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um. „Wo ist denn Franz?“

      „Noch nit da.“ Der alte Becker brummelte ärgerlich. „Wenn der Bengel sich heut widder rumtreibt, versohl ich ihn.“ Er griff sich stöhnend an die Hüfte und schnitt ein Gesicht. Das verfluchte Bein! Das wollte immer noch nicht so recht, seitdem damals vor vier Jahren ihm auf der Zeche „Friedrich der Große“ ein „Sargdeckel“ die rechte Seite eingeklemmt hatte. Zuerst, im Knappschafts-Krankenhaus, hatte es geheißen, er würde pensioniert werden. Aber dann hatten sie ihn doch wieder arbeitsfähig geschrieben. Und im Grunde war es ihm recht so. Der alte Becker konnte sich keine rechte Vorstellung davon machen, was er den Tag über anstellen sollte, wenn es für ihn keine Schicht mehr gäbe. Und den vollen Arbeitslohn konnte man, weiß Gott, auch gebrauchen.

      Paula rumorte am Küchenherd mit Bratpfanne und Töpfen. Die Bratkartoffeln zischten und brodelten im Fett. Karl war in seine Schlafstube gegangen, um sich umzuziehen.

      „Wat war denn dat heut für en Gedöhns bei euch, Karl?“ fragte die Stimme des alten Becker durch die halbgeöffnete Tür. „Alarm auf Sohle III? Is da wat passiert?“

      „Nee. Da hatt’ sich bloß einer verlaufen, ’n Besuch von der Verwaltung.“ Karl Kühne ärgerte sich. Nun mußte ihn der Alte auch wieder an die dumme Geschichte erinnern. Und an die zweiundzwanzig Mark.

      Aber es kam vorläufig zu keinem weiteren Meinungsaustausch über das Erlebnis des Tages. Die Tür wurde so rasch aufgerissen, daß sie gegen die Wand schlug und den in der Ecke hängenden Handfeger herunterwarf. In der Tür stand ein sechzehnjähriger Bursche, den speckigen Hut in den Nacken geschoben.

      „Kannste nit anständig die Tür aufmachen?“ Vater Becker warf seinem jüngsten Sprößling einen nicht gerade liebevollen Blick zu. „Wo haste dich wieder herumjetrieben? Die Paula wartet all mit ’m Essen!“

      Der Junge schloß etwas vorsichtiger die Tür und kam langsam vollends in das Zimmer. Ein typisches Kind des Kohlenlandes war der Franz. Ein wenig klein geraten, ein bißchen krummgewachsen, etwas bläßlich. Er schaffte in der Lampenbude, putzte und rieb seit einem Jahr die Grubenlampen und pfiff die „Waldeslust“ dabei. Seine Gestalt war noch unausgeglichen, seine Bewegungen schlacksig. Nur seine Augen waren schon entsetzlich alt. Die hatten schon allerhand gesehen in ihrem jungen Leben: Zerschundene Menschen, die auf Bahren aus dem Förderkorb getragen worden waren, heulend, oft auch steif und kalt, Betrunkene, die viehisch um sich schlugen, haßglühende Streikpostengesichter und gramzerfressene Frauenaugen, die stumm am Zechentor auf Nachricht harrten. So jung er war, der Franz, er kannte den Pütt genau und wußte nur zu gut, wie viele Kumpels im Jahr unter Tag verrecken, ganz abgesehen von den großen Grubenkatastrophen, von denen alle Welt spricht.

      Aber heute stand die helle Freude in seinem Gesicht. Er kümmerte sich nicht um das Knurren des Vaters. Er reckte sich, plötzlich Mann geworden, warf den Beulenhut in eine Ecke und stolzierte gravitätisch zu seinem Platz auf der Küchenbank, schwer und wuchtig, wie ein Kumpel geht.

      „Wat haste denn, — dumme Jung!“ Der alte Becker betrachtete verwundert das Gehaben des Jungen. „Haste am Automat ’nen Jroschen gewonnen? Du sollst dat Bajazzo-Spielen lasse! Ich mag dat nit!“

      Franz machte eine abwehrende Handbewegung, sah dann, den Kopf in beide Hände gestützt, die Ellenbogen aufgestemmt, über den Tisch triumphierend Vater und Schwester an.

      „Vatter!“ Seine Augen glänzten wie zwei feuchtschimmernde Kohlenstückchen. „Der Steiger hat et mir eben gesagt: Ich darf am Montag einfahren!“

      Paula rumorte stärker und energischer am Herd mit ihrem Geschirr. Der alte Bergmann stopfte sich schweigend seine Tabakpfeife. Nachdenken war sonst nicht August Beckers Sache, aber in diesem Augenblick ging ihm doch so allerlei im Kopf herum. Also der Franz war nun auch so weit, fuhr als richtiger Kumpel in die Tiefe. Er dachte an sein eigenes Leben, ein langes Arbeitsleben zwischen Schicht und Schicht, an die Frau, die den Franz und die Paula geboren hatte und die schon viele Jahre auf dem kleinen Friedhof schlief, an seinen Ältesten, den Willem, den sie bei dem großen Unglück auf „Minister Stein“ tot heraufgebracht hatten, an viel tausend andere Kumpels, die tagaus, tagein im Ruhrgebiet zur Schicht fuhren. Und der Franz würde also jetzt auch hinunterfahren in die Kohle, Tag für Tag, Jahr für Jahr, wie er selbst, wie der Karl Kühne, wie hunderttausend Kumpels im Land der Roten Erde.

      Der Alte räusperte sich und klopfte die Tabakpfeife in der hohlen Hand aus. „Morgen is Sonntag, Jung,“ sagte er bedächtig. „Da kannste dir dein Arbeitszeug zurechtmachen und dir aus dem Werkzeugkasten ’n anständiges Gezähe zusammensuchen.“

      Franz nickte. „Darf ich dat vom Willem haben, Vatter?“ Das alte, leidvolle Wissen in den Kinderaugen war verschwunden, ausgelöscht die Erinnerung an die Schwere und Not des Bergmannslebens, in dessen Schatten er aufgewachsen war. Mitten im Essen hielt er plötzlich inne. Die Gabel mit der dampfenden Kartoffel blieb in der Luft stehen, und noch einmal quoll es dem jetzt aus dem Nebenzimmer eintretenden Karl Kühne entgegen wie ein Jubelschrei:

      „Ich fahre morgen ein!“

      3. Kapitel.

      Sonntag im Kohlenland.

      Karl Kühne hatte den Tag verbracht wie alle Sonntage. Das Leben dämmerte hier immer im Gleichmaß dahin. Er hatte am Vormittag lange geschlafen, sich nachher noch eine Stunde faul und müßig im Bette herumgefletscht, dann mit den Beckers zu Mittag gegessen. Am Nachmittag war man dann zu Streichers Tanzboden gegangen. Paula tanzte gern, aber auch dabei lachte sie nur selten und behielt meist ihr ruhiges ernsthaftes Gesicht. Sie nahm das Vergnügen genau wie die Arbeit, wie das ganze Leben: sachlich, ruhig, fast wie eine Pflicht.

      Karl Kühne hatte sich nicht recht wohl gefühlt in dem Tanzlokal. Die dummen zweiundzwanzig Mark ärgerten ihn noch immer. Die hatten ein böses Loch in den Wochenlohn geschlagen. Er mußte sparsam sein und sich mit zwei Glas Bier begnügen. Er hatte ein paarmal mit der Paula getanzt, aber ohne rechte Freude daran, und war eigentlich ganz zufrieden gewesen, als der Steiger Kaminski in seinem besten Sonntagsanzug erschienen war und die Paula zum Tanz geholt hatte. Aber sich gar mit dem „Jagdhund“ an einen Tisch setzen und unterhalten, nee, das konnte er nicht. Jedesmal, wenn er den Kerl ansah, mußte er an die zweiundzwanzig Mark denken, und dann stieg ihm die Galle hoch. So hatte er sein Bier ausgetrunken und war gegangen. Das hatte wieder die Paula geärgert, und sie hatte mehr mit Kaminski getanzt als sonst. Paula Becker hatte ihren Stolz. Mochte der Karl doch gehen, wenn er den Steiger nicht vertragen konnte. Besser, als daß die beiden womöglich noch im Lokal aneinandergerieten. Und nachlaufen wollte sie dem Karl nicht. Wozu auch? Der kam schon von selber wieder zu ihr. Es fiel ihr gar nicht ein, daß ein Mann, den sie selber heiraten wollte, sie verschmähen könnte.

      Den ganzen Nachmittag war Karl durch die Straßen geschlendert. Mißmutig hatte er sich am Abend schließlich in ein Kino gesetzt und gedöst. Aber das half auch nichts. Als er so gegen elf Uhr das Kino verließ, fühlte er sich genau so unmutig und verdrossen wie vorher, obwohl es auf der Leinwand allerhand ulkige Sachen gegeben hatte. Nach Hause gehen? Die Paula würde längst daheim sein und auf ihn warten. Aber was dann? Dann saß man stumpfsinnig um den Tisch, qualmte um die Wette mit dem alten Becker, die Paula strickte oder stopfte Strümpfe, sprach wenig und hatte doch die ganze Zeit einen stillen Vorwurf in den Augen. Von wegen der zweiundzwanzig Mark.

      Die Paula rechnete. Karl Kühne wußte genau, worauf ihr ganzes Sinnen und Trachten stand. Eine Wohnküche und ein Schlafzimmer. Das war die Welt, um die sich Paula Beckers Gedanken drehten. Verlobt waren sie noch nicht, aber seit den zwei Jahren, die er nun schon bei Beckers wohnte, „ging“ die Paula mit ihm, und unter den Kameraden galt es längst für ausgemacht, daß sie „sein Mädel“ war. Karl Kühne hatte nichts dagegen. Wenn er einmal richtig darüber nachdachte, so konnte er sich eigentlich seine Zukunft auch nicht anders vorstellen, als daß Paula Becker seine Frau werden würde. Sie paßten zusammen, und sie hatten sich ja wohl auch beide lieb. Nur, daß dies Liebhaben fast verschämt versteckt blieb. Man fürchtete sich hier im Kohlenlande vor großen Worten.

      Daß der Steiger Kaminski, der geleckte Affe, der Paula nachstieg und ihr sogar schon einmal einen regelrechten Heiratsantrag gemacht hatte, kümmerte

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