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Bonhoeffer hat schon in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts nüchtern festgestellt: »Der Mensch hat gelernt, in allen wichtigen Fragen mit sich selbst fertig zu werden ohne Zuhilfenahme der ›Arbeitshypothese Gott‹. In wissenschaftlichen, künstlerischen und ethischen Fragen ist das Selbstverständlichkeit geworden … Seit etwa 100 Jahren gilt das aber in zunehmendem Maße auch für die religiösen Fragen.« Bonhoeffer spricht von einem Gott, den man sich als eine jenseitige Wesenheit oder als eine Person vorstellt, die auf wundersame Weise in unser Weltgeschehen eingreift. Und er sagt: »Für einen gebildeten Menschen wird der Glaube an einen solchen Gott bald ebenso unmöglich sein wie der Glaube daran, dass die Erde eine Scheibe ist, dass Fliegen aus dem Nichts entstehen, dass Krankheit eine göttliche Strafe ist oder dass Tod etwas mit Zauberei zu tun hat.« Er hat dringend dazu aufgerufen, den christlichen Glauben nicht an ein vergangenes gegenständliches Gottesbild zu binden, sondern Gotteswirklichkeit als Lebenswirklichkeit in unserer Welt auszusagen. Der Blick auf Jesus von Nazaret zeigt uns, wie Gotteswirklichkeit als menschliche Lebenswirklichkeit konkret, erfahrbar und sagbar wird.

      Stellte man heute, ein dreiviertel Jahrhundert nach Bonhoeffers Äußerungen, die allgemeine Frage, ob es so etwas wie eine höhere Macht gibt, so fände man noch mehrheitlich Zustimmung, da sich unter einer »höheren Macht« jeder vorstellen kann, was er in seinem Weltverständnis unterzubringen vermag. Fragt man aber konkreter, so sieht das ganz anders aus. Eine 1992 in Berlin-Kreuzberg, -Mitte und -Wannsee durchgeführte Befragung brachte folgende Ergebnisse: An einen persönlichen Gott glauben gerade noch (je nach Altersgruppe) 34 bis 24 Prozent. Bei der jüngsten Altersgruppe der 16- bis 24-Jährigen |14| sinkt die Zustimmung noch weiter ab. Hier halten nur noch 13 bis 16 Prozent das Weltall für eine Schöpfung Gottes und nur 8 bis 11 Prozent sind davon überzeugt, dass ein Gott den Lauf der Welt in der Hand hat.

      Die kirchliche Verkündigung und Vermittlung des christlichen Glaubens ist nur noch für jene kleine Minderheit verständlich, die das traditionelle theistische Bild eines persönlichen Gottes mitbringt, der für uns sorgt und an den wir uns um Hilfe wenden können. Die Mehrheit der Zeitgenossen sieht sich allein durch die konventionelle Art, von Gott zu sprechen, aus der Gemeinschaft der Glaubenden ausgeschlossen. Sie geht ihre eigenen Wege. Der Markt der Sinnangebote ist groß. Für diese schweigende Mehrheit hat der Physiker C. F. von Weizsäcker in einem interdisziplinären Seminar bereits 1976 festgestellt: »Naturwissenschaftler und Christen können einander einen wichtigen Dienst tun, wenn sie einander kritische Fragen stellen … Naturwissenschaftler müssen die Christen fragen, ob sie das moderne Bewusstsein vollzogen haben.« Er fragte deshalb so nachdrücklich, weil er in der Kirche keine Ansätze sah, sich mit dem zeitgenössischen Weltverständnis auseinanderzusetzen.

      Propheten haben im eigenen Land und in der eigenen Kirche wenig Chancen, gehört zu werden. So soll hier der emeritierte anglikanische Bischof J. S. Spong von Newark (USA) das Wort haben. Er fragt: »Warum müssen wir die Christus-Geschichte losgelöst vom theistischen Gottesverständnis erzählen?« Seine Antwort: »Das ist erforderlich, weil die Reste des Theismus der Vergangenheit heute das wahre Leben aus dem Christentum geradezu austreiben … Wenn es nicht gelingt, den Griff zu lösen, in dem der Theismus Christus hält, wird der Tod des Theismus sicher auch den Tod des Christentums mit sich bringen.« Nicht in der Kirche, aber in der deutschen Presse kann man das allgemein formuliert im Dezember 2010 von R. Leicht so lesen: »Entweder hält unser |15| Glaube den Errungenschaften des zeitgenössischen Wissens stand. Oder er ist eben nicht tragfähig. Was fangen wir mit einem Glauben an, der sich der schlichten Unkenntnis verdankt?« Viele Zeitgenossen stellen sich diese Frage ebenfalls, und sie fragen nicht überheblich und weil sie es besser wissen, sondern weil sie über den christlichen Glauben substanziell Auskunft erhoffen und dessen Inhalt erfahren möchten, freilich in einer Sprache und in Denkformen, in denen Menschen heute ihre Welt und sich selbst verstehen. Soll der Kontakt zum Glauben als Lebenswirklichkeit im christlichen Sinne nicht abreißen, so muss jede Christengeneration dieses Übersetzungsproblem geistig und sprachlich neu wagen und lösen.

      Die folgenden Ausführungen sind der Versuch, den Kern des christlichen Glaubens in nichttheistischer Sprache zum Ausdruck zu bringen. Es ist ein Sprachversuch und keine Dogmatik, die auf 800 Seiten oder gar auf 14 Bände angelegt ist und anstrebt, alle in den christlichen Glaubenslehren je aufgeworfenen Fragen zu verhandeln. S. Kierkegaard hat einmal gesagt, dass die christliche Botschaft so einfach sei, dass man sie auf eine Streichholzschachtel schreiben kann. Das ist hier zwar nicht ganz gelungen. Aber angestrebt ist schon, den elementaren Gehalt des christlichen Glaubens ohne den in Jahrhunderten hinzugewachsenen erdrückenden theologischen Überbau so klar wie nur möglich hervortreten zu lassen.

      Christlicher Glaube lässt sich nicht als Faktenwissen beschreiben. Er lässt sich allenfalls aus unterschiedlichen Perspektiven so umschreiben, dass das Unsagbare daraus hervortritt. Die unterschiedlichen Perspektiven sind durch die neun Stichwörter der Kapitel gekennzeichnet, die nicht für sich stehen, sondern wie die Speichen eines Rades alle auf den Kern des Glaubens hinweisen. Wo es nötig schien, wurde historisch erklärt. Gewordenes versteht man am besten, wenn man versteht, wie es geworden ist. Das Ziel dieser Arbeit liegt nicht darin, die vielen Glaubenslehren der Kirche kognitiv verständlich |16| zu entfalten. Es geht viel elementarer darum, aus der verwirrenden Vielfalt der Traditionen jenes entscheidende Spezifikum des Christlichen herauszuheben, in welchem Gotteswirklichkeit, Gotteserfahrung und christlicher Glaube wie in einem Urkern ineinander liegen und nur als diese Einheit erfahrbar und sagbar werden. Da die einzelnen Kapitel auch in sich verständlich sein sollen, müssen notwendige Wiederholungen in Kauf genommen werden. Auf Verbindungen und Verzahnungen mit anderen Stichwörtern wird hingewiesen.

      Ein Text dieser Art will und kann nicht fertig sein, denn er eröffnet einen Dialog. Ein Dialog über den Glauben schließt dieses Thema nicht ab, sondern schließt für die im Glauben eröffnete Lebenswirklichkeit auf. Dieser Text versteht sich zum einen als eine Sprachbrücke hin zu jenen Zeitgenossen, die sich mit der traditionellen theistischen Sprache schwertun. Er versteht sich zum anderen als ein Sprachangebot für Pfarrer, Religionspädagogen, Gruppenleiter, Gesprächsgruppen, Großeltern und Eltern, die auch jenen noch etwas sagen möchten, die aus der traditionellen kirchlichen Sprachwelt längst ausgewandert sind. Ich hoffe darüber hinaus, dass der Text auch für den notwendigen innerkirchlichen Dialog einige Anstöße gibt.

      1.1 Religion – Was ist das?

      1.1.1 Religion – ein umstrittenes Phänomen

      Religion ist von großen und kleinen Geistern seit Jahrhunderten totgesagt worden. Entgegen allen Vorhersagen ist das Thema »Religion« seit gut 20 Jahren überraschend wieder aktuell und interessant geworden, selbst für die Massenpresse. Beispiel: Noch 1992 fasste »Der Spiegel« eine Befragung der Deutschen zu Religion, Glaube und Kirche in der Schlagzeile zusammen: »Abschied von Gott«. 2004 erschien F. W. Grafs gründliche Bestandsaufnahme der Religion in der modernen Kultur unter dem Titel »Die Wiederkehr der Götter«.

      Wenn Sie Ihre Freunde fragten, was sie unter Religion verstehen und wie sie deren Zukunft einschätzen, so erhielten Sie nahezu so viele unterschiedliche Antworten wie Sie Freunde haben. Was Religion ist, scheint jeder zu wissen, aber eben jeder auf seine Weise. Was jemand unter Religion versteht, das leitet er aus der Erfahrung und aus dem Wissen her, das er aus seiner eigenen Einbindung in einen religiösen Hintergrund oder aus seiner Entfremdung davon mitbringt. In der europäischen Kultur ist dieser Hintergrund das Christentum oder eine am Christentum orientierte religionskritische Sicht. Diese eurozentrische Perspektive positiver wie negativer Art verengt aber das Verständnis von Religion, weil sie die Vielfalt der religiösen Erscheinungsformen ausblendet und nur das sieht, was im Horizont christlichen Weltverstehens in den Blick kommen kann.

      Die beschreibenden Religionswissenschaften haben uns für die Vielfalt religiöser Erscheinungsformen Horizont und Augen geöffnet. Sie werten nicht, sondern stellen fest und ordnen. Dabei haben sie herausgefunden, dass alle uns bekannten frühen

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