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habe, hatten wir einen Hausmeister.«

      Einen Moment dachte sie sehnsuchtsvoll an die Wohnung in Christianshavn. Drei Schlafzimmer mit Blick auf den Kanal. Was hatte sie nicht alles aufgegeben, um Abstand zu ihrem alten Leben zu gewinnen.

      Bo stand auf. Trocknete sich die Hände an den Schenkeln der abgetragenen Jeans. Ihr Blick ruhte ein wenig zu lange auf ihm, auf den Schenkeln. Sie schrieb es der Tatsache zu, dass sie seit Ewigkeiten keinen Umgang mit Männern mehr gehabt hatte, so kam es ihr zumindest vor. Aber es gab Wichtigeres. Jedenfalls würde sie sich nicht mit einem Kollegen einlassen. Zudem noch mit einem, der beträchtlich jünger war als sie und aller Wahrscheinlichkeit nach zu Hause im Schlafzimmer ein Modell Größe 36 hatte. Plus der erwähnten Kinder.

      »Hast du einen Trichter?«

      Die Frage verwirrte sie einen kurzen Moment.

      »Natürlich, ich hole ihn schnell«, sagte sie nach einer kurzen Pause und wusste, dass sie allzu interessiert an diesem blöden Trichter klang. An was auch immer, wenn sie das von dem anderen ablenkte, denn sonst würde sie nur rot werden und peinlich verwirrt aussehen. Wie auf dem verdammten Foto.

      Fieberhaft begann sie zu suchen. Öffnete in Windeseile Schubladen und Schränke. Natürlich hatte sie einen Trichter. Die Frage war nur, wo. Irgendwo in dem ganzen Umzugsdurcheinander oder vielleicht in der Garage, wo sie damit Öl ins Auto gefüllt hatte.

      Als sie kurz darauf in der Garage suchten, fragte sie sich, wie es um alles in der Welt so weit hatte kommen können, dass ein Fotograf, den sie nur flüchtig kannte, wie selbstverständlich hier herumlief und in ihrem neuen Heim nach einem Trichter suchte. Logisch betrachtet natürlich deshalb, weil sie die Einladung, sich von ihm nach Hause bringen zu lassen, als ihre Blechbüchse von einem Auto streikte, angenommen hatte. Aber warum hatte sie sie angenommen? Diese Frage stellte sie sich, während sie Bo beobachtete, der eifrig wie ein Jagdhund in ihren Umzugskisten wühlte. Wo es so viel einfacher gewesen wäre, ein Taxi zu nehmen.

      Aber sie kannte die Antwort nur allzu gut. Das Interview hatte einen Schatten auf ihre Montagsstimmung geworfen, die schon vorher nicht die beste gewesen war. Hatte sie innerlich seltsam leer zurückgelassen. Und mit dem Drang, diese Leere zu füllen, als wäre sie eine Art Hunger, etwas ganz Normales zu tun. Sich mit einem ganz normalen Menschen über etwas ganz Alltägliches zu unterhalten und nicht über etwas so Deprimierendes wie die Frage, warum eine Frau ihr neugeborenes Kind auf dem Århus aussetzte.

      Sie erschauderte, wie sie so ohne Jacke in der kalten Garage stand. Erkannte die Einsamkeit wieder; hatte sie gründlich erforscht. Nicht notwendigerweise eine Einsamkeit im wortwörtlichen Sinne, sondern eine Einsamkeit unter den Menschen, die sie umgaben und die sie liebte. Denn so musste es dieser verzweifelten Mutter doch ergangen sein, die sie zu verstehen meinte. Sie musste sich unendlich einsam gefühlt haben.

      »Bingo!«

      Nachdem er das Gesuchte gefunden hatte, tauchte Bo aus der Tiefe der Garage auf, in die nur spärlich Licht drang. In der Hand hielt er einen orangefarbenen Plastiktrichter.

      »Er lag auf einem alten Plattenspieler.«

      Während er die Worte aussprach, begann es unter ihm gefährlich zu knacken. Er sprang zur Seite, unmittelbar bevor das Fußbodenbrett in der Mitte durchbrach. Die Bretter lagen über einigen Quadratmetern des Bodens, der ansonsten aus hartem Zement bestand.

      »Holla! Du hast ja sogar ein Grab.«

      Und es würde sie nicht wundern, wenn auch noch eine Leiche darin läge, dachte sie. Frühere Rockerfestung und so. Es wäre nur logisch. Eine Leiche im Keller. Wer hatte das nicht?

      Während sie Kaffee kochte, machte sich Bo mit Wasser, Ventilen und Trichter zu schaffen. Der Welpe fiepte leise aus seinem Korb unter dem Küchentisch, und das Haus wirkte eigentlich wie ein Heim, sodass sie einen Moment lang vergaß, dass in Wirklichkeit nichts war, wie es sein sollte. Aber nur einen Augenblick. Dann drängte der Besuch in der Universität sich in ihr Bewusstsein. Den Arabischexperten Bjørn Gedsted hatte die Geschichte sichtlich aufgewühlt. Denn er hatte ziemlich schnell festgestellt, dass die Seite mit den arabischen Schriftzeichen, die man in den Handtüchern des Kindes gefunden hatte, aus dem Koran herausgerissen worden war. Er nahm an, dass ein junges muslimisches Mädchen das Kind in aller Heimlichkeit zur Welt gebracht und es verzweifelt mit dieser Art Identifikationsmerkmal ausgestattet hatte. Vielleicht in der Hoffnung, dass jemand das Kind mit einem muslimischen Ritual begraben würde. Oder finden und in ihrem Glauben erziehen würde.

      »Die Mädchen sind die Verlierer dieser Kultur«, sagte er mit Nachdruck, als sie in seinem Büro saßen und auf Bo warteten.

      »Das ist so typisch. Die Angst, was das Familienoberhaupt, der Vater, sagt«, sagte Bjørn Gedsted, der eine Cordhose und einen Cardigan trug und einer Karikatur von Professor Tournesol aus Tim und Struppie glich. Er beugte sich, die Fingerspitzen gegeneinander gelegt, auf seinem Bürostuhl vor.

      »Die Mutter dieses Kindes wusste, dass sie in den Augen der Familie nichts mehr wert ist. Dass sie Scham und Schande über ihre Nächsten gebracht hat, indem sie ein uneheliches Kind bekommen hat.«

      Während Dicte ihm gegenübersaß und durch das Fenster beobachtete, wie der erste Herbststurm die Blätter im Universitätspark durch die Luft wirbelte, hatte sie einen kurzen Moment lang das Gefühl, dass sich im Tanz der Blätter die Mutter des Kindes vor ihren Augen materialisierte. Nicht konkret mit Alter, Augen und Haaren. Aber als verzweifelte Gestalt in einer unmöglichen Welt. Ein unglückliches Gespenst, das niemals mehr Ruhe finden und immer zweigeteilt sein, die Sehnsucht nach ihrem Kind und die Scham, es im Stich gelassen zu haben, mit sich herumtragen würde.

      »Wie findet man so ein Mädchen?«, fragte sie.

      Gedsted zuckte mit den Schultern.

      »Vielleicht ist es tatsächlich besser, sie nicht zu finden.«

      »Aber diese Mutter muss sich etwas gewünscht haben. Eine Absicht verfolgt haben, als sie die Seite in das Handtuch genäht hat. Vielleicht möchte sie in Wirklichkeit gefunden werden, möchte, dass man ihr hilft«, sagte sie, während draußen die Blätter tanzten und ihr näher und näher kamen, ohne dass sie das wollte.

      Jetzt faltete Bjørn Gedsted die Hände über dem Bauch und sah einen Moment wie ein Priester aus.

      »Wenn sie gefunden wird und ihre Familie alles erfährt, wird sie nicht nur von der Justiz des Mordes angeklagt, sondern höchstwahrscheinlich auch von ihrer eigenen Familie verstoßen. Von ihrem gesamten Umfeld.«

      Verstoßen. Das Echo des Wortes schien von der Innenseite ihres Gehirns widerzuhallen, und plötzlich und unerklärlich hatte sie das Gefühl, wieder ein Teenager zu sein. Den Mut zu haben, die Konventionen herauszufordern und die Konsequenzen zu tragen. Denn dazu gehört Mut, dachte sie. Kein Kriegsmut oder eine sichtbare Form von Heldenmut. Sondern der Mut, alleine dazustehen. Sie hatte ihn vielleicht selbst einmal gehabt, dachte sie zerstreut. Aber wo war er geblieben? Wo war er jetzt, wo plötzlich alles, was sie in den vergangenen zwanzig Jahren so sorgsam aufgebaut hatte, nicht mehr da war?

      Sie begann zu schwitzen, ihre Handflächen wurden klamm. Du meine Güte, wie wünschte sie sich, diese Geschichte abgeben zu können. Dann wollte sie schon lieber über einen ganz gewöhnlichen Mord berichten. Da wusste man wenigstens, woran man war.

      In dem Moment klopfte es an der Tür. Bo mühte sich mit seinen Kameras ins Zimmer, und sie merkte voller Dankbarkeit, wie das Praktische die Oberhand gewann; wie sein professioneller Umgang mit Bjørn Gedsted, als sie in den Herbststurm hinaus in den Park gingen, etwas in ihr löste und ihr gut tat. Ihr etwas gab, woran sie sich festhalten konnte.

      »Und? Wieso bist du plötzlich nach Århus gezogen?«

      Bo griff nach einem Schokoladenkeks und biss ihn in der Mitte durch. Sah sie mit der Linse des Fotografen im Blick an.

      »Ich bin gerade geschieden worden«, sagte sie und spürte ihren Unwillen zu antworten. »Ich war mir sicher, dass es viel Gerede in der Redaktion geben würde«, fügte sie hinzu und schenkte sich selbst Kaffee ein.

      Er führte seine Tasse zum Mund und

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