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Petersburg. Andrei Bely
Читать онлайн.Название Petersburg
Год выпуска 0
isbn 4064066116255
Автор произведения Andrei Bely
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
»Ich aber nicht; doch wenn ich so allein sitze . . . da sag’ ich mir: warum bin ich — ich? Und da scheint es mir: ich bin es eben gar nicht. Oder: da steht vor dir ein Tischchen. Weiß der Teufel: ist das ein Tischchen, oder ist es keines? Und ich sage mir: was hat doch das Leben aus dir gemacht? Aber glauben Sie: ich bin nur allein krank? Oho: auch Sie, Nikolai Apollonowitsch, sind es. Fast alle sind — krank. Lassen Sie, ich weiß alles, was Sie sagen wollen, und doch: ha—ha—ha! — Fast alle Ideenarbeiter in der Partei sind in derselben Weise krank; nur bei mir tritt es deutlicher hervor. Ich hab’ auch in früherer Zeit, wissen Sie, die Parteiarbeiter gern beobachtet: eine gefüllte Versammlung; Geschäfte, Rauch, Gespräche — über lauter Erhabenes, Edles; mein Genosse ist voll Aufregung; dann aber lädt er mich ein, mit ihm ins Restaurant zu gehen.«
»Nun, und was dann?«
»Nun, da erscheint natürlich Wodka und dergleichen; ein Glas hübsch nach dem anderen; ich beobachte nun: zeigte sich nach dem Wodka um den Mund meines Partners so ein Schmunzeln (welches es ist, kann ich Ihnen nicht sagen), dann wußte ich: auf diesen Ideenarbeiter ist kein Verlaß; seinen Worten und seinem Tun ist kein Glauben zu schenken; dein Partner ist krank — an Willensschwäche, an Neurasthenie; und nichts, glauben Sie mir, nichts in der Welt schützt ihn vor Gehirnerweichung: dieser Partner ist nicht nur fähig, in schwieriger Situation sein Wort zu brechen (Nikolai Apollonowitsch fuhr zusammen): er ist auch fähig zum ganz einfachen Diebstahl und Verrat. Und sein Verbleiben in der Partei ist Provokation, Provokation. Seither lernte ich die Bedeutung solcher, wissen Sie, Fältchen um den Mund, kleiner Schwächen, eines Auflachens, einer Grimasse verstehen; und wohin ich meine Augen wende, überall, überall stoße ich auf Zerrüttung des Gehirns — eine allgemeine, schleichende, nicht zu fassende Provokation — versteckt hinter einem solchen, wissen Sie, kurzen Auflachen; welcher Art — könnte ich Ihnen nicht sagen, aber ich erkenne es mit unfehlbarer Sicherheit — ich habe es auch bei Ihnen erkannt.«
»Dann sind aber auch Sie ein Provokateur. Nehmen Sie es mir nicht übel, ich meine es in idealem Sinne.«
»Ich — ja, ja, ja. Ich bin ein Provokateur. Aber meine ganze Provokation betätigt sich im Namen einer großen, heimlich aus Fernen rufenden Idee; eigentlich nicht einer Idee, sondern einer Strömung.«
Die Erregung des Unbekannten übertrug sich auf Ableuchow; die bläulichen Tabakwellen und die zwölf zerknüllten Zigarettenstummel machten ihn durchaus nervös. Als wäre ein unsichtbarer Dritter zwischen sie getreten.
»Warten Sie, ich geh’ mit Ihnen; mir brummt der Schädel. Wir können draußen ungestört weiterreden.«
»Ein vorzüglicher Gedanke.«
Ein scharfes Pochen an die Tür unterbrach ihn, und ehe Nikolai Apollonowitsch fragen konnte, wer da sei, öffnete der halbberauschte Alexander Iwanowitsch die Tür. Hart vor ihm, fast an seine Stirn stoßend, befand sich ein nackter Schädel mit großen, allzu großen Ohren. Der Unbekannte sprang zurück und sah zu Nikolai Apollonowitsch hinüber; doch was er erblickte, war nur . . . eine Friseurladenpuppe: ein blasses, schönes Wachsgesicht mit unangenehmem Lächeln auf dem bis zu den Ohren gehenden Munde.
In der offenen Tür stand Apollon Apollonowitsch, eine riesige Melone unterm Arm . . .
»So—o—o, so—o—o. Ich habe, scheint es, gestört . . . Ich brachte dir dieses Melonchen da, Kolenka . . .«
Es war Tradition des Hauses, daß Apollon Apollonowitsch, wenn er in der Herbstzeit vom Dienst nach Hause fuhr, eine Astrachaner Melone mitbrachte, für die beide, sowohl er wie sein Sohn, eine Passion hatten.
Alle drei bewahrten einen Augenblick Schweigen; während dieses Augenblicks empfand jeder von ihnen ganz offen eine tierische Angst.
»Mein Universitätskollege, Vater . . . Alexander Iwanowitsch Dudkin . . .«
»So—o—o . . . Sehr angenehm.«
Apollon Apollonowitsch reichte zwei Finger: jene Augen — ohne den schrecklichen Blick; war es in Wahrheit jenes Gesicht, das ihn auf der Straße anblickte? Apollon Apollonowitsch sah vor sich einen schüchternen, offensichtlich von Not bedrückten Menschen.
Doch drei Herzen pochten laut; drei Augenpaare vermieden es, einander zu begegnen. Nikolai Apollonowitsch rannte hinaus, um sich umzuziehen.
Inzwischen knüpfte Apollon Apollonowitsch mit dem Unbekannten ein Gespräch an. Die Unordnung im Zimmer des Sohnes, der Kognak, die Zigarettenstummel machten einen peinlichen Eindruck auf den Senator; aber die Antworten des Unbekannten beruhigten ihn: diese waren völlig zusammenhanglos. Alexander Iwanowitsch errötete immer wieder und gab zufällige Antworten. Er sah vor sich nur gutmütige Fältchen, und aus diesen gutmütigen Fältchen blickten gutmütige Augen: die Augen eines Gehetzten; und die knisternde Stimme formte sich zu Worten, die Alexander Iwanowitsch kaum hörte; nur die Endworte der Sätze fing sein Ohr auf:
»Wissen Sie . . . schon als Gymnasiast liebte Kolenka alle Vögel . . . Er war wißbegierig . . . Jetzt ist er ganz anders: hat alles verworfen . . . Und geht nicht zu den Kollegs . . .«
So redete im Schreiton Apollon Apollonowitsch, der achtundsechzigjährige Greis; etwas wie Mitgefühl regte sich im Herzen des Unbekannten . . .
Nikolai Apollonowitsch trat wieder ein.
»Wo gehst du hin?«
»Ich muß geschäftlich wohin, Vater . . .«
»Zusammen mit . . . Alexander . . . mit Alexander . . .«
»Mit Alexander Iwanowitsch . . .«
»So—so . . . Also mit Alexander Iwanowitsch.« Bei sich dachte Apollon Apollonowitsch: »Am Ende ist es vielleicht am besten: vielleicht waren die Augen nur Einbildung . . .« Weiter dachte Apollon Apollonowitsch, daß — Not keine Schande sei . . . Warum nur der Kognak? (Apollon Apollonowitsch haßte Alkohol.)
»Ja, wir gehen geschäftlich . . .«
Apollon Apollonowitsch suchte nach einem passenden Wort:
»Vielleicht essen wir erst zu Mittag? Alexander Iwanowitsch könnte mit uns speisen . . .«
Apollon Apollonowitsch sah auf die Uhr:
»Übrigens ich will nicht stören.«
»Auf Wiedersehen, Vater . . . .«
»Adieu . . .«
Während sie über den helltönenden Korridor schritten, stand der kleine Apollon Apollonowitsch hinten in der Korridorhalbdämmerung und blickte neugierig den beiden nach.
Und doch, und doch . . . Gestern erblickten ihn diese Augen: Haß und Angst waren in ihnen; und diese Augen: — sie gehörten ihm. — Und eine Zickzackbewegung mit der Hand . . . eine höchst unangenehme — oder war alles gar nicht — war es überhaupt nicht?
»Alexander Iwanowitsch Dudkin, Student . . .«
Apollon Apollonowitsch schritt hinter ihnen weiter.
Im prunkvollen Vorraum blieb Nikolai Apollonowitsch vor dem alten Diener stehen und suchte nach dem Wort, das er sagen wollte.
»Ja—aa . . . aa . . .«
»Zu dienen!«
»Aha . . . das Mäuschen!«
»Jawohl! . . .«
»Bitte, was haben Sie damit gemacht?«
»Mit dem Mäuschen? Auf dem Kai in Freiheit gesetzt . . .«
»Ist es auch richtig?«
»Gewiß doch, gnädiger Herr: wie immer.«
Nikolai Apollonowitsch empfand besondere Zärtlichkeit gegen diese kleinen Bestien.
Beruhigt über das Schicksal der Maus schritt er neben Alexander Iwanowitsch weiter.