gesamten Land ein Bild von Ostdeutschland zu vermitteln. Bis zum letzten Atemzug einer Person in der Nebenrolle musste die „Lindenstraße“ produziert werden, statt der ganzen Nation in diesem Format die Augen für die Lebenswelt im Osten zu öffnen. Aus heutiger Sicht ist das ein eklatantes Versäumnis der verantwortlichen Intendanten.

      Für mich wie viele andere Ostdeutsche war dieses Bild sehr abstoßend, es spiegelte uns nicht wider, wir wollten damit nicht in Verbindung gebracht werden. Daher wollten viele Ossis sich nicht mehr outen, manche schämten sich für ihre Herkunft und verleugneten sie. Eine Bekannte aus Gotha, die 1990 nach Baden-Württemberg ging, kam zu Besuchen in ihrer Heimat mit einem so starken Schwäbisch zurück, dass man sie kaum verstand. Damit hatte sie ihre Integrationsfähigkeit im Schwäbischen auf die Spitze getrieben. Auch wenn diese Übertreibung bestimmt eine Ausnahme ist, die vielen Ostdeutschen im Westen wurden oft gar nicht mehr als solche wahrgenommen. Sie bauten sich ein Leben auf und waren in ihrer Lebensweise von vielen Wessis nicht mehr zu unterscheiden.

      In Ostdeutschland wurde jedoch die Stimmung immer schlechter. Die fehlenden Perspektiven in vielen Gegenden und die damit verbundene Abwanderung der jungen, gut ausgebildeten Ostdeutschen war lähmend. Meine Eltern siedelten 2002 nach Baden-Württemberg über, unter anderem auch deshalb weil sie, nach eigener Aussage, die „Jammer- Ossis“ selbst nicht mehr ertragen konnten.

      In den Jahren kam mir der Osten vor wie ein Heranwachsender, der erstmal ausreifen muss. Als es bei uns 2006 hieß, wir würden in den Osten ziehen, war mein erster Gedanke: „Muss das sein?“ Jammertäler in desolatem Baubestand hatte ich vor meinem inneren Auge. Vor der Unterzeichnung des Arbeitsvertrages fuhren wir auf dem Weg nach Berlin von der ehemaligen „Transitstrecke“ in Leipzig ab. Die „Einflugschneise“ von der A9 in Richtung Leipziger Innenstadt sah damals grausig aus: abgerockte leerstehende Häuser.

      Andererseits empfand ich es als kleines Abenteuer, in diese neue Stadt im Osten zu ziehen, raus aus dem saturierten Westen, wo alles so war, wie es immer war.

      Rückblickend war der Zeitpunkt ideal: Leipzig kam gerade aus der Talsohle raus und die Gesellschaft waren offen. Ich habe in kurzer Zeit die interessantesten Personen kennengelernt und unvergessliche Einblicke in verschiedene Lebens- und Berufswelten erhalten. Das wäre mir im Westen nie passiert, wo viele bereits ihren festen Bekanntenkreis haben und „Neuzugänge“ es schwer haben.

      Die Koordinaten sind nun andere: Schnell nach Frankreich oder Holland fahren, ist jetzt mit einem deutlichen längeren Weg verbunden. Dafür haben wir Polen für uns entdeckt. Überhaupt haben wir unsere östlichen Nachbarländer erst mal kennengelernt und damit unseren Fokus insgesamt auf den Osten hinter dem Osten gerichtet. Das war und ist eine bereichernde Erfahrung für mich, deren Hemisphäre während meiner Kindheit 240 Kilometer weiter östlich endete.

      In den folgenden Jahren verschwand das Thema Ostdeutschland immer mehr von der Bildfläche. Viele Ossis hatten selbst keine Lust mehr darauf, und im Westen war es noch nie ein umfassendes Thema gewesen, wenn es nicht gerade um aktuelle politische Themen ging. So gab man Sportspiele wie gewohnt an westdeutsche Sportstätten, man berichtete vom Oktoberfest, von der Hannover-Messe und der Kieler Woche. Dass es wenig über den Osten zu berichten gab und woran das lag, das hinterfragte im Westen niemand.

      Im Osten begann, zunächst schleichend, eine offene Verklärung. „So schlimm war das doch gar nicht“, „Das kann man doch auf keinen Fall mit dem Dritten Reich vergleichen“, waren die ersten Sätze, die immer mal wieder kursierten, bis hin zu Statements von Ex-Stasi-Offizieren wie: „Die Stasi war ein ganz normaler Geheimdienst, wie jedes Land einen hat.“ Ein Höhepunkt der Verharmlosung und Rechtfertigung der Verbrechen, die vom DDR-Regime begangen wurden.

      Die Aufarbeitung im Osten konzentrierte sich auf die Stasi-Verbrechen. Die SED selbst in Form ihrer Nachfolgeorganisation PDS schaffte die Transformation in die neue Zeit und ist bis heute als Partei Die Linke im Bundestag und in vielen Landtagen vertreten, eine nennenswerte interne Aufarbeitung gab es nicht. Alte Funktionsträger, deren Verstrickungen nicht allzu offenkundig waren, bekleiden bis heute dort wichtige Posten, das gilt auch für Positionen außerhalb dieser Partei.

      Die juristische Aufarbeitung der Stasi- und SED-Verbrechen fand sehr zögerlich statt. Von den ca. 100.000 Beschuldigten in ca. 75.000 Ermittlungsverfahren wurden nur 1.737 angeklagt, davon wurde rund die Hälfte verurteilt, kam aber zum größten Teil mit Geld- oder Bewährungsstrafen davon. Nur ca. 40 Personen wurden mit einer Haftstrafe belegt. Die Menschen im Osten stellten ernüchtert und resigniert fest, dass viele Verbrechen nicht bestraft wurden, dies stärkte den Glauben in das neue System nicht und verwässerte die Schwere der Taten der Vergangenheit. Marianne Birthler, zwischen 2000 und 2011 Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, formulierte treffend: „Wir wollten Freiheit und bekamen den deutschen Rechtsstaat.“

      Wirtschaftlich gleichen sich nun die beiden Teile Deutschlands langsam an, zumindest in den sogenannten Leuchtturm-Regionen. Die Lebensverhältnisse verbessern sich, die Zufriedenheit wächst, obwohl die Menschen im Osten im Schnitt 24 Prozent weniger verdienen als ihre Kollegen im Westen. Die Sanierung ist in vielen Teilen abgeschlossen, mittlerweile werden wieder Arbeitskräfte gesucht, man spricht sogar schon von Fachkräfte-Mangel. Erstmals ziehen seit 2018 wieder mehr Menschen in die ostdeutschen Länder. Der Osten hat sein Schmuddel-Image etwas

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