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und nicht mehr die Menschen.

      Bakony-Tamasi liegt in einem der Täler dieses riesigen Waldes. Vaters Gemeinde bestand aus etwa fünfundzwanzig jüdischen Familien in Bakony-Tamasi und den im Umkreis liegenden Dörfchen, wo jeweils noch zwei oder drei jüdische Familien lebten. Zweimal wöchentlich besuchte Vater diese Dörfchen seiner Gemeinde und ich durfte ihn begleiten. Ein solcher Rundweg war fast dreißig Kilometer lang. Wir zählten die Kilometersteine und Vater setzte sich von Zeit zu Zeit auf einen nieder und hörte meine auswendige Rezitation des Wochenabschnittes der Thora an. Beim Wandern sangen wir zusammen Psalmen und jiddische Volksweisen. Ich trug auf meiner Schulter einen festen Stock, an dem ein Tuch angeknüpft war, worin wir Kartoffeln, Gemüse, Mehl und auch mal Eier, Geschenke für Vater, nach Hause brachten.

      Unser Heim war am Ende einer sehr langen Häuserflucht von lauter aneinander gebauten kleinen Wohnungen. Alle waren von einem einzigen langen Strohdach bedeckt. Gegenüber gab es die Ställe für Ochsen, Kühe, Gänse und Hühner. Auch Pferde gab es, man hörte sie in der Nacht in ihren Träumen grunzen und seufzen. Ein Dorf für Tiere dachte ich. Trotzdem gab es eine Schule für Kinder hier, mit sogar zwei Lehrern: dem katholischen und dem protestantischen Geistlichen. Wir kamen gerade vor der Prüfungszeit an, so musste ich in acht Tagen alles nacharbeiten. In der Prüfungskommission saßen einige Großbauern, und mit strengen Gesichtern wurde der Neuankömmling von ihnen geprüft.

      Erste Frage: Wie heißt die Hauptstadt von Ungarn?

      Ich antwortete und fügte noch hinzu: “Ich weiß auch die Hauptstadt von Russland.” Erstaunen, aber man musste doch den Geistlichen fragen, ob es stimmte.

      Zweite Frage: Wieviel ist zehn mal vier?

      Ich antwortete: “Zehn mal vierzig ist vierhundert”. Bewunderung. Ich wurde beglückwünscht und angenommen. Bekam vom katholischen Geistlichen ein Heiligenbild geschenkt, vom protestantischen etwas Obst zur Belohnung und ... vom Vater bekam ich zu Hause zwei tüchtige Ohrfeigen, als ich ihm den Hergang der Prüfung erzählte.

      “Hast du vergessen, es steht geschrieben: ‘Man gebe Antwort auf das, was gefragt ist!’ Du hast hochmütig und eingebildet gehandelt.” War ich doch gerade erst sieben Jahre alt, musste aber Vater recht geben. Hochmütig und eingebildet ... ja, ja ...

      Es kamen jetzt sehr heiße Sommertage und immer heißere. Es regnete seit langem nicht mehr und sogar im Wald schien die Luft zu tanzen. Aber Vater gab seine Besuche nicht auf. Wir waren froh, dass unser Weg durch den Schatten des Waldes führte. Dort beobachteten wir die Tiere und die Tiere beobachteten uns. Es war sehr friedlich, als wenn die Tiere die Menschen verstehen könnten. Wir wurden sehr still und lauschten. Es war, als ob man alles umher berühren könnte, berühren ohne Hände, eine wirkliche Verbundenheit. Dieses Gefühl kam mir oft in diesem großen Wald an Vaters Hand (sonst hätte ich wohl Angst gehabt). Vater fühlte auch diese Verbundenheit.

      “Siehst du, David, alles dies wandert, ja, alles wandert. Alle Menschen, alle Tiere, auch die Bäume wandern und die Steine. Das ist unser aller Weg, der Weg der Seelen zu den Messianischen Zeiten. Die Seelen tragen so den Staub der Erde mit sich zum Licht.”

      “Papa, ich habe Durst.”

      “Warte bis wir zu Hause sind, David.”

      Ich zählte noch zwölf Kilometersteine. Und der Stock auf meiner Schulter, mit dem Sack daran, wurde immer schwerer. Vater merkte es. “David, gib ihn mir auch zu tragen.”

      Ich liebte es nicht, Vater mit dem Sack zu sehen, das passte nicht zu ihm. Und schnell erbat ich ihn mir zurück. Das war ein Spielchen, das wir öfter auf den langen Wegen spielten und Vater sagte einmal: “Der Allmächtige wird dich belohnen für die Ehre, die du deinem Vater erweist.”

      “Papa, schau! Dort auf der Lichtung gibt es einen Brunnen.” Auch Vater dürstete und wir gingen hin. Es war einer dieser alten ungarischen Ziehbrunnen, man erkennt sie von weitem: Auf einem großen Pfosten liegt ein riesiger Balken, von dem eine Seite hoch in die Luft ragt und den Eimer trägt, auf der anderen Seite sind schwere Steine angebunden. Ich bat um die Erlaubnis, selbst das Wasser herauszuholen. Der große Eimer glitt erst einmal so tief hinunter, dass mir bange wurde, etwa zehn oder zwölf Meter schätzten wir, und der große Eimer war gefüllt fast so schwer wie ich selbst. Beinahe hätte ich es nicht geschafft, aber endlich kam er doch an den Brunnenrand. Ein herrlich kristallklares Wasser. Auf dem Boden des Eimers aber saß eine Riesenkröte. Alles drehte sich mir im Magen.

      “David, sprich den Segen über das Wasser und trink”, befahl Vater. “Ich werde auch trinken.”

      Die großen dunklen Augen der Kröte und die meinen haben sich angeschaut, ich glaube von Seele zu Seele. Ich hatte keinen Ekel mehr und keine Angst. Ihre Augen schauten voller Güte zu mir herauf, aber auch mit viel Traurigkeit, sie schienen mir zu sagen “trink, trink, David”. Und ich trank. Auch Vater trank. Wir gingen dann still zu unserer Straße zurück. Plötzlich sagte Vater: “David, geh zurück und schau, was die Kröte macht!” Sie war nicht aus dem Eimer gesprungen, nein, sie schwamm tot an der Oberfläche, den Bauch zum Himmel gewandt. “David, gieß das Wasser und die Kröte auf die Erde, alles kommt vom Staube der Erde und geht zur Erde zurück, nur die Seele wird frei und schwebt ins Licht.”

      Und Vater erzählte von der Seelenbefreiung und Wanderung, von ihrem Aufstieg, langsam, langsam, Stufe für Stufe, zu Gottes immer hellerem Licht. So wandert der Staub, getragen von der Seele. So wandert alles Geschaffene, Stufe um Stufe in immer helleres Licht. Das ist der lange Weg zu den Messianischen Zeiten: den Zeiten der Erleuchtung.

      “Es hat so sein sollen, dass wir hier vorbeikamen, dass uns dürstete, dass du, das unschuldige Kind, den Segen sprachst und trankst. Du hast die Seele der Kröte befreit, du hast dich nicht mehr vor ihrer Form geekelt. Lass uns hier unser Abendgebet verrichten. Stell dich zu mir David, wir werden mit unserer Seelenkraft ein Gehege um uns bilden, auf dass wir beim stillen Gebet geschützt sind.” Vater zeichnete mit seinem Stock einen großen Kreis um uns herum.

      “David, erbitte dir Seelenkraft! Seelenkraft ist das Licht. Das Licht trägt mit sich den Staub und Gottes Liebe für sein Geschöpf.” Und wir beteten. Ich hatte mein stilles Gebet schon längst beendet, aber Vater noch nicht. Er stand, die Arme hoch empor zu Himmel gehoben. Wie stand Vater doch groß und prächtig da, als habe Gott ihm Schaffenskraft verliehen.

      Da kam vom Brunnen her eine Riesenschlange gekrochen, sie züngelte und schlich auf uns zu. Es war die erste Schlange in meinem Leben. Ich kannte sie nur aus der Bibel, als sie zu Eva von bösen Sachen sprach. Und es steht geschrieben: “Der Mensch und die Schlange sind ewige Feinde.” Im stillen Gebet darf man niemand stören. Würde die Schlange in Vaters Schutzkreis kommen? Nein, sie blieb wirklich am Rande. Wir waren alle drei unbeweglich, nur Vater betete. Man hörte von weitem über die Straße einen Wagen kommen. Die Schlange machte plötzlich einen Bogen um uns herum und eilte über die Straße. Die vier Pferde des Wagens scheuten und rasten dann wie wild über die Schlange hinweg. Es war die Rettung! Der Kutscher hatte Mühe, die Pferde zu beruhigen, sie hatten weißen Schaum im Maul und auf den Flanken. Der Wagen drehte um und kam zu uns zurück. Es war der Bürgermeister von Bakony-Tamasi. Er drehte mich nach links, er drehte mich nach rechts und fragte, ob die Schlange uns nicht gebissen habe? Vater, der eben sein Gebet beendete, verstand sofort die Situation und sagte still: “Gottes Geist weilt in diesem Tale.”

      Der Kutscher zerschlug mit seinem Peitschenkolben den Kopf der Schlange und sagte: “Solange die Sonne nicht untergeht, leben diese Biester noch. Sie ist eine giftige Schlange. Sie haben viel, viel Glück gehabt! Herr Rabbiner, steigen Sie mit ihrem Sohn zu mir in den Wagen. Sie sagten soeben ‘Gottes Geist weilt in diesem Tale’, ich möchte mit Ihnen darüber sprechen”, sagte der Bürgermeister. Vater weigerte sich erst, stieg dann aber doch vorne zum Kutscher auf den Bock. Wie war ich glücklich, nach so vielen Schrecken nicht mehr laufen zu müssen. Aber der Bürgermeister wechselte seinen Platz mit dem Kutscher, nahm selbst die Zügel in die Hand, um mit Vater zu sprechen.

      “Herr Rabbiner, alles verdorrt auf den Feldern, eine Hungersnot wird kommen! Was können wir tun?”

      “Die Menschen sind sündig!”

      “Alle

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