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die Augen aufreisst und die Strassen voller Nebel sieht, dann beginnt es zu fluchen. Alles flucht: der Kutscher auf dem Bock, der Strassenbahnführer, der Chauffeur, der Milchhändler, die Zeitungsfrau und natürlich auch der Schutzmann, der seinen Scharfblick von Staats wegen hat und sich auf seinem Posten wie genarrt vorkommt. Selbst der Bäckerjunge verliert die Lust zum Pfeifen, was in dieser grauen Humorlosigkeit am bedenklichsten erscheint.

      Waldemar Tempel war dieser Berliner Frühnebel nicht unbekannt, aber bisher hatte er ihn nur flüchtig bemerkt, wenn er den kurzen Weg von einem glänzenden Ballokal bis zur Droschke und dann aus der Droschke in sein Haus nahm. Es konnte auch ein Restaurant sein oder sonst irgend eine behagliche Stätte, von der man nach süssem Vergnügen die Müdigkeit mit ins Bett nimmt. Dann hatte er auf ein paar Augenblicke den Nebel geschluckt, so wie man die Dampfwolke einer schlechten Zigarre an sich vorüberziehen lässt. Der Wagen war geschlossen, und er sah nicht mehr, was da draussen vorging.

      Nun aber, an diesem denkwürdigen Montag, der ihn hinaus ins Ungewisse führte, trat der umgekehrte Fall ein: er musste den Nebel aufsuchen, statt ihn zu fliehen, er musste gleich hunderttausend anderen mit wachen Sinnen in dieses ungeheuere, graue Meer untertauchen, das Wagen und Menschen verschlang.

      Eine neue Stadt glaubte er zu entdecken, allerdings eine, die sich ihm erst schrittweise zu erkennen gab. Und ungewohnt dieser Erscheinung, riss auch er die Augen auf, gleich diesem mürrischen Ungeheuer, das mit tausend umflorten Lichtern blinzelte, die, hängenden Glühkörpern gleich, allmählich erst wie irritierende Feuerpunkte aus dem dicken Dunst hervorkrochen: seltsam und märchenhaft, wie zerstreute Notsignale auf dicht verhüllter Meeresfläche. Und dieses Steinmeer ohne schwankenden Boden hatte auch sein dumpfes Rauschen und Grollen und seine dahinwogende Flut, die aus erwachsendem Strassenlärm und aus dahinziehenden Menschenleibern bestand. Und gleich den Warnungssignalen der Schiffe erschallten unausgesetzt das Töfftöff der Autos und das rasende Glockenschlagen der Elektrischen.

      Aber Waldemar Tempel fluchte nicht wie die Gewohnheitsflucher, denn er war starr und sprachlos: erstens über dieses allgemeine Rühren zu so früher Morgenstunde, und zweitens über das unerhörte Ereignis, dass er es fertig bekommen hatte, um fünf Uhr aufzustehen, sein Paket unter den Arm zu nehmen und sich aus dem geschlossenen Hause hinauszuschieben, gleich einem armseligen Reisenden, der mit dem Frühzug fort muss und nicht einmal ein Handköfferchen sein eigen nennt. Aber niemand hatte ihn gesehen, selbst die beiden Männer nicht, die aus dem Nebeneingang an ihm vorübereilten.

      Er ging erst ein Stück Weges, oder vielmehr: er tappte sich eilig durch den Nebel, fröstelnd, noch den halben Schlaf im Kopf, aber doch schon merkwürdig flink auf den Beinen. Vor sich und hinter sich hörte er Schritte, ohne dass er die Menschen sah. Hin und wieder gähnte ein erleuchteter Bäckerladen, in dem eine Mamsell träge sich rührte. Er sah den Lichtschein schon am geröteten Nebel. Die Strassen wurden belebter, und immer häufiger tauchte eine dunkle Gestalt auf wie aus der Erde gewachsen, durch die Plötzlichkeit in übermenschlicher Grösse erscheinend.

      Wie ein ungeheurer, gespensterhafter Schatten wuchs ein Kirchturm in die Luft, den er im Augenblick nicht gleich erkannte. Das Hufeisen eines Pferdes schlug auf; er hörte das Schnauben und sah das Geistergefährt in Wolkenfarbe an sich vorüberziehen.

      Dann sass er in der Strassenbahn, Linie Schlesisches Tor, und wunderte sich, wie viele Fahrgäste der Wagen schon hatte. Es waren auch Mädchen darunter, und jedes hatte die eingewickelten Stullen im Schoss. Aber alle, Arbeiter und Arbeiterinnen, starrten wortkarg vor sich hin. Eine alte Frau, ganz in ein Kopftuch vermummt, eine offene Markttasche zur Seite, aus der der Kopf einer Flasche ragte, sass in der Ecke und schlief. Jedenfalls kam sie von der Nachtarbeit und fuhr nach Hause. Und neben ihr sass ein eleganter Bummler, die Beine von sich gestreckt, den Hut ins Genick gedrückt, und schnarchte mit offenem Munde. Ähnliche Schlummerfahrten während seiner Studentenzeit fielen Tempel ein; jetzt aber, mit klaren Augen, kam ihm dieser Anblick unwürdig und ekelhaft vor.

      Dann, beim gleichmässigen Rollen des Wagens, das etwas Beruhigendes für ihn hatte, liess er die häusliche Morgenszene noch einmal an sich vorüberziehen. Er sah die Mutter, notdürftig bekleidet, an seinem Bette stehen, und ihn mit aufgelöster Stimme fragen, ob er doch nicht lieber liegen bleiben wollte. Sie weinte und jammerte, als würde er zur Hinrichtung abgeholt werden. Aber es half nichts: sie musste sich an die Kaffeemaschine machen, die sie am Abend vorher schon bereit gestellt hatte, denn das Mädchen durfte bei Leibe nichts von dem Vorgang wissen, wenigstens vorläufig nicht, bis man eine Ausrede gefunden hatte. Denn die klatschte im ganzen Hause herum, und gewiss hätte man es so ausgelegt, als wäre bei Tempels schon die grösste Armut eingezogen. Im übrigen höffte Frau Baumeister noch im stillen, dass ihr Sohn am ersten Tage genug davon haben und reuig zu den fünftausend Mark zurückkehren würde.

      Aber Waldemar blieb fest, und so kam der Abschied mit Tränen und Verwünschungen gegen den „Kerl von Onkel“, der sich den ganzen Plunder lieber in den Sarg hätte mitnehmen sollen.

      „Manteuffelstrasse!“

      Der Schaffner rief es, und Tempel stieg mit aus, um von hier aus den nächsten Weg zu Geigers Fabrik zu nehmen. Es dauerte nicht lange, so liess er sich von dem schwarzen Strom der Arbeiter mit forttragen, hinein in das breitklaffende Maul des roten Ungeheuers, dessen hundert blinde Augen nun, schon sanft durchleuchtet, in den dunklen Morgen starrten.

      Lagerverwalter Peters war noch nicht da, denn der kam immer etwas später. Dafür empfing ihn Werkführer Knox ein blatternnarbiger Mann mit spitzem, schon kahlem Schädel und abstehenden Ohren, der nicht recht wusste, was er mit ihm anfangen sollte. Dieser „Neue“ sah doch zu sehr nach einem Herrn aus, obwohl er sofort sein Paket aufgerissen hatte und grüne Schürze und blaue Bluse sehen liess (alles Dinge, die Frau Tempel am Sonnabend nach Mass gekauft hatte); aber auch diese Sachen hatten so einen gewissen Sonntagsgeschmack.

      Verflixt, verflixt! Werkführer Knox, der die Stahlbrille immer weit auf der Nasenspitze trug, wenn er jemand fixierte, stand unschlüssig da, die Linke gegen die Hüften gestemmt, während der Zeigefinger der Rechten eine kleine Juckerei auf dem Schädel vornahm, was immer das Signal zum Gedankensammeln war. Jedenfalls war es diesmal das Kennzeichen eines kritischen Falles.

      Endlich kam die Frage: „Wat sind Sie eigentlich von Fach, Herr ....?“

      Lagerverwalter Peters hatte ihm schon das persönliche Interesse des Chefs an diesem „Feinen“ gesteckt, und so fehlte ihm die rechte Traute.

      „Jar nischt,“ fiel Tempel gleich im Werkstatton ein, aber doch mit einer gewissen liebenswürdigen Verbindlichkeit.

      „Na ville is det jerade nich,“ sagte Knox gemütlich und juckte seinen Schädel weiter. Eigentlich hätte er ja grob werden müssen, aber an diesen Menschen war nicht heranzukommen, denn er hatte so „etwas“. Verflixt, verflixt!

      „Es bleibt ooch nischt übrig, wenn man wat davon abzieht“, berlinerte Waldemar drauf los, wobei er sich seiner etwas rüdigen Jugendzeit erinnerte, als er auf dem Tempelhofer Felde die Drachen steigen liess.

      Im Lagerraum nebenan, dessen Tür offen stand, lachte ein Bursche hell auf.

      Und sofort schoss Knox auf die Türe zu.

      „Behalt deine Lache für dich, Ede, verstehst de!“ rief er hinein. „Die Sache is jar nich so lächerlich.“

      Schon vorher hatte Tempel ein Plantschen und Schrubben da drinnen gehört, und als er nun ebenfalls einen Blick hineinwarf, sah er einen jungen Menschen stehen, der damit beschäftigt war, die Dielen aufzuwischen. Er wäre ihm wohl fremd geblieben, wenn Werkführer Knox nicht wie zur Entschuldigung hinzugefügt hätte: „Det is nämlich Ede, unser Faxenmacher, damit Sie’s man gleich wissen. Denn der wird Ihnen wohl bald was vormachen. Sonst ’n juter Junge, bloss togen tut er nischt.“

      „Wer’s glaubt, der wird selig und isst de Klösse fröhlich,“ klang eine klare Stimme zurück, so mit einer gewissen hochgeschraubten Betonung.

      „Dichten tut er ooch“, sagte Knox wieder. Und dann kam wieder die Belehrung ins Nebenzimmer: „Hier brauchst de keene Vorstellung zu jeden, det mach’ abends ab.“

      „Herr Geiger war schon so

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