Скачать книгу

An die Vielzahl der ungarischen Flüche denkend, schien mir dieser Spruch wichtig zu sein. Nach guter Überlegung meinte ich aber, man müsse auf beide Richtungen aufpassen.

      So ordnete sich langsam wieder das Leben, bis uns ein Brief von Lajos erreichte. Wer war Lajos? Wir hatten nie von Lajos gehört. Dieser Lajos schrieb: “Ich heirate, kommt bitte alle zu meiner Hochzeit!”

      Wir Kinder setzten uns am Abend um Mutter herum. Sie erzählte: “Als wir aus Russland flohen und viele Nächte zu Fuß durch Wald und Feld eilten, um nicht in die Hände der Kosaken zu geraten, da fanden wir in einer Nacht am Ufer des großen Dnjepr einen kleinen Kahn. Wir mussten das Wasser herausschöpfen, damit er mich tragen konnte. ‘Du bist mein teuerstes Gut’, sagte Vater, setzte mich in den Kahn und schwamm selbst nebenher. Als wir ans andere Ufer kletterten, stand noch der Mond am Himmel. Er zeigte uns einen kleinen Weg zwischen großen, großen Kornfeldern. Dort, bei Sonnenaufgang, schickte uns der Allmächtige, mitten in den Feldern, euer erstes Brüderchen. Wir haben es in Vaters weißes Hemd eingewickelt und an unseren Herzen gewärmt. Er aber sagte uns: ‘Habt mich lieb! Vergesst mich nicht, ich werde wiederkommen, wenn ihr ein warmes Bett habt!’ Und so war es.

      Nach vielen Wochen des Wanderns kamen wir nach Ungarn. Dort gründete Vater in einem kleinen Dorf eine neue jüdische Gemeinde. Wir fanden ein zerfallenes Haus, das wir aufbauten, und die Gemeinde schenkte uns zwei Federbetten zum Winter. Und da kam Lajos wieder zu uns auf die Welt. Lajos war ein sehr stiller, lieber Junge, der Vater niemals beim Studium störte. Denn damals begann Vater sein Kabbala-Studium. Er schob unsere Betten für neun lange Jahre auseinander. Lajos wuchs heran, er war ganz mein Junge und erst als er elf Jahre alt war, bekam er sein erstes Schwesterchen, das war Karoline. Dann kam bald unsere Frieda und zuletzt Davidel. Vater wurde bald von größeren Gemeinden gebeten, dort Rabbiner zu sein. Aber er wollte nur in Dörfern bleiben, um viel Freizeit für sein Studium zu behalten. David wurde in Nagisimonyi geboren; wir waren nun eine große Familie geworden und wir waren sehr arm. Für Lajos kam die Zeit seiner Bar-Mitzwa (Volljährigkeit) und Vater beschloss, ihn mit seinen dreizehn Jahren in eine Talmudschule zu schicken, um dort Rabbiner zu werden. Zuerst bekamen wir oft Briefe und dann immer seltener und seltener. Nun ist mein Lajos ein großer Mann geworden und heiratet. Vater hat beschlossen: wir gehen alle zu seiner Hochzeit!” Mutter strahlte.

      Der stolze Wagen des Bürgermeisters brachte uns zur Bahn.

      Es kam der unvergessliche Moment, als wir beiden Brüder uns betrachteten. Lajos war fast so groß wie Vater, trug einen kleinen Bart. Die Augen strahlten nicht wie die Vaters, sie waren traurig und sein Rücken leicht gebeugt. Seine Erscheinung erfüllte mich nicht mit Bewunderung, wohl aber seine Braut, die ich sehr schön fand. Ich sagte:

      “Du hast aber gut ausgesucht, Lajos!” Worauf er still lächelte. Als ich aber fragte: “Hast du auch schon mit fünf Jahren die Mischna mit Vater studiert so wie ich?”, gab er keine Antwort und schaute in die Ferne. Vater befahl mir zu schweigen. Lajos war es nicht vergönnt gewesen, neben Vater zu studieren; es war damals die Zeit, als Vater sich gänzlich in die Kabbala vertieft hatte.

      Die Vermählung war ganz orthodox. Wir Kinder spielten derweil im Hof, natürlich auch Hochzeit. Man bestimmte mich zum Bräutigam und die kleine Nichte der Braut war meine Auserwählte. Als die Großen dann zu uns hinüberkamen, belustigt zuschauend, da donnerte Vaters Stimme: “David, schämst du dich nicht, mit kleinen Mädchen solche Spiele zu spielen?”

      Ich war gekränkt und antwortete couragiert: “Warum darf Lajos das und ich nicht?”

      Hätte das laute Lachen der Anwesenden mich nicht gerettet, wäre dies der Anlass zu einer tüchtigen Tracht Prügel gewesen.

      Der Altersunterschied zu Lajos hatte mich nicht beeindruckt. Seine Hochzeit blieb die einzige Begegnung zwischen uns Brüdern, bis zu Vaters Beerdigung. Aber seine traurigen Augen haben mich später manchmal angeschaut, und ich lernte meinen “stillen Bruder” auf den langen Wegen, Rabbiner zu werden, lieben und verstehen.

      Die Hühnchen

      War es zu Lajos’ Hochzeit die herrlich gebratene Hühnerkeule auf meinem Teller, die mir keine Ruhe gab? Warum sollten wir nicht, wie alle Menschen, auch das Recht haben, wenigstens einmal in der Woche, zu Ehren des Sabbat, Fleisch zu essen? Es kam mir eine Idee, um nicht länger diese Ungerechtigkeit zu dulden: Bei Sonnenuntergang, wenn die Mutterhennen ihre kleinen Küken zum Schlafengehen rufen und über den Weg mit ihren Kindern heim eilen, mir ein kleines einzufangen. Ich bin dann schnell damit nach Hause gelaufen. Mutter war entsetzt!

      “Mamme, es ist ein verirrtes Hühnchen, ich habe es von der Straße gerettet. Darf ich es großziehen? Es wird uns Eier legen, Kinder auf die Welt bringen. Wir werden wie alle Menschen Hühner haben.” Mutter nickte.

      Es sind langsam aus dem einen Hühnchen etwa siebzehn “Verirrte” und “Gerettete” geworden. War ich ein Lügner?

      Meine Weltanschauung der Gerechtigkeit hielt allen Zweifeln stand. Ich wollte sie selbst vor Gott verantworten. Die Küken schliefen mit mir in der Küche, bekamen Tellerchen mit Wasser und Brot wie wir. Mutter half bald, eine kleine Leiter zu machen, weil die Hühnchen jetzt schon eine gewisse Höhe zum Schlafen suchten. Eines Tages schlich eine Katze herein; es gab großes Geschrei. Vater kam aus seinem Studierzimmer.

      “Was ist hier geschehen?”

      “David hat Hühnchen bekommen, er will sie großziehen”, sagte Mutter.

      “Und wo ist die Henne?”

      “Papa, es sind Waisenkinder, ich will die Henne sein!”

      “Soll’s sein, wenn du dein Studium nicht vernachlässigst”, sagte Vater.

      Glücklich rannte ich, in der Hand irgendeine heilige Schrift, mit meinen Hühnchen im Garten herum. Wenn ich wie eine Henne rief, rannten sie mir nach wie einer Mutter. Beim Essen standen sie um mich herum, pickten von der Hand und auch aus meinem Munde! Ach, wie waren sie alle süß! Bauern, die vorbeigingen und sahen, wie ich mich mit den Hühnchen abgab, lächelten. Am Abend rief ich sie zum Schlafen und wir rannten in die Küche. Am Morgen sprangen sie auf mein Bett, meinen Strohsack und machten Krawall, sie wollten nämlich essen. Jedesmal, wenn ich Vater auf seinen Wegen in die umliegenden Dörfer begleitete, habe ich für meine Hühnchen Kukurutz, das ist Mais, erbeten. Nie hätte ich so etwas für mich selbst gewagt, aber für meine Kinder hatte ich viel Courage. Sogar Vater fragte lächelnd: “Gibt es etwas für Davids Hühnchen?” Man sagte schon: “David wird noch ein Großgrundbesitzer werden.” Die Bauern zogen ein bisschen an meinen Päis und ich erhielt Hühnerfutter. Der Sack auf meinem Rücken war mir niemals zu schwer. Zuhause angekommen, rannten sie uns entgegen, einige versuchten schon ihre Flügel. Vater hatte auch seine Freude daran, denn ich habe trotz allem mein Studium nicht vernachlässigt.

      Eines Tages erkrankte ein Kleines. Erschüttert hob ich es auf und rief alle Hühnchen zusammen. Sie waren gar nicht gerührt von diesem Unglück, und in der Gleichgültigkeit seiner Geschwister starb das Hühnchen in meinen Händen. Mir war, als nehme Gott seine Seele und seine Wärme zu sich zurück. Ich weinte so sehr. Mutter half mir, es, eingewickelt in ein weißes Läppchen, in eine Schachtel zu legen. Ich erklärte meinen Schwestern, es sei so Sitte bei uns.

      “Aber David,” sagten sie zu mir, “das Hühnchen ist doch nicht bei den Juden geboren!”

      Es wurde am Zaun unseres Gartens begraben. Als ich es in das Grübchen legte, stand Mutter neben mir mit Tränen in den Augen ... Wer weiß, an was sie sich erinnerte. Von dünnen Hölzern gemacht, stellte ich ein Kreuz auf das Grab.

      “Was machst du denn da?”, fragte Mutter.

      “Es ist ja bei den Christen geboren, da gebührt ihm das Kreuz.”

      “Wenn Vater das sehen wird?”

      “Mamme, es ist nur Gerechtigkeit.”

      Doch Vater bemerkte von alledem nichts.

      Die Hühnchen wuchsen, meine Schwestern standen mir beim Namengeben bei: Die weiblichen bekamen die Namen der Stammmütter, die männlichen die der Stammväter. Einen nannten wir ‘König David’. Er

Скачать книгу