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Rabbiner, es war der Geistliche selbst, der es in der Kirche gesagt hat. Im Katechismus hat er auch so zu den Kindern gesprochen. Er weiß ja vieles, was wir nicht wissen. Wir sind aber doch zu Ihnen gekommen, um die Wahrheit zu hören.”

      “Ich danke euch.” Ehrfürchtig rückwärts schreitend, die Mütze in der Hand, verließen sie das Haus.

      So endete unser Pessach-Fest in Sajó-Kesznyetem. Vater erhob sich: “Mein Sohn soll nicht mehr in die Lehre eines solchen Mannes gehen!”

      Bald verließen wir auch das Dorf Sajó-Kesznyetem. Die Bäuerinnen eilten herbei, die Arme voller Geschenke für Mutter.

      Vater sagte: “Das Volk ist unschuldig!” und segnete sie.

      Wieder bellten die Hunde unserem Wagen nach. Am anderen Ende des Dorfes hörte ich die Glocke der Kirche läuten. Irgendwie fühlte ich mich selig, wieder eine Reise machen zu dürfen.

      Vater schaute ernst aus. “David, ein Mann, der zu Gott betet, kann nicht gänzlich schlecht sein. Vielleicht wollte er nur allein über Sajó-Kesznyetem herrschen. Wir haben ihn gestört.”

      Die schnaufende Kraft

      Unser Wagen hielt bald an einem Bahnhof. Es kam für mich die erschütternde Begegnung mit einer Lokomotive. Mit wachen Sinnen fühlte ich das Wunder dieser Erfindung. Die große Macht dieser Maschine war für mich die erste Begegnung mit der Epoche, in welcher ich lebte.

      Immer am Anfang und am Ende meiner späteren Reisen habe ich mit Bewunderung, fast mit Liebe die schnaufende Kraft der Lokomotive geehrt, oft auch mit Lokomotivführern geplaudert. Sie gehört zu den Träumen und Realitäten meines Lebens.

      Nun verschwanden alle unsere Kisten und Kasten in dieser Erfindung, außer den Strohsäcken, die blieben zurück. Es erfasste mich ein großer Schreck, aber Mutter nahm schnell meine Hand, lächelte und zeigte auf ihr Mieder. Dort war jetzt das Versteck unseres Geheimnisses. Vater war gleich auf einen freien Platz zugegangen, setzte sich neben den Bauer auf die Holzbank, holte ein Buch aus der Tasche und las. Diese Umgebung schien sein Interesse nicht zu wecken, aber das meine. Ich stellte fest, dass die Leute, hatten sie einmal einen Platz gefunden, begannen, ihren Proviant hervorzuholen und lauter für uns verbotene Dinge zu essen. Sie legten sogar Speck und Blutwurst aufs Brot, tranken Wein dazu und aßen hinterher Käse. Fleisch und Milch zu mengen ist uns auch verboten. Mein schon aufgeregter Magen wollte sich fast umdrehen. Dann fingen sie an zu rauchen oder zu schnarchen, derweil Gottes Schöpfung an ihnen vorbei eilte, was sie nicht zu interessieren schien. Das Rütteln der rollenden Wagen, den Kopf in Mutters Schoß, bin ich, in dieser Musik, dann doch eingeschlafen.

      “Wach auf, David! Wir sind angekommen”, rief Karoline.

      Mir war, als wäre ich viel weiter als nach Petrozseny gereist.

      Petrozseny

      Petrozseny ist eine Stadt dicht an der rumänischen Grenze. Ihr Bahnhof war, nach meinem Ermessen, unserer Lokomotive würdig; seltsamerweise standen auf ihm eine solche Menge Juden, dass es meine Vorstellung übertraf. Alle trugen schöne Kaftane und große, hohe Hüte, und diese Menge strömte auf Vater los! Es war aufregend, aber es gefiel mir sehr. Auch würdig gekleidete Christen standen um eine prachtvoll gestickte Fahne und gingen in Richtung Vater. Einer dieser Herrschaften begrüßte mit einer langen Rede den neuen “Herrn Oberrabbiner von Petrozseny” und wir wurden mit der Fahne aus dem Bahnhof geleitet.

      Auf dem großen Platz stand eine neugierige Menschenmenge, um sich den neuen Oberrabbiner zu beschauen, und Vater segnete das Volk. Seltsame Wagen, große und kleine, standen am Rande des Platzes, alle nur so gemacht, um nichts anderes als Menschen hineinzusetzen. Einer von ihnen war für unsere Familie. Seine beiden Pferde trabten dann durch lange Straßen, lauter Geschäfte rechts und links. Was wird hier mit meinen Päis geschehen? Bevor ich eine Antwort fand, hielt unser Wagen vor einer prächtigen Synagoge. Mir war wie im Traum. Neben ihr war unsere Wohnung. Unsere Wohnung! Ach, wie war hier alles überwältigend schön! Ich kann mich noch heute der Herrlichkeiten und Konfitürengläser erinnern, die auf dem Küchentisch für uns bereit standen. Es gab für jeden ein Zimmer! Für Vater gab es noch einen richtigen Hamidrasch, um seine Studenten zu unterrichten, und einen Salon, wenn andere Rabbiner oder Gäste ihn besuchten. Mein Staunen fand kein Ende. Dies war die Welt des reichen Herrn, der uns mit seinen Kindern in Kurtakeszy besucht hatte. Ich war sicher, es konnte nicht anders sein.

      Mutters Augen wurden hier ein sanft leuchtender Himmel – und lustig wurde Mutter auch. Alle Tage gab es zu essen! Zu Ehren des Sabbat gab es Fleisch und Wein. Wir bekamen auch neue Kleider und fühlten uns so wohl darin. Vaters Zeit war sehr angefüllt mit Unterricht, Vorträgen, dem Gottesdienst und der Beantwortung von Fragen und Briefen. Man kam von weit her, um Vater zu sehen und zu hören.

      Auch mein Leben wurde angefüllt. Am Tag die weltliche Schule, wo sich seltsamerweise niemand um meine Päis kümmerte, denn es gab manche, die sie trugen. Am Abend ging ich mit viel älteren Kameraden zum Talmudstudium zu Vater. Dieses Leben war herrlich. Ich wollte einmal wie Vater eine angesehene Persönlichkeit werden. Mein glänzendes Schulzeugnis verriet mein Ziel: alle Fächer ausgezeichnet. Nur im Singen ungenügend, weil ich keine Noten lesen konnte. Ich liebte es sehr zu singen und verlor sehr schnell diese Unwissenheit. Aber dies alles zusammen wurde etwas zu viel und eines Morgens hatte ich verschlafen. Karoline kam mit mir zu spät zur Schule, das Tor war verschlossen. Karoline fand eine großartige Lösung: Wir werden inzwischen an den Rand der Erde gehen, uns dort hinsetzen und mit den Beinen so lange baumeln, bis es Zeit wird, nach Hause zu kommen, so als ob alles in Ordnung wäre. Am Erdrand mit den Beinen baumeln – das reizte mich. Auf der ersten Landstraße sahen wir schon gleich in der Ferne hinter den Bäumen den Rand der Erde.

      “Dort ist er”, rief Karoline begeistert. Aber der Rand kam nicht zu uns und wir nicht zu ihm. Aber wir sahen die Sonne am Rand heruntergleiten. Es wurde Nacht. Glücklicherweise war es Sommer und wir legten uns am Wegrand zum Schlafen nieder, aber so, dass wir morgens gleich wussten, wo die Sonne am Rand heruntergegangen war, dort musste ja der “richtige Rand” sein! In der Frühe hätten wir uns fast gezankt, denn Karoline behauptete, wir hätten uns im Schlaf gedreht, und ich sagte, die Sonne sei nicht am selben Rand zurückgekommen. Auf alle Fälle liefen wir mit neuen Kräften in Richtung Sonnenaufgang. Wir liefen und liefen und wussten immer weniger, wo der Rand zu finden sei. Es wurde Mittag, es wurde wieder Nacht. Ich hörte Vaters Stimme: “Wer nicht seinen Blick zum Firmament erhebt, der weiß nicht, wie klein er ist”, und ich setzte hinzu: “und seine Beine tun ihm weh!” Zwei Gendarme fanden uns schließlich gänzlich erschöpft im Straßengraben. Sie sprachen rumänisch. Die Sprache vom Ende der Welt?

      Glücklicherweise war es Mutter, die uns die Tür öffnete.

      “Mutter!”

      Vater kam auch, mit schwarzen Augen, die uns durchbohrten. Ein Wunder geschah: Nicht ich bekam die Züchtigung von Vaters Hand, nein, diesmal war es Karoline. “Du bist die Ältere und du hast die Dummheiten deines kleinen Bruders zu verhüten!” Tief beschämt und erschöpft kroch der kleine dumme David ins Bett. Wie gerne hätte ich die Züchtigung bekommen. Aber es war etwas viel Schlimmeres geschehen: Ich hatte Mutter schluchzen, ja weinen gemacht; ich hatte Mutter ganz vergessen, um einer Dummheit halber! Mutter hatte uns angeschaut, als wenn wir vom Himmel zurück in ihre Arme gefallen wären, und hatte dabei bitterlich geweint.

      Gott wollte es so

      Wir genossen das Leben einer bürgerlichen Familie. Wir drei Kinder saßen in unsere Schularbeiten vertieft vor einer Tasse Tee und einem von Mutter selbst gebackenen Kuchen. Wir fühlten uns behütet und eingeordnet in das Leben, welches uns umgab, als eines Tages Vater unerwartet, mit einer furchterregenden Ausstrahlung hereinkam. Er blieb an der Tür stehen, unbeweglich. Seine Blicke glitten durch den Frieden unseres Heimes, unseres Lebens hier. Lange blieb Vater so stehen, bis auch der Friede zu ihm kam. Dann sagte er klar und ruhig: “Channe Fegele, wir wollen unsere Sachen packen.”

      Nie werde ich Mutters Blick vergessen. Leise, als hätte sie keine Kraft mehr, fragte Mutter: “Elie, was ist geschehen?”

      Wir Kinder zitterten vor Angst.

      Vater

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