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in Afghanistan. Die Freiberuflichkeit war nicht immer so frei, wie das Wort vermuten ließ.

      Bo legte einen Film in die Kamera ein und warf sie auf den Beifahrersitz, wo sie zwischen Verpackungen von gebrauchten Filmen, ein paar Legosteinen aus der Spielzeugsammlung der Kinder und einem Führer über Ostjütland landete, der so abgenutzt war, dass der Rücken sich auflöste, und von dem mehrere Seiten mit Cola mariniert waren. Gar nicht erst zu reden von den Krümeln der vielen Brötchen und Kekse, die er seit dem letzten Reinemachen im Auto gegessen hatte. Was ungefähr ein Jahr her war.

      Während er fuhr, spürte er, wie der innere Bär sich rührte. Die Bezeichnung war nicht gut, aber er wusste nicht, wie er ihn sonst nennen sollte. Natürlich würde nie jemand davon erfahren, denn es war lächerlich, das wusste er sehr gut, und dass er sie sich von Brad Pitt aus den »Legenden der Leidenschaft« geklaut hatte, machte die Sache nicht weniger peinlich.

      Aber trotzdem wusste er, dass er es nicht einfach ignorieren konnte, wenn der innere Bär in seiner Höhle erwachte. Dann wollte er gefüttert werden. Mit Spannung. Mit Herausforderungen. Mit einem Auslandstrip nach Turkmenistan oder Bolivien, um die Kinder auf den Müllplätzen zu fotografieren, oder nach Sierra Leone, um Bilder von Menschen zu machen, denen von den Aufständischen Arme und Beine abgehackt worden waren. Irgendwohin weit weg. In eine Welt ohne Fensterkuverts, langweilige Routineaufgaben und anstrengende Journalisten, die glaubten, sie könnten schreiben wie Hemingway und auch noch Anweisungen geben, wie der Fotograf sein Bild zu machen hatte.

      Sein Handy klingelte, während er bei Rot an einer Kreuzung in Skejby hielt. Der Laut brachte ihn zurück nach True und zu der Geschichte von dem Mann im Rollstuhl, der eine Million im Lotto gewonnen hatte. Sein Nachbar, ein Schweinebauer, hatte angerufen und die Geschichte erzählt, und der Lottogewinner war leicht zu einem Interview zu überreden gewesen, stand in der Notiz, die zusammengeknüllt in seiner Tasche lag. Eine richtig gute Geschichte für das Familienblatt, dessen Leser Berichte über Krankheiten in der Version »trotz allem glücklich« liebten.

      »Wo bleibst du?«, fragte die Journalistin in seinem Ohr. Er hatte ihren Namen vergessen; Marie irgendwas. Natürlich hatte er schon früher mit ihr gearbeitet, aber sie gehörte nicht zu denen, an die man sich so einfach erinnerte. Nicht wie die andere. Die mit dem Dildo. Sie war in einer Blase durch seinen Kopf geschwebt, seit er ihr begegnet war.

      »Ich bin unterwegs. Bin in zwei Minuten da«, versprach er und unterbrach die Verbindung.

      Der Bär machte einen Moment dem Bild von Dicte Svendsen Platz, wie er sie auf dem Foto der Freundin gesehen hatte. An einem Tisch in einem Straßencafé mit einem genoppten Dildo in der Hand. Es war ein gutes Bild, das musste man der Freundin lassen. Sie hatte das eingefangen, was man nicht unmittelbar sah. Das Mädchenhafte und doch Erwachsene. Im Sommerkleid, das dicke Haar in der leichten Brise flatternd, sodass die Konturen einer eventuellen Frisur aufgelöst und zu einer asymmetrischen Wolke mit einem Streifen Sonne wurden. Mit dunklen, ungezupften Augenbrauen als Kontrast zu dem blonden Haar. Und Augen, in denen sich die Sorge niedergeschlagen hatte, die jedoch gerade in diesem Moment von einem neugierigen Lachen vertrieben wurde.

      Bo seufzte. Früher hatte er die mageren Kleiderständer bevorzugt. Aber das war, bevor er das Geniale an Formen entdeckt hatte. Bevor er jemals seine Hände über runde Hüften und Brüste hatte gleiten lassen, die man mit einer sehr hohlen Hand umfassen konnte. Es hatte eine Zeit gegeben, da war er für das Perfekte gewesen. Aber das war, bevor er eine Überdosis davon bekommen und bevor der Charme des leicht Unperfekten sich ihm erschlossen hatte. Perfekt war einfach langweilig, fand er. Er war kühler, schöner Fassaden mehr als überdrüssig und zog Schönheit mit kleinen Makeln vor. Wie die kleine Narbe auf der Lippe der Journalistin. Und die kleinen Schweißtropfen, als hätte sie gerade einen ganzen Tag in einem goldenen Kornfeld verbracht.

      Die reinste Rosamunde Pilcher.

      Okay, es konnte schon sein, dass er ein bisschen übertrieb, dachte er und bog im dritten Gang nach rechts ab. Aber er war auch hungrig. Weil alles, sein ganzes Leben, sich zurzeit auf Kinder und Arbeit und Verantwortung konzentrierte.

      In der Kurve waren ein paar lose Filme auf den Boden gerollt. Die Kamera auf dem Beifahrersitz war auf die Seite gefallen. Er griff danach und legte sie sicherer hin, während er seinen Gedanken freien Lauf ließ.

      Die andere, das Adoptivkind, war auch nicht uninteressant, aber nicht sein Typ. Sie war freundlich, das ja, aber sie gehörte bestimmt zu denen, die keinen Deut nachgaben, folgerte er und glitt nahezu wie von selbst in die Rolle des Sherlock Holmes, die er Frauen gegenüber, die er nicht kannte, immer annahm. Anne Skov Larsen war ein verschlossener Typ, vermutete er. Sie war nicht direkt hart, umgab sich aber mit einer Schale aus etwas Unnahbarem, die bestimmt nur sehr wenige Männer zu knacken vermochten. Er konnte sie sich gut als Hebamme vorstellen; so eine, die bestimmte, was zu tun war. Aus dem gleichen Grund dachte er, dass ihr Mann aus einem starken Stoff gemacht sein musste. Entweder das, oder er würde total den Überblick verlieren und alle Entscheidungen einfach ihr überlassen.

      Er bog ab und musste anhalten, um auf die Karte zu sehen. Fuhr an dem alten Skejby vorbei zu der Kreuzung Herredsvej/Mariendalsvej. Vorbei an einem Feld mit vom Wind zerzausten Pferden auf der einen und Vorstadtvillen auf der anderen Seite des Weges, im Grenzgebiet zwischen Stadt und Land. Er dachte kurz an die Dritte. Die Schwangere mit dem Film.

      Unruhige blaue Augen und Hände, die auf Wanderschaft gingen. Ein lebhafter Mund mit Lippen, die bestimmt leicht lächelten, an diesem Tag aber nur gezittert hatten.

      Er schüttelte über sich selbst den Kopf. Konnte nicht ganz erklären, warum ihm die drei Frauen nicht aus dem Kopf gingen. Als hätte er nicht genug Frauen, an die er denken musste. Eva, um nur ein zufälliges Beispiel zu nennen. Eva, die nach sieben Jahren und zwei Kindern langsam zu einer ganz anderen geworden war. Und Cecilie, oh Gott, die neue Sportjournalistin der Zeitung. Jung und stark, mit kurzem, blondem Haar, einem klasse Arsch und einem natürlichen Verhältnis zu Sex. Ohne jegliche Hemmungen. Aber auch ohne Geheimnisse, soweit er das beurteilen konnte.

      Der Gedanke an das andere Geschlecht im Allgemeinen und an bestimmte genannte Personen im Besonderen brachte ihn nicht ins Schwitzen. Vielleicht sollte er es ganz lassen. Mönch werden. Nach Thailand reisen und in ein buddhistischen Kloster eintreten. Ganz ehrlich, war er Sex und so etwas nicht bald entwachsen?

      Er war eine Viertelstunde zu spät, als er vor dem Wohnhaus mit der Rollstuhlrampe aus dem Auto stieg. Das gesamte Anwesen erinnerte an eine Wohnanlage. Vier gut in Stand gehaltene Flügel. Ein Hof mit Pflastersteinen und Fachwerk. Der gegenüberliegende Flügel schien auch bewohnt zu sein; vielleicht ein alter Stall, den man in Stand gesetzt hatte. Ein ganzer Stapel neuer Fenster lehnte an der Mauer.

      Im Wohnzimmer war der Kaffeetisch gedeckt, mit einer weißen Decke und Blumen in einer Vase und säuberlich auf einer Platte angerichtetem Kuchen. Selbst gebacken, dem Duft im Haus nach zu schließen. Gegen seinen Willen spürte er, wie die Gemütlichkeit Besitz von ihm ergriff. Wie er zurückversetzt wurde zu Familienabenden vor dem Fernseher mit der Kaffeemaschine, die in der Küche gurgelte, und seiner Mutter, die mit den Tassen klapperte und Brötchen schmierte. An einem ihrer guten Tage, wohl gemerkt.

      Glaser Ole K. Sørensen, fünfzig, war vor fünfzehn Jahren von einer Leiter gefallen und vom Nabel abwärts gelähmt, hieß es in der Auftragsbeschreibung, aus der auch hervorging, dass der erwachsene Sohn jetzt die Firma weiterführte. Seine Frau, Esther, arbeitete noch immer als Lehrerin.

      Ole Sørensen begrüsste Bo freundlich.

      »Jetzt kommt das Schlimmste«, sagte er mit einem Blick auf die Kamera. »Wir sind es nicht gewohnt, fotografiert zu werden.«

      Bo setzte sein entspanntes Gesicht auf, das er auch machte, wenn er Kinder fotografierte. Bei Leuten, die mit der Presse vertraut waren, war es etwas anderes. Politiker und Meinungsmafia, immer der gleiche enge Zirkel. An sie konnte man ganz anders herangehen.

      »Ich bekomme doch bestimmt erst eine Tasse Kaffe«, sagte er und tat, als hätten sie alle Zeit der Welt. »Außerdem duftet es hier nach selbst gebackenem Kuchen.«

      Ole Sørensen hatte etwas Militärisches an sich. Er saß aufrecht und breit im Rollstuhl, eine Decke über

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