Скачать книгу

liess er sich sofort an seinem Schreibtisch nieder, setzte den losen Apparat des Fernsprechers an Mund und Ohr und redete darauf los. Er hatte das Glück, den Justizrat vorzufinden, und so gab er seiner Stimme einen anderen Tonfall, wobei er unwillkürlich eine kleine Verbeugung machte, als hätte er den alten Herrn persönlich vor sich.

      Tempel fand das so komisch, dass er sich sein Lachen verbiss. Dann vernahm er nur, was Nante mit ausgesuchter Höflichkeit, so in seinem saloppen Berlinisch hineinrief; aber aus seiner Miene, besonders aus der Art und Weise, wie er die hellen Augen aufriss, beim Zuhören unaufhörlich nickte, dann wieder den Kopf wiegte, lächelte und einen Indianerruf ausstiess, glaubte Tempel auf die Antwort schliessen zu können. Und fast war es ihm, als hörte er die etwas krächzenden Laute seines Gönners, der ihm als einer der Testamentsvollstrecker seines Onkels den Weg zu diesen Gemütsmenschen hier gewiesen hatte. Hoffentlich hatte der Alte keine Dummheit gemacht und zuviel gesagt, dann wäre es mit dem Maskenspiel hier vorbei.

      „Jut, jut, Herr Rat, soll bestens besorgt werden,“ tutete Geiger zum Schluss noch hinein. „Danke, danke. Gleichfalls, gleichfalls.“

      Dann stapfte Herr Nante Geiger vorerst auf seinen kurzen Beinen im Zimmer umher, wobei er seinen soliden Bauchansatz, umspannt von einer buntgetüpfelten Modeweste, etwas wackelnd nach Seemannsart, wiederholt der geöffneten Kontortür zutragen musste, weil von dort her allerlei kleine Anfragen kamen, natürlich stets nach einem respektvollen Klopfen. Alsdann zündete er sich eine grosse, dicke Zigarre an, zog sich seine schottisch-karrierte Hausmütze über die Sardellenlichtung auf dem Schädel, und steckte dann das runde Apfelgesicht durch das kleine Fensterchen ins Kontor hinein.

      „Herr Neumann, ich geh’ mal nach der Fabrik. In ’ner halben Stunde bin ich wieder hier. Fräulein Mücke kann später zu Tisch gehen.“

      Er meinte damit die „Klapperschlange“, die das Stenogramm nach seinem Diktat aufzunehmen hatte.

      Dann bat er Tempel, ihm zu folgen.

      Zu seinem Mitgefühl kam auch die Klugheit, denn dieser schon etwas lädierte junge Mann hatte durch sein einnehmendes Wesen einen derartig günstigen Eindruck auf ihn gemacht, dass er sich der Einbildung hingab, er werde aus ihm etwas formen können, das auch ihm von grossem Nutzen sein würde: einen sogenannten Edelarbeiter, den man der Welt als Muster zeigen könne. Über ein solches Experiment hatte Nante Geiger schon oftmals nachgedacht, und hier winkte ihm die Erfüllung. Zwar kam ihm der ganze Fall noch immer etwas märchenhaft vor, aber auch in einem Märchen konnte eine gesunde Wahrheit enthalten sein.

      „Haben Sie denn wirklich gar nichts gelernt?“ fragte er ihn dann noch zum Überfluss, als sie schon den Flur hinter sich hatten, und nun, an zwei mächtigen Rollwagen vorbei, über den ersten Fabrikhof schritten, dem rotgemauerten Hauptgebäude zu, dessen hundert mattgestrichene Fensterscheiben wie ebensoviele blinde Augen ins Leere starrten. Man verspürte die Arbeit schon, ohne dass man sie sah, denn das innere Erbeben des ganzen Hauses sandte seine verhaltenen Grolllaute dumpf durch die Mauer.

      „Ich kann etwas zeichnen,“ erwiderte Tempel, „auch habe ich als Junge aus Brotteig allerhand hübsche Figucen geformt.“

      Geiger lachte. „So’n Nussknacker haben wir wohl alle mal gemacht. Das wird Ihnen wohl nicht viel dienen; höchstens, dass Sie Geschicklichkeit in die Finger kriegen. Wenn Sie aber zeichnen können — das ist schon was. Da können Sie bald avancieren. Ich sagte immer: Wer zeichnen kann, der sieht mehr.“

      Der grosse Torweg, der ihnen wie ein dunkles Maul entgegenklaffte, nahm sie auf. Dann umgab sie das lärmende Geräusch eines Fabriksaales, in dem alles in Tätigkeit ist.

      Tempel, der vorsichtig hinter seinem Führer schritt, liess dieses Arbeitsorchester wie eine wilde, schlecht gestimmte Musik auf sich wirken, die sich unheimlich in die Ohren bohrt. Von der langen Reihe der Drehbänke an der Fensterflucht schrillten entgleiste Klarinettentöne auf, die ihm durch Mark und Bein gingen. Und hinein mischte sich das Surren und Summen der Treibriemen und ein leises, unaufhörliches Fauchen, das von einem unsichtbaren Ungeheuer auszugehen schien. Tempel sah eigentlich nichts Bestimmtes; er sah nur rasende Bewegungen an der Decke, schwarze, dahinschnellende Streifen und eine Garnitur blauer Blusen, auf der hell die Mittagssonne lag. Nur hin und wieder erhob sich ein Kopf, wandte sich ihnen ein neugieriges Gesicht zu, um sich aber gleich wieder über die Arbeit zu beugen.

      „Nun, wie wird Ihnen? Haben Sie immer noch Lust?“ fragte ihn Geiger, als sie den ersten Saal hinter sich hatten und nun über den Flur über die andere Seite gingen.

      „Ich danke, es geht,“ erwiderte Tempel verbindlich. „Ich bekomme jetzt erst recht Lust.“

      „Na, und die Nerven —?“

      „Die werden sich an die Symphonie gewöhnen müssen. Ein Geräusch hebt das andere auf.“

      Und um dieses Thema nicht weiter auszuspinnen (denn in Wirklichkeit waren seine Nerven durchaus nicht abgestumpft), erging ec sich in Bewunderung über den grossartigen Betrieb, was Geiger so angenehm berührte, dass er ihm unaufgefordert Aufklärung über die verschiedensten Dinge gab, wobei er nicht vergass, wiederholt einzuwerfen: „Das ist noch gar nichts.“

      „Sie wissen doch, dass ich Beleuchtungsartikel fabriziere,“ sagte er dann, als sie wieder ins Parterre hinunterstiegen. Und er fügte hinzu, dass er heute nicht mehr die Zeit habe, dem Neuling den ganzen Betrieb zu zeigen, der sich noch im zweiten Hof weiter fortsetze, und von dem man bis jetzt nur einen kleinen Teil gesehen habe. Alles das werde ja Tempel nach und nach noch zu Gesicht bekommen, wenn es ihm ernst mit dem Aushalten sei.

      Sie durchschritten mehrere kleinere Werkstätten und kamen dann in einen Raum, in dem Rohmaterialien aufgestapelt waren und an einem kleinen Pult der Verwalter sass, ein Mann mit einem Lockenkopf, der in seinem ganzen Aussehen, auch in seiner Kleidung, ein Mittelding zwischen Kontorist und Werkführer war.

      „Peters, hören Sie mal,“ begann Geiger mit gespitztem Munde, „dieser Herr hier wird vom Montag ab als Lohnarbeiter eingestellt, verstehen Sie? Es liegt ihm daran, irgend eine ihm zusagende Beschäftigung zu erhalten, um sich mit der Branche vertraut zu machen.“ Das fiel ihm so ein, um eine Erklärung dafür zu finden. „Hier unten wird sich das am besten machen, sprechen Sie einmal mit Knox, ich kann ihn nicht finden.“

      Und er stellte Tempel dem anderen kurz vor und behandelte dann die Sache rein geschäftsmässig.

      Peters, der dahinter einen guten Bekannten seines Chefs witterte, schüttelte sich die Mähne aus der Stirn und machte seine Verbeugung vor Tempel. Dann gab er ihm rasch die nötigen Anweisungen für sein Erscheinen am Montag.

      „Lassen Sie sich wieder mal die Haare schneiden, Peters,“ sagte Geiger noch, was er jedesmal tat.

      Als er dann mit Tempel wieder hinausging, schlug es gerade zwölf, und die Arbeiter strömten aus allen Türen ins Freie.

      Im Torweg, auf einem Handwagen, stand ein Bursche und sprach etwas Putziges zu einer Horde gleichaltriger Jungen, worüber die ganze Bande lachte.

      „Das ist unser Faxenmacher,“ sagte Geiger so im Vorübergehen, ohne der kleinen Szene weiter Bedeutung beizulegen.

      Auf dem Hofe empfahl er sich durchaus höflich.

      Tempel bedankte sich für das freundliche Entgegenkommen und zog tief den Hut.

      Dann liess er sich von dem schwarzen Menschenstrom hinaustragen auf die Strasse, so mit dem traurigen Bewusstsein eines Menschen, der bald auf lange Zeit hinaus in diesem Strome untergehen wird.

      II.

      Um Waldemar Tempels sonderbaren Lebensschritt zu begreifen, muss man die eigentlichen Gründe dazu kennen, die seine kleinen Abweichungen von der Wahrheit Geiger gegenüber erklärlich und verzeihlich machten.

      Im Spätsommer dieses Jahres starb der alte Einsiedler Friedrich Ludwig Karl Tempel in Schmargendorf, ein Mann, über den man sich zuraunte, dass er trotz seiner Gebrechlichkeit immer noch rege gewesen sei, sein schon grosses Vermögen nach Möglichkeit zu vermehren.

      Aus angesehener Bürgerfamilie stammend,

Скачать книгу