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Montagabend. Eine Nachbarin aus dem Vorderhaus stand vor der Tür. Ich überflog die kleine Armada der in unserem Flur lagernden Pakete, konnte aber ihren Namen nirgendwo entdecken. »Tut mir leid, ich glaube, wir haben nichts für dich«, wollte ich sie gerade enttäuschen, aber sie kam mir überraschend zuvor und meinte, sie wolle diesmal gar kein Päckchen abholen, sondern vielmehr mich. Ich schaute überrascht auf. Sie war wirklich nett und sah gut aus, wir hatten ein paar Mal nett geplaudert, aber diese stürmische Entwicklung überraschte mich nun doch ein wenig. Bei ihr im Vorderhaus säße im Flur eine Taube, erklärte sie mir. »Damit habe ich nichts zu tun!«, wehrte ich schnell ab. Weil ich mich mit Reptilien beschäftige, glaubt immer jeder Nachbar, ich sei für jedwedes tierische Leben im Umkreis von einem Kilometer persönlich verantwortlich. Ich sollte schon einmal eine Ratte aus einem Badezimmer treiben, eine gerade flügge gewordene Amsel aufziehen, die bei ihren ersten Flugversuchen über die Straße getorkelt war, ich musste eine Katze vom Balkon einer unbewohnten Wohnung locken und ein vermeintlich ekliges Rieseninsekt aus einer Küche bergen. Gut, da war mir wohl tatsächlich eine meiner Madagassischen Riesenfauchschaben entkommen, aber natürlich wies ich empört jede Verantwortung von mir. Kurzum: Ich bin der Professor Grzimek des Wedding.

      Jetzt also eine Taube. Da hatte ich nun allerdings wirklich keine Lust drauf. »Ach, die findet schon von allein wieder raus«, versuchte ich, die Nachbarin abzuwimmeln. Doch die war hartnäckig. Die Taube säße so merk­würdig da, ich solle doch mal gucken. Meine Söhne, die inzwischen hinzugeeilt waren, drängten mich nun ebenfalls: »Geh doch gucken, Papa, und wenn die Taube nicht mehr fliegen kann, dann mach sie schnell wieder heile.« Dabei gibt es doch ohnehin viel zu viele Tauben, aber was soll’s.

      Ich folgte also der Nachbarin ins Vorderhaus und ließ mir den Pechvogel zeigen. Er saß auf dem Boden und sah eigentlich ganz normal aus. Wenn man mal davon absah, dass sein Kopf um etwa 90 Grad nach links gedreht war, der Hals dafür aber um 180 Grad nach unten, sodass die Schädeldecke des Tiers auf dem Holzboden auflag. Und bis auf den ausgerenkten Flügel, der schlaff und leblos nach unten baumelte. Aber sonst sah die Taube ganz OK aus.

      Ich betrachtete sie nochmal eingehend, dann teilte ich der Nachbarin meine fachliche Expertise mit: »Die ist völlig in Ordnung. Die muss sich nur mal kurz ein bisschen ausruhen. Spätestens morgen früh ist sie wieder weg.« Ich hoffte insgeheim auf die Katze aus dem vierten Stock. Die würde das Problem schon lösen.

      Die Nachbarin wirkte nicht überzeugt. Sie beugte sich zu dem Vogel hinunter, der sich erschreckte, drei Schritte nach links hüpfte, dabei ins Wanken geriet, umfiel und auf dem Rücken landete. »Siehst du«, sagte ich, »die will sich einfach nur ein bisschen hinlegen. Wir lassen sie am besten rasch in Ruhe.« Nun begann die Taube, wild mit den Beinchen zu strampeln und mit dem rechten, offenbar noch fest im Rumpf verankerten Flügel herumzuschlagen. Dabei gab sie jämmerliche, kehlige Laute von sich. Die Nachbarin sah mich vorwurfsvoll an. Verdammt, dabei fand ich sie wirklich nett. Was sollte ich jetzt machen? »Die schafft es nicht mehr«, stellte die Nachbarin völlig zutreffend fest, »wir müssen sie erlösen.« »Na gut, dann erlösen wir sie mal«, gab ich ihr zähneknirschend Recht. Wir schauten uns beide ratlos an. »Ich fürchte, ein Tierarzt hat nicht mehr auf«, gab sie schließlich zu bedenken. »Vielleicht sollten wir sie einfach in einen Karton setzen und bis morgen ein paar Brotstückchen anbieten?«, überlegte ich. Die Taube riss derweil den Schnabel auf, würgte und gurgelte heftig, schlug wie wild mit dem noch funktionstüchtigen Flügel und bollerte wie ein frisch losgelassener Kreisel von einer Hauswand vor die nächste. Wir seufzten. »Soll ich ihr einfach auf den Kopf treten?«, fragte die Nachbarin. Das wäre zweifellos das Beste, dachte ich. Aber erst, wenn ich wieder weg bin.

      Der Blick der Nachbarin verriet mir allerdings, dass diese Variante auch nicht ihrer Erwartungshaltung entsprach. Dann sagte sie: »Du bist doch so was wie ein Biologe, oder?« Verdammt, jetzt hatte sie mich. Ich ergab mich in mein Schicksal. »Ich glaube, Kopfzertreten ist nicht ganz state of the art«, sagte ich also. »Ich geh mal kurz in mein Büro und schaue, wie man das machen muss, OK?« Sie sah mich zweifelnd an und fragte: »Und wie schaut man so was nach? Einfach googlen nach: Wie mache ich eine Taube tot?« »Ach was«, wehrte ich ab, »das steht im Tierschutzgesetz, das ist sogar für jede Tiergruppe einzeln vorgeschrieben, wie man das machen muss. Ich bin mir nur nicht mehr ganz sicher, ob bei Vögeln durch Genickschlag oder durch Kopfabtrennen.« »Klingt ja beides ganz gut«, sagte die Nachbarin, »ich passe dann mal solange auf die Taube auf.« »Ja, pass gut auf, dass sie nicht abhaut.« Die Taube lag weiter auf dem Rücken und zuckte mit den Beinen.

      Ich schlich mich in die Wohnung, setzte mich an den Computer und googelte: Wie mache ich eine Taube tot? Kurz darauf war es traurige Gewissheit: Wenn keine Betäubung zur Verfügung steht, muss man dem Geflügel den Kopf mit einem gezielten Schlag abtrennen. Ich seufzte erneut, schnappte mir eine Plastiktüte und ging zurück ins Vorderhaus. »Und?«, fragte die Nachbarin. »Kopf ab«, sagte ich. »Oh«, sagte die Nachbarin.

      Ich griff die Taube entschlossen mit der Tüte. »Ich gehe dann mal kurz in den Keller.« Sie nickte und flüsterte: »Ich warte hier.« Im Keller schnappte ich mir ein scharfes Messer, legte die Taube auf die Arbeitsplatte und schlug zu. Einen Moment später war das Drama beendet. Man hört ja immer so Geschichten, dass Hühner mit abgeschlagenem Kopf noch weiter durch die Gegend laufen. Das kann ich für Tauben nicht bestätigen. Dafür allerdings wollte sie den Schnabel immer noch nicht halten. Immerhin hatte er aufgehört, die merkwürdigen Laute zwischen Gurgeln und Gurren von sich zu geben, ohne Kehlkopf geht das vielleicht aber auch einfach nicht mehr so gut. Lautlos öffnete sich der Schnabel noch ein paarmal, bis endlich Ruhe war.

      Ach was, Professor Grzimek – ich war der Dennis Cus­pert der Seestraße. Immerhin, die Taube hatte es hinter sich, sie war den Märtyrertod gestorben. Mögen im Him­mel 72 jungfräuliche Weißbrote auf sie warten. Ich räumte sie in die Tüte, nahm mein blutbeflecktes Werkzeug mit, um es oben in der Wohnung zu säubern, und ging wieder raus in den Innenhof. Die Nachbarin schaute mich mit großen Augen an, ich nickte ihr beruhigend zu. Es war geschafft. Wir gingen zu den Mülltonnen, und ich wollte schon den großen Container öffnen, aber sie schüttelte den Kopf und hob den Deckel der Bio-Tonne an. »Das sind wir ihr schuldig«, flüsterte sie.

      Wir verabschiedeten die Taube und sahen uns an. Ich stand vor der Nachbarin, in der Hand das blutverschmierte Messer. Sie hauchte: »Vielen Dank. Das war sehr männlich von dir.« Ich schluckte. Männlich! Sie hatte wirklich männlich gesagt. Verdammt! Wenn ich das doch nur früher gewusst hätte! All diese mühevollen vergeblichen Jahre, und jetzt, wo ich es gar nicht mehr brauchte, endlich die Lösung: So also flirtet man im Wedding!

      Als ich zurück in die Wohnung kam, hörten die Kinder mich und fragten, was mit der Taube denn nun gewesen sei. »Ach«, sagte ich, »keine Sorge. Die ist schon wieder weg.« Na ja. Richtig gelogen war das ja immerhin nicht.

       Fotoshooting

      Als vor einigen Jahren das erste Mal eine Zeitung einen Artikel über mich schreiben wollte, fand die Redakteurin, dass es eine originelle Idee sei, mich beim Essen einer Portion Pommes vor dem Imbiss zur Mittelpromenade zu fotografieren. Der kommt in einigen meiner Geschichten vor, außerdem sei der »im Wedding total authentisch«. Als einige Zeit später eine andere Zeitung einen Artikel über mich schreiben wollte, fand die diesmal zuständige Redakteurin, dass es eine besonders originelle Idee sei, mich beim Essen einer Portion Pommes vor dem Imbiss zur Mittelpromenade zu fotografieren. Pommes wirkten einfach »total authentisch, zumal im Wedding!« Als der lokale Fernsehsender wiederum einige Zeit später einen Beitrag über mich für sein Kulturmagazin drehen wollte, fand die Filmautorin, dass es geradezu zwingend sei, mich beim Essen einer Portion Pommes zu filmen, weil Pommes nun einmal für Weddinger Authentizität stünden. »Gut, gehen wir zum Imbiss zur Mittelpromenade«, ergab ich mich in mein Schicksal. »Nee, bloß nicht, das ist nicht originell genug«, sagte die Frau zu meiner Überraschung, »Sie nehmen die Portion Pommes und stellen sich damit an eine Zapfsäule bei Aral.« »Was?« »Sie haben doch mal über die Aral-Tankstelle geschrieben, oder?« »Ja, schon ...« »Na also, das passt doch super.« »Aber bei Aral gibt’s doch gar keine Pommes.« »Genau. Wir brechen die Erwartungshaltung der Zuschauer. Wir sind schließlich ein Kulturmagazin! Weddinger Authentizität

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