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These angeregt, dass der Mensch als das »Tier mit Religion« zu verstehen sei. Daran ist richtig, dass Religion bei keinem Tier anzutreffen ist und als ein rein menschliches Phänomen zu gelten hat. So etwas wie eine »religiöse Anlage« lässt sich allerdings ebenso wenig postulieren wie ein religiöses Gen oder ein Hirnareal, das für Religion zuständig ist. Es darf nicht unterschlagen werden, dass es in historischer Zeit stets Menschen gab, die ohne die Anbindung an jene Wirklichkeit lebten, die ihre Zeitgenossen als Religion verstanden und ausübten. Der Philosoph Jürgen Habermas ist nicht allein, wenn er die Realität von Religion zwar soziologisch zu würdigen weiß, sich selbst aber als »religiös unmusikalisch« bezeichnet. Wer sich freilich als areligiös bezeichnet und aus dieser Perspektive die Religion für Phantasie oder zur Wahnwelt erklärt, der schließt sich selbst aus dem ernsthaften Gespräch über Religion aus.

      Der aufrechte Gang auf zwei Beinen, der sich vor etwa zweieinhalb Millionen Jahren vollzogen haben soll, macht einen Menschenaffen ebenso wenig zum Menschen wie die Bezeichnung »Homo« (= Mensch), die Biologen bestimmten Skelettfunden aus jener Zeit gegeben haben. Biologische Tatbestände wie Hirnvolumen und Greifhände sind gewiss Voraussetzungen für Menschsein, können uns aber nicht sagen, was das Menschsein vom Tiersein unterscheidet.

      Der wesentliche Entwicklungsschritt hin zum Menschsein im heutigen Sinn scheint sich in jener Phase vollzogen zu haben, in der sich der werdende Mensch seiner selbst bewusst wurde. Das ist nach heutigem Wissensstand nur mit einer Sprache möglich, die weit mehr leistet als jedes tierische Kommunikationssystem. Es muss bereits eine Sprachform sein, in der sich mehrere Individuen über etwas verständigen können, das nicht sie selbst sind, zu dem sie sich aber in Beziehung setzen können. Tiere lernen mit den Gegenständen ihrer Welt umzugehen, sie für sich zu nutzen oder ihnen aus dem Weg zu gehen. Erst über Sprache erschließt sich die Welt als etwas Größeres, in das wir uns eingebunden wissen, von dem wir abhängen und in dem wir unseren Weg finden müssen.

      Das Wesen Mensch, das sich seiner selbst in einer vorgefundenen Welt bewusst wird, beginnt die Fragen zu stellen, die uns bis heute umtreiben: Wer bin ich im Gegenüber zu den anderen Lebewesen, Pflanzen, Gegenständen und Erscheinungen? Woher komme ich? Wenn ich sterbe, wohin gehe ich? Solange ich hier bin, wozu lebe ich? Wie soll oder möchte ich leben? Diese elementaren Fragen, zu denen ein Wesen Mensch durch Sprache fähig wird und die auf Antworten drängen, sind und bleiben die Basis für das Sinngefüge Religion. Dazu bedarf es keiner besonderen Anlage, keines religiösen Gens, keines religiösen Hirnareals und auch keiner »religiösen Musikalität«. Diese Fragen haben auch die religiös Unmusikalischen.

      Religion hat es bleibend mit jenen Urfragen zu tun, vor die sich ein Mensch, der sich seiner selbst und seiner Endlichkeit bewusst ist, jederzeit gestellt sieht, und zwar unabhängig davon, ob er einer bestimmten Religion angehört, und auch unabhängig von den Antworten, die er für diese urmenschlichen Fragen findet.

      Als Erstes bleibt also nur die Feststellung: Mit Religion ist zunächst nur jener Bereich umschrieben, der mit den menschlichen Fragen nach Woher, Wozu, Wie, Wohin, Sinn und Ziel unseres Lebens in den Blick kommt. Mit Religion ist der Fragehorizont umschrieben. Die Formen der Antwort lassen sich generell nicht mehr beschreiben und bestimmen, denn Religion im Sinn von Antwortpotenzialen, die von Menschen ausgeformt und gelebt werden, ist so vielgestaltig, dass sie sich einer generellen inhaltlichen Definition entzieht. Anders gesagt: Religion gibt es nur in der konkreten Gestalt von einzelnen Religionen. Wer selbst in keine konkrete Religion eingebunden ist, wird sie nur aus einer selbst gewählten Außenperspektive wahrnehmen können.

      1.2.1 Religion äußert sich konkret

      Religion setzt ein menschliches Wesen voraus, das sich seiner selbst und seines Seins in der Welt bewusst ist und auch weiß, dass es sterben wird. Das wiederum hängt von einem gewissen Niveau von sprachlichen Fähigkeiten ab. Wir wissen nicht, wann dieses Niveau in der Entwicklungsgeschichte des Menschen erreicht war. Wir wissen aber, dass sich Bewusstsein in Verhalten äußert. Es gibt Vermutungen, aber keine eindeutigen Beweise dafür, dass die Körperbemalung mit Pigmenten, die man bei 400 000 Jahre alten Skelettfunden festgestellt hat, auf religiöse Rituale hinweisen. Die Grabfunde ab 100 000 v. Chr., die auf bestimmte Bestattungsformen hinweisen, sind bereits eindeutige Zeugnisse religiösen Bewusstseins, auch wenn wir die Einzelheiten nicht zuverlässig deuten können. Bestattung Verstorbener in Ost-West-Richtung, in Hockstellung, mit Grabbeigaben und unter Hügeln zeigen |21| uns, dass der Tod als Zäsur erfasst und mit Gedanken über ein Danach verbunden wurde.

      Die regionale Einheitlichkeit von Bestattungsriten weist darauf hin, dass Religion nie die Sache Einzelner war, sondern sich von Beginn an als kollektives Bewusstsein von Gemeinschaften artikulierte. Daraus folgt: Es gibt die Religion genauso wenig wie es den Menschen gibt. Religion gibt es nicht abstrakt, sondern nur in Gestalt konkreter Ausformungen durch Gemeinschaften, Verbände, Stämme, Völker.

      Das Bewusstsein des Menschen, in ein Größeres eingebunden zu sein, nennt der Philosoph Karl Jaspers zutreffend »das Umgreifende«. Religion als Verhältnis zu diesem Umgreifenden und für uns nicht Verfügbaren nimmt in jener Lebenswelt konkrete Gestalt an, in der sich eine Menschengruppe vorfindet. Jäger und Sammler sehen sich Mächten, Geistern oder Herren des Waldes gegenüber und erleben sich als von ihnen abhängig. Für Hirtenkulturen sind die Weiden und damit der Regen des Himmels für das Überleben wesentlich. Für sie ist der Himmel das Umgreifende. In agrarischen Kulturen begegnet jenes umfassend Größere dem Menschen in der Fruchtbarkeit der Mutter Erde, und der Regen des Himmels tritt als das männliche Prinzip hinzu.

      Wir nennen die frühen Religionen mangels eines treffenderen Ausdrucks »Naturreligionen«. Sie haben noch keine heiligen Schriften, noch keine Berufspriester, sondern nur ein gemeinsames Verständnis ihrer Welt und jener Mächte, denen sie sich innerhalb der Gegebenheiten ihrer Lebenswelt gegenüber sehen. Diese Potenzen können als unpersönliche Kräfte, als Geister oder später auch als personifizierte Gestalten bis hin |22| zu überirdischen Göttern erlebt werden. Zu ihnen setzt sich die Gemeinschaft mit Ritualen in ein Verhältnis und in eine Verbindung, die auf Zusammenarbeit angelegt ist. Dabei spielen magische Praktiken und Opfer eine Rolle, mit deren Hilfe man auf diese Mächte einzuwirken versucht. Praktiken der Magie und des Opfers sind in subtilen Formen auch in heutigen Religionen gegenwärtig.

      Der Umgang mit den unverfügbaren Bedingungen unserer menschlichen Existenz und deren Sinndeutung umschreibt von Anfang an die bleibende Basis von Religion. In den vorhistorischen Religionsformen und in den noch existierenden Naturreligionen bilden Natur und Religion eine untrennbare Einheit.

      Die Religionen, die sich in unserem Kulturkreis seit 3000 v. Chr. in Vorderasien (bei Sumerern, Babyloniern, Assyrern, Hetitern, Kanaanitern u. a.) herauszubilden beginnen, nennen wir Hochreligionen, weil sie den nun entstehenden Hochkulturen entsprechen. Diese ältesten Hochkulturen entwickeln eigene Schriftsysteme und Staatsgebilde mit Herrschaftshierarchien und mit arbeitsteiliger Organisation. Das jeweilige religiöse Selbstverständnis bleibt das Dach und der Horizont, in deren Bereich sich die regionale Kultur differenziert und entwickelt. In den Hochreligionen werden die Gottheiten regional und ortsgebunden verstanden. Wir sprechen daher von »regionalen Hochreligionen«.

      In den entstehenden Stadtkulturen sehen sich die Menschen nicht mehr als

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