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eine Sekunde des Schweigens war dieser Fistelstimme vorangegangen; diese Sekunde aber glich einer Stunde — einer unendlichen Stunde.

      Doch nahm er sich sofort zusammen; er meinte nur:

      »So, ich stehe zu Ihren Diensten —« Und dabei dachte er: die Höflichkeit habe ihn vernichtet . . .

      »Eingedenk Ihres Mitfühlens mit uns, kam ich . . .«

      »Alles, was ich nur kann« — schrie Nikolai Apollonowitsch heraus und dachte: er sei doch ein vollendeter Esel . . .

      »Eine kleine, o, eine ganz kleine Gefälligkeit . . .« (Nikolai Apollonowitsch horchte gespannt):

      »Pardon . . . darf ich um die Aschenschale bitten?«

       Inhaltsverzeichnis

      Es war eine nebelreiche, sonderbare Zeit: mit frostigem Schritt zog durch Rußlands Norden der giftige Oktober; im Süden aber hingen bereits seine Fäulnisnebel in der Luft. Er jagte das goldene Waldflüstern aus den Bäumen, und das goldene Waldflüstern legte sich ergeben auf den Boden — ergeben fiel das Espenlaub zu Boden, wirbelte und klebte an den Füßen der Passanten, wisperte und flocht gelbrote Worte aus Blättern. Das süße, in der septemberlichen Laubwelle badende Piepsen der Meisen, es badete längst nicht mehr in den Laubwellen; und die Meise selbst hüpfte jetzt verwaist im Netzwerk der nackten Zweige umher.

      Es war eine nebelreiche, sonderbare Zeit; die Froststürme nahten schon in den bauschigen Wolken, die bleiern waren und blau, aber alle glaubten an den Frühling: vom Frühling berichteten die Zeitungen, vom Frühling unterhielten sich die Staatsbeamten der allerletzten Klasse; an den Frühling mahnte ein damals populär gewesener Minister; und direkt nach Maiveilchen dufteten die Seelenergüsse in den Briefen einer Petersburger Studentin.

      Die Bauern hatten längst aufgehört, den rauhen Boden zu pflügen; ihre Pflüge warfen sie fort, die Bauern, ebenso ihre Eggen; sie sammelten sich in Häuflein vor ihren Hütten und erörterten die Nachrichten der Zeitungen; sie sprachen und debattierten und bereiteten sich vor, in einer vereinten Schar gegen das Gutsherrenhaus zu ziehen, gegen das Haus mit den Säulen, das sich in den Wolga-, Kama- und selbst in den Dnjeprwellen spiegelte; der Feuerschein der brennenden Güter leuchtete in den langen Nächten über Rußland; der Tag aber verwandelte das Leuchten in das Schwarz der Rauchsäulen. Da aber konnte man in den entlaubten Büschen Haufen zerzauster Kosaken erblicken, die die Läufe ihrer Flinten gegen den Alarmturm richteten; auf ihren zerzausten Pferden sprengten dann ihre Abteilungen hervor, blaue bärtige Menschen rasten, die Nagaiken schwangen durch die herbstlichen Fluren dahin.

      So war es auf dem Lande.

      Aber so war es auch in den Städten. In den Werkstätten, Friseurläden, Milchgeschäften, Wirtshäusern, überall trieb sich ein redseliges Subjekt umher; die aus den blutgetränkten Feldern der Mandschurei mitgebrachte, buschige Pelzmütze in die Stirn gedrückt, in der Seitentasche ein — weiß Gott woher herbeigeschaffter — Browning, steckte das redselige Subjekt zum soundsovielten Male dem Vorübergehenden ein schlecht gedrucktes Blättchen in die Hand.

      Alles wartete, hoffte und fürchtete sich; man lief beim leisesten Geräusch auf die Straße, versammelte sich in Haufen und ging wieder auseinander; so lebten in Archangelsk die Loparen, Korelen und Finnen; in Nischne-Kolymsk die Tangusen; am Dnjepr — die Juden und die Kleinrussen. In Petersburg und Moskau lebten so alle: man wartete, fürchtete sich, hoffte; beim leisesten Geräusch rannte man auf die Straße; man versammelte sich in Haufen und ging wieder auseinander.

      Die Zusammenstöße in den Straßen häuften sich: die Zusammenstöße mit den Hausportiers, den Wächtern, den Revieraufsehern; die Hausportiers, die Polizisten und besonders die Revieraufseher wurden von jedem belästigt: vom Arbeiter, vom Abcschützen, vom Kleinbürger Iwan Iwanowitsch Iwanow und seiner Gattin, selbst vom Ladeninhaber Pusanow, der in den vergangenen besseren Tagen den Revieraufseher bald mit Lachs, bald mit kernigem Kaviar beschenkt hatte. Jetzt wandte sich der wohlgeborene Kaufmann Pusanow gegen den Revieraufseher und das andere »Gesindel«: so etwas schüchterte den Polizeibeamten ein: grau, in grauem Mantel, wanderte er unbemerkt wie ein Schatten daher und zog in Ehrfurcht beflissen seinen Säbel ein, mit zum Boden gesenkten Augen.

      So fristete zu jener Zeit seine Tage der Polizeibeamte in irgendeinem Kem; so fristete er die Tage in Petersburg, Moskau, Orenburg, Taschkent, kurz, in all den Städten, die zum Russischen Reiche gehörten.

      Petersburg ist von einem Ring vielschlotiger Fabriken umgeben; die Vorstadt ist wie ein Ameisenhaufen belebt. Zu jener Zeit waren alle in den Fabriken höchst aufgeregt; und die Anführer der Haufen wurden alle zu redseligen Subjekten; es zirkulierte unter ihnen der Browning; und noch etwas. Die üblichen Schwärme wuchsen in jenen Tagen unmäßig an und verdichteten sich zu vielköpfiger, vielstimmiger, riesenhafter Schwärze; und griff ein Fabrikinspektor nach dem Telephonrohr, so wußte man schon: gleich wird ein Steinhagel aus der Menge zu den Fenstern fliegen.

      Petersburg selbst blieb unverändert; nur ein einziges Mal zogen Scharen von Menschen, von Geistlichen gefolgt, über den Newskij-Prospekt: man trug den Sarg eines Professors; voran wälzte sich ein Meer von Grün; blutrote Atlasbänder wehten in der Luft.

      Es war eine neblige, sonderbare Zeit; mit frostigen Fersen schritt der Oktober durchs Land; frostiger Staub flog in braunen Stürmen durch die Stadt; und ergeben legte sich das goldene Blättergeflüster auf die Wege des Sommergartens, ergeben legte sich das raschelnde Laub zu den Füßen der Passanten, um, vor ihnen herjagend, an ihren Füßen hängenzubleiben; raunend flocht es gelbrote Worte aus Blätterbüscheln; das Meisengepiepse, das den ganzen August in den Laubwellen gebadet hatte, badete längst nicht mehr in den Wellen des Laubes; und die Meise im Sommergarten hüpfte verwaist im Netz der trockenen Zweige umher, hüpfte auf dem bronzenen Gitter und flog auf das Dach über dem Häuschen Peters des Großen.

      So waren die Tage. Die Nächte aber — — Bist du schon nachts einmal gewandert, befandest du dich da in einem entlegenen Vorstadtgehölz, und hast du da die aufdringlichen, schreckenden U-Laute vernommen? »Uuuu — uuuu — uuuu«: so tönte es in der Ferne; war es überhaupt ein Laut? Wenn’s aber ein Laut war, so kam er sicher aus einer anderen Welt; von seltener Stärke und Klarheit: »Uuuu — uuuu — uuuu«, tönte es in den Vorstädten von Moskau, Petersburg, Saratow; doch die Fabrikpfeife hatte geschwiegen, der Sturm hatte nicht gepfiffen, und stumm war der Haushund geblieben.

      Hörtest auch du einmal das Oktoberlied von neunzehnhundertundfünf? Ein solches Lied hatte es vorher nicht gegeben; ein solches Lied wird es nicht mehr geben: nie mehr.

       Inhaltsverzeichnis

      Über die Stufen des Amtsgebäudes schreitend, sich mit der Hand an des Geländers kalten Marmor stützend, blieb Apollon Apollonowitsch mit der Fußspitze an dem Plüschläufer hängen und — stolperte; unwillkürlich verlangsamte sich sein Schritt; da geschah es, daß seine Augen eine Zeitlang an dem Riesenporträt des Ministers hafteten, der mit traurigem und mitleidigem Blick vor sich hin sah.

      Das Rückgrat Apollon Apollonowitschs durchzog eine Frostwelle: das Gebäude war wenig geheizt. Wie eine Ebene schien Apollon Apollonowitsch der weiße, ausgedehnte Raum.

      Er hatte Angst vor dieser Weite. Der Raum ängstigte ihn noch mehr als der Zickzack oder die gebrochene Linie; eine Dorflandschaft war ihm ein Schrecken: dort hinter Schnee und Eis, hinter der gewundenen Linie des Waldsaums, in der sich kreuzende Luftströme im Schneesturm rasen, dort wäre er einst einmal, einem Zufall zufolge, beinahe erfroren.

      Es geschah vor fast fünfzig Jahren.

      In jener damaligen Stunde des einsamen Erfrierens hatte er gefühlt, wie kalte Finger seine Brust durchbohrten und grausam streichelnd sein Herz

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