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sehr viel später erfuhr ich, es war in der “Neologischen Gemeinde” bekannt geworden, dass der Oberrabbiner Elias Tulman kein ungarischer Staatsbürger war. Die orthodoxe Gemeinde hatte Vater trotzdem erwählt, weil er eine starke Persönlichkeit war, ein ausgezeichneter Redner und Gelehrter, man sagte auch Kabbalist. Dazu hatte war er noch eine imposant Erscheinung. Aber die Neologen hatten sich von ihm gestört gefühlt. Offizielle Posten waren nur für ungarische Staatsbürger. Gesetz ist Gesetz. Gott wollte es so. Vater wollte es im Tiefsten seiner Seele vielleicht auch. Er wurde nie ungarischer Staatsbürger. Er blieb der Russe, der Mensch “weiter Dimensionen”. Auch reizte ihn nicht, der “angesehene Mann” zu sein. Vater fühlte, was im Menschen das Unsterbliche ist.

      Vater liebt mich!

      Die Reise ging nach Hejó-Czaba, ein Vorort von Miskolc. Vater hatte hier in Eile den Posten des Kantors angenommen. Seine Baritonstimme war schön und seine Kenntnisse erlaubten es ihm. Doch bald fühlte sich der Rabbiner neben ihm erdrückt und das wollte Vater verhüten. So war unseres Bleibens hier nicht von langer Zeit, doch genug für ein unvergessliches Ereignis.

      Wir lernten in der Schule Geschichte, in der die Bravour der ungarischen Husaren besungen wurde, was in uns Kindern die Kriegslust erweckte. Wir verteilten untereinander die verschiedenen Rollen. Es wurde eine sehr hübsche Krankenschwester gewählt, was in mir einen heimlichen Wunsch nach Verwundung weckte. Leider musste ich den zu vertreibenden Feind spielen (warum ich diese Rolle bekam, hat mich später grübeln lassen). Die Horde der schreienden Sieger rannte also hinter mir her. Auf der Flucht fiel ich über ein Brett, aus dem ein verrosteter Nagel herausstand, der in meiner Hand abbrach. Im Kriegsgeschrei der Verfolger war keine Zeit, das zu beachten; es blutete auch leider nicht genug, um in die erhoffte Krankenpflege zu kommen. Einige Tage später schwoll meine Hand an und Mutter legte mir als altbewährtes Mittel rohe Zwiebeln darauf. Es schien aber nicht wirksam. Die Nachbarsfrauen schauten auch mit besorgten Gesichtern auf mein Geschwür und legten zu Mutters Zwiebeln noch ihre Kräuter dazu. So trug ich einen ganzen Gemüsegarten um meine Hand gebunden. Aber das Geschwür schwoll und schwoll. Die Schulkinder wollten nun auch meine Kriegsverletzung bewundern und unsere Krankenschwester versuchte ihre Heilkunst an mir.

      “Halt gut still, David, es wird weh tun, ich werde allen Eiter herausdrücken!” Heroisch hielt ich still. Aber nichts kam heraus! Im Gegenteil, die Schmerzen gingen hinein, ich fühlte sie überall, im Arm, im Kopf, es war als ob mein Herz im ganzen Körper klopfte. Es wurde unerträglich.

      Vater bemerkte den riesigen Verband und meine schlechte Aufmerksamkeit. Ich musste erzählen. Als ich zur Heilungsmethode der Krankenschwester kam, erhielt ich einige sehr tüchtige Ohrfeigen.

      “Du hast dich nicht mit Mädchen zum Spielen einzulassen und aus dem Krieg ein Spiel zu machen, ist eine Sünde! Gott hat dich gestraft.” Und Vater las weiter in seinem Buch.

      Von Stunde zu Stunde wuchs jetzt die Geschwulst, sie bekam die Form eines großen Apfels in meiner Hand und der Arm rötete sich. Niemand kam auf die Idee, einen Arzt zu befragen. Aber ich brauchte nicht zur Schule zu gehen. Ich war vom Fieber geschüttelt, doch Vaters Antwort war: “Es ist Gottes Strafe für dich!” Ich las zitternd in den heiligen Schriften, meine Sünden büßend. So wurde es Sonntag Nachmittag. Es kamen Familien der Umgegend, um Vater über dieses und jenes zu befragen. Alle hatten sie ein gutes Wort für mich, der ich mit meinem großen Verband wohl recht jämmerlich aussah.

      Es kam auch der alte, gütige Tempeldiener zu mir. Er bestand darauf, sich meine Hand anzusehen. Als die ganzen “Heilswissenschaften” heruntergenommen waren, rief er aufgeregt Vater: “Wollen Sie ihren Sohn töten? Er hat eine schwere Blutvergiftung. Vielleicht können Sie ihn noch retten, wenn Sie sofort, aber sofort die Straßenbahn zum Krankenhaus nehmen. Ja, am Sabbat die Bahn nehmen! Es geht darum, ein Leben zu retten!” Er war außer sich vor Aufregung.

      Es war das erste Mal, dass Vater wirklich meine Hand betrachtete. Alle Leute schauten mich erregt an und Vater sprach: “Wir fahren!” Jetzt brach ich zusammen. Alles verschwamm um mich her. War ich schon ein Sterbender? Dass Vater gegen die Gesetze des heiligen Sabbat handeln wollte? Am Sabbat fahren! Mutter eilte, Vaters Hut zu holen, warf ein Tuch über ihre Schultern, holte Geld für die Bahn. Auch Mutter? Sie rührte am Sabbat Geld an? War ich wirklich sterbend?

      Vaters feste Hand fasste die meine, die gesunde. Wie ein Wunder floss seine Kraft in mich hinein.

      “Papa, ich sterbe noch nicht. Papa, ich will laufen. Sogar schnell laufen. Du sollst keine Sünde wegen mir begehen! Papa, ich hab dich lieb, lass uns bitte laufen!” So liefen wir die etwa sechs Kilometer zum Krankenhaus.

      “Mein Bußweg”, aber an Vaters Hand. Und hätten seine gütigen Augen nicht zu mir hinuntergeschaut, ich wäre bis zum Allmächtigen gegangen. Wir kamen zu spät an. Das große Tor war geschlossen, die Konsultation beendet. Vater klingelte Sturm. Eine Nonne schaute durch ein Schiebefensterchen heraus. Was sie sprachen, weiß ich nicht. Das Tor öffnete sich. Ich erinnere mich an den Weg durch weiße Gänge und Zimmer. Wieder wurde meine Hand entblättert. Dann kamen eilende Schritte herbei, es kamen noch Ärzte. “Die Hand muss abgenommen werden, wahrscheinlich auch der Arm” hörte ich sie sagen. Es war mir sehr recht, dann würde es nicht mehr wehtun.

      Da ertönte Vaters Stimme stark und klar, aber in der Tiefe zitterte sie: “Mein Sohn wird Rabbiner! Er braucht seine rechte Hand, um die Tephilin auf seine linke Hand zu binden. Die Tephilin enthalten heilige Schriften. So beten wir Juden zu Gott, mit unseren beiden Händen. Sie dürfen sie ihm nicht nehmen!”

      “Aber guter Herr, sprechen wir jetzt nicht von Gebeten, es ist höchste Zeit, es geht um das Leben ihres Sohnes.”

      “Betet ihr denn nicht zu Gott? Warum leben, wenn man nicht beten darf. Warum leben, wenn man Ihm nicht dienen darf!” Das Zittern in Vater wurde gewaltig, es schüttelte seinen Körper und Tränen brachen aus seinen Augen. Vater liebte mich!

      Die Oberschwester in ihrem großen, schwarzen Kleid der Nonnen eilte durch den Saal. Sie sprach mit jemandem, der nicht im Raum war. Ihre Stimme war fest und eindringlich: “Herr Professor, es geht um das Leben eines Kindes. Im Namen Jesu Christi und des einzigen jüdischen Gottes, sie müssen sofort kommen!” Mein Kopf wurde schwer. Vater betete. Die Oberschwester hob mich auf ihren Schoß, strich über meine Stirn und meine Haare. Ich schrak zusammen, denn mein Kopf fiel auf ihre Brust, wo das kalte Kreuz des Jesus hing.

      Was wird jetzt geschehen? Etwas Fürchterliches. Wenn Vater mich so sieht, er wird ...

      Da geschah es. Vater wandte sich um und sagte ruhig: “Sie ist von Gott gesandt, David, küsse ihr die Hände”.

      Ob mein Kopf dann in ihre Hände fiel, ich weiß es nicht.

      Erwachend fand ich mich in einem großen hellen Saal mit vielen aufgereihten weißen Betten. In jedem lag ein Mensch, so wie ich. Waren dies alles Bestrafte? Oder Gerettete? Vater, die Oberschwester und ein Unbekannter schauten mich freundlich an. Waren meine Sünden vergeben?

      “Also, du heißt David, so wie der große König, der Sänger, der Harfenspieler und Dichter. Du kannst dem Herrn Professor danken, dass du mit deinen beiden Händen zu Gott beten darfst”, sagte die Oberschwester. Nur meine Augen konnten Dank sagen. Mir war als sei ich vom Jüngsten Gericht zurückgekommen.

      Erst jetzt rief man Mutter herein. Mutter schwebte durch den Saal. Ihr glückliches Lächeln hat mich dann wieder gesund gemacht. Ein schwerer Bußweg an Vaters Hand lag hinter mir, aber nun wusste ich: Vater liebte mich wirklich!

      Wenige Zeit später verließen wir Hejó-Czaba, um nach Bakony-Tamasi zu gehen.

      Bakony-Tamasi

      Wieder einmal auf Reisen, “geschaukelte Tage” auf einem Wagen und Zeit zu reiferen Überlegungen: Warum hatte gerade ich den fliehenden Feind spielen müssen und alle Kinder rannten hinter mir her? Hatten sie vielleicht geschrien: “Büdos Zsidó” – “verstunkener Jude”? Nein, ich entsann mich nicht. Aber die hübsche Krankenschwester – musste man mit den stillen Wünschen genauso aufpassen wie mit den lauten? Wenn Gott sie erfüllt? Aber eines war mir nun gewiss: Vater liebte mich!

      Wir

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