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im Leben los. Und das hieß ein kleines Heim, in dem sie die Hausfrau und er, Karl Kühne, der Mann war.

      Nein, über den Steiger Kaminski machte er sich keine Sorgen. Daher rührte sein Mißmut nicht. Aber während er durch die Nacht den stillen Kanal entlang vor die Stadt schritt, umkreisten die Gedanken sein eigenes Dasein und spielten Fangball mit seinem Leben. Was war das eigentlich für ein Leben! Schicht und wieder Schicht. Eine Woche lang unter der Erde. Wenn man hinaufkam von der Arbeit, fiel man müde und zerschlagen ins Bett. Und Sonntags? Da schwenkte man sein Mädchen schwitzend herum in einem verqualmten Tanzlokal, man trank Bier oder saß stumpfsinnig in einem Kino, wenn es regnete, und sah auf der Leinwand Bilder aus einer anderen, fremden Welt vorüberflimmern. Höchstens, daß man im Sommer mal Sonntags mit der Paula am Kanal langspazierte und in dem dürftigen Gras der Böschung saß. Am Montagmorgen trottete man dann wieder mit den andern den grauen Weg zum Pütt.

      Immer war das so gewesen. Karl Kühne kannte es nicht anders. Wenn er sich an die Eltern erinnerte — seine Mutter war eine abgearbeitete Bergmannsfrau gewesen, die wenig Zeit für ihre Kinder gehabt hatte. Er sah sie manchmal noch vor sich, wie sie in der Stube herumhumpelte, seufzend und schimpfend über den Pütt, die Knappschaft, den Lohn und die Teuerung. Der Vater war kurz nach ihr gestorben, verbraucht von schwerer Arbeit unter Tage. Einer der Brüder lag irgendwo in Flandern in einem Massengrab, der andere war ins Saargebiet ausgewandert. Er hatte nichts mehr von ihm gehört, bis eines Tages sein Name in der Zeitung gestanden hatte unter den Opfern eines großen Grubenunglücks da unten.

      Nein, Karl Kühne hatte nie etwas anderes gekannt, als dies graue Leben im Kohlenland. Es erschien ihm auch gar nicht so grau und freudlos, weil er es eben nicht anders gewohnt war. Und doch war da oft eine Sehnsucht — woher kam die bloß? Eine Sehnsucht nach dem Leben über Tage, nach Licht, Sonne, Heiterkeit. Im vorigen Winter war er einmal Sonntags vom Regen überrascht worden und hatte sich in eine Kirche geflüchtet. Ein Kirchenkonzert wurde da gegeben, Eintritt frei. Karl Kühne hatte in einem Stuhl gesessen und etwas verlegen seinen Hut zwischen den Händen gedreht. Ein Kumpel, der sich am Sonntagnachmittag in die Kirche setzt! Die Kameraden würden schön lachen, wenn sie es wüßten. Verwundert, verständnislos hatte er dem Durcheinander der Orgeltöne und Stimmen gelauscht. Er war ein Bergmann, schlecht und recht, er wußte nichts vom Meister Händel und verstand keinen Deut von diesen klagenden, jubilierenden und triumphierenden Tönen. Das Orchestrion in Streichers Tanzlokal schien ihm im Grunde eine viel bessere Musik. Aber allmählich hatten ihn diese Töne eingesponnen. Da war eine Stimme gewesen, eine Frauenstimme, die ganz allein sang. Karl Kühne hatte die Sängerin nicht sehen können, aber er war sicher, daß die Stimme ein ganz weißes Kleid hatte, ein zartes, duftiges Kleid, das nichts wußte von Pütt und Kohlenstaub. Und auf einmal war ihm gewesen, als ob er diese Stimme ganz genau kenne. Irgendwo aus unbekannten Tiefen war da etwas aufgestiegen, wie eine Erinnerung an ein früheres, anderes Leben, an Wald und Wiese, Sonnenschein und helle Augen, in denen kein Kohlenstaub saß.

      Ganz benommen war er damals aus der Kirche gekommen. Aber am anderen Tage, bei der Arbeit unten im Pütt, war wieder alles fortgewesen. Karl Kühne hatte sich sogar seines Sonntagserlebnisses über Tage geschämt.

      Und nun war diese merkwürdige, dumme Sehnsucht wieder da. Diese Frau, die da gestern hinabgestiegen war in die Tiefe, die hatte die Sehnsucht in ihm wieder geweckt. Er meinte ihre wohllautende Stimme noch zu hören. Der leichte Duft, der von ihr ausging, die ganze Sicherheit ihres Wesens, die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihn und die ganze Welt behandelte, — so ganz anders war diese Frau als alle anderen Frauen, die er kannte, anders auch als Paula Becker. Schöner war sie nicht, im Gegenteil, die Paula mit ihren zuverlässigen Augen gefiel ihm viel besser. Aber jene fremde Frau, die kam aus der Welt, nach der er sich sehnte. Das war’s.

      Karl Kühne setzte sich auf die Böschung am Kanal, ohne daran zu denken, daß der Nachttau feucht und kühl durch seinen Sonntagsanzug drang. Vor ihm lag das Kohlenland. Schlote, die wie Igelstacheln sich über die Landschaft reckten, Fördertürme, die dunkle, düsterrote Glut der Kokereien, schwarze Maschinenhallen und Fabrikgebäude, schwarze, schmale Wasserarme, langgestreckte Schleppkähne, die glitzernd dahinschießende Schlange donnernder Eisenbahnzüge. Er kannte das Bild. Was half es, daß die Ruhr sich gefällig durch das Land schlängelte, daß grüne Büsche an den Ufern von Frühling und Sonnenschönheit träumten. Mitten aus ihnen wuchsen die Fördertürme und Schlote dunkel und drohend und schrien das harte, hämmernde Lied der Arbeit.

      Wegwandern von hier! Irgendwohin, wo es keine Zechen und Stahlwerke gab, wo viel Wald, Wiesen, Berge und Sonne waren! Er war jung, er hatte grade Knochen und einen anschlägigen Kopf. Warum sollte er nicht auch anderswo Arbeit finden können, eine andere Arbeit als hier im Pütt? Karl Kühne träumte von hellen Maschinensälen in Fabriken, von sausenden Sensen in einem Weizenfeld, von frischem Sturmwind, der um ein Schiff weht. Aber das Donnern der Nacht verschlang seine Träume.

      Nie schwieg die Nacht hier im Kohlenland. Auch Sonntags nicht. Immer rasten die Züge, immer lohten die Essen, schossen die Feuerströme aus den Hochöfen und Kokereien, immer standen die Kohlenhalden schwarz und drohend gegen den Nachthimmel.

      Nun fühlte er doch die Kälte des Nachttaus in den Gliedern. Er stand mit einem unterdrückten Fluch auf und marschierte zurück, stolperte über Stahltrossen und Eisenringe am Kanal und hatte den Schrei des Kohlenlandes in den Ohren, die Sehnsucht nach der Sonne in der Brust.

      „So spät?“ Karl Kühne blieb stehen und sah ganz erschrocken nach dem grauen Streifen, der im Osten heraufdämmerte. Hatte er wirklich die ganze Nacht hier draußen gesessen und geträumt! So ein Blödsinn! Er beschleunigte seine Schritte der Stadt entgegen, die nun grau und schlafend, mit längst erloschenen Lichtern dalag.

      Als er in die Bismarckstraße einbog, heulte fernher schon eine Sirene.

      Karl Kühne fluchte abermals in sich hinein, und seine Beine griffen stärker aus. Wahrhaftig schon halb sechs! Um sechs begann seine Schicht. Keine Zeit mehr, um schnell nach Hause zu laufen. Mußte heute schon mal ohne Kaffee und Frühstück gehen.

      Ein paar Nachtbummler kamen ihm entgegen, den Mantelkragen hochgeschlagen. Bald aber überholte er andere Gestalten, die mit gleichmäßigen, schweren Schritten vorwärts wanderten: Kumpels, die mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern zur Zeche gingen. Ehe er das Zechentor erreichte, war schon aus den einzelnen Gestalten ein langsam dahinwogender Zug geworden.

      Kopf unter die Brause in der Waschkaue! Die Sonntagskleider vom Leibe gerissen und im Kleidersack hochgezogen, die Arbeitskluft an!

      „Karl hat ordentlich einen sitzen,“ flachste ein schnauzbärtiger Hauer neben ihm, als er unter der kalten Dusche prustete. „Kommt in seine Sonntagsklamotten zur Schicht!“

      Die Kumpels lachten. „Na ja, so’n Junggeselle kann sich dat leisten,“ brummte ein anderer neidisch. „Der braucht nich Muttern seinen Abschlag abzugeben wie unsereins.“

      Ah! Wie gut das kalte Wasser tut! Die Nachtgespenster verflogen. War aber auch die höchste Zeit. Stahl klang auf Messing: Fünf Schläge. Die Seilfahrt begann.

      *

      Erst unten vor Ort traf Karl Kühne seinen Schlepper. Der kleine Dombrowski war heute in vorzüglicher Laune.

      „War sich sehr schöner Sonntag, Kumpel. Hab ich Mädchen kennen gelernt in der ‚Alten Kanone‘, sehr schönes Mädchen. Hat alles bezahlt. Nachher sind wir dann noch zu Kumpel Sartori gegangen, haben Karten gespielt. Ein Glück hab ich gehabt!“ Das verwitterte Arbeitergesicht Dombrowskis strahlte. „Ein König — stech ich mit Bube! In der Hand noch drei Trumpf, ein As ...“

      „Du, Stanis!“ Karl Kühne ließ einen Augenblick die Spitzhacke sinken und wehrte den erinnerungsseligen Redestrom des Schleppers ab. „Ich will dir mal was sagen.“

      „Was denn, Kumpel?“

      Karl Kühne spuckte kräftig aus.

      „Ich hau in den Sack, Stanis! Ich mach nicht mehr mit hier unten! Ich will rauf, verstanden! Über Tage! In die Sonne!“

      Der kleine Pole sah einen Augenblick grübelnd zu dem Hauer auf, grinste dann friedlich.

      „Wär

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