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Noch ein Problem, zu dem man Stellung nehmen musste. Und Probleme hatte er schließlich genug, wie er immer sagte.

      »Ich habe es wohl vergessen«, log sie.

      »Vergessen«, wunderte er sich. »So etwas vergisst man doch nicht. Ich weiß zwar, dass du an anderes zu denken hast, aber trotzdem.«

      Sie nahm sich eine Hand voll Pistazienkerne, schüttelte die Schalen von der Zeitung und setzte sich in den Lehnstuhl. Starrte auf das Bild von den Freundinnen mit der Plastikwanne in Dictes Schoß. Ihre leeren Blicke. Die Stille zwischen ihnen. Sie hatte das Bild selbst gemacht. Fast automatisch drauflosfotografiert, während ihr Verstand stillstand und sich weigerte zu begreifen. Jetzt war es auf der Titelseite der Avisen gelandet. In Begleitung von Dictes Text mit der Überschrift »Moses auf dem Århus«. Darunter stand in Fettdruck: »Freundinnen finden neugeborenen Jungen tot auf dem Fluss. Keine Spur von der Mutter des Kindes.«

      Sie versuchte zu lesen, schaffte es aber nicht. Begann zu frieren und kroch zu Theis hinüber und zog die Wolldecke um sich, die auf dem Sofa lag. Er musste ihr die Zigarette verziehen haben, denn jetzt legte er gutmütig den Arm um sie und rieb leicht ihren Bauch. Sie beschloss, nichts mehr zu seiner Wochenendarbeit zu sagen, auch wenn sie geplant hatten, in die Stadt zu gehen und nach einem Kinderwagen zu sehen. Rieb ihre Nase an seiner rauen Wange. Spürte die Lust und den Hunger nach Sicherheit wie einen fein gesponnenen, zusammengedrehten Faden, der langsam stärker wurde.

      »So, so, das willst du«, murmelte er, während sie sein Ohr streichelte und küsste und wollte, dass sein Körper ihren umschloss. Sie an einen schönen Ort entführte. Sie rettete.

      An der Stimme hörte sie sein etwas widerstrebendes Lächeln, hörte aber nicht auf. Schob alle Gedanken, dass sie sich wie eine tonnenschwere Kuh vorkam, zur Seite. Er sollte sie begehren. Sie beschützen.

      »Was bist du weich und rund geworden«, sagte er. Seine Hand wanderte zu ihrer Lende und tiefer, und sie entschloss sich, es als Kompliment zu betrachten. Ja, sie war runder geworden; üppiger; mit Beinen, die anschwollen, gar nicht erst zu reden von der verdammten Hämorrhoide, die sie gerade jetzt zum Teufel wünschte. Aber das musste er nun mal in Kauf nehmen.

      Sie stand auf. Zog leicht an ihm.

      »Komm.«

      Sie sah, dass er zögerte. Vielleicht dachte er das Gleiche wie sie. Vorsichtig begegnete sein Blick dem ihren.

      »Vielleicht sollten wir besser warten.«

      »Worauf?«

      »Ja, weißt du...« Sein Blick wanderte nach unten zu ihrem Bauch, und sie hörte ihren Ärger.

      »Es wird doch nur noch schwieriger, wenn das Baby erst da ist. Zeit zu finden, meine ich.«

      Einen Moment sah er richtiggehend panisch aus. Dann schien er einen schweren Entschluss zu treffen, stand auf und ließ sich mit ins Schlafzimmer ziehen, aber an der Steifheit seines Nackens sah sie, dass er es ausschließlich ihr zuliebe tat. Weil er nicht wusste, wie er sonst mit der Situation fertig werden, mit ihr und ihrer Unberechenbarkeit umgehen sollte.

      Erst als sie sich geliebt hatten, gemütlich und unbeholfen. Erst als er sich von ihr zurückgezogen und mit einem leichten Schnarchen auf seine Seite gerollt hatte, erinnerte sie sich an die Worte von Hanne Guldberg, als sie sich im Treppenhaus verabschiedet hatten.

      »Ich weiß nicht genau, was das zu bedeuten hat. Aber ich spüre, dass wir uns nicht das letzte Mal gesehen haben, Sie und ich.«

      Die Angst traf sie wie ein Schlag in die Magengrube, während sie dalag. Beschwerlich drehte sie sich im Bett um und kroch näher an Theis heran. Tat etwas, das sie seit vielen Jahren nicht mehr getan hatte. Nicht seit ihrer Kindheit, dachte sie, als sie die Hände faltete und betete.

      5.

      »Denk an die Kalorien, Mama. Du weißt genau, was man sagt.«

      Dictes Hand blieb mit dem samstäglichen Brunch mitten in der Luft stehen. Die verbotene Majonäse auf dem letzten Bissen Roggenbrot mit Makrelensalat begann ganz von selbst zu vibrieren.

      »Was sagt man denn?«

      Rose sah sie gut gelaunt mit einem prüfenden Blick an, als sie verschlafen in einem löchrigen Shirt vor ihr stand. Jede Delle und Kurve wurden genau unter die Lupe genommen, während sie den Kopf schräg legte, dass der Nasenring glänzte. Der, um den sie so gebettelt hatte, dass Torsten ihn ihr schließlich ohne die Einwilligung ihrer Mutter bezahlt hatte. Was tat man nicht alles, um sich bei seinem Kind beliebt zu machen, wenn man die Familie durch eine Scheidung zerstört hatte.

      »Also, was sagt man?«

      »Vierzig, fett und geschieden.«

      »Lausegöre.«

      Sie hob ihre Hand wie zum Schlag, und Rose zog sich blitzschnell zurück und tänzelte mit einem schelmischen Blick davon. Dicte folgte ihr und bekam sie zu fassen. Kitzelte die mageren Rippen ihrer Tochter, die empfindlichste Stelle, sodass sie vor Lachen zusammenbrach.

      »Ach, du hast doch nicht etwa Angst, was?«

      Rose krümmte sich vor Lachen. »Das kommt von all den Malen, die ihr mich verhauen habt«, lachte sie. »Gib es zu!«

      Dicte ließ sie gutmütig los.

      »So, so, du Knochengestell. Wart nur ab.«

      Demonstrativ öffnete die Tochter des Hauses den Kühlschrank und räumte ihn aus. Roggenbrot, Butter, vollfetten Käse. Die ganzen Empfehlungen der Ernährungsexperten waren zumindest in ihrer Familie bislang vergebens gewesen, stellte Dicte fest. Sie hatte das starke Gefühl, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie selbst auf Entzug gehen musste, was fette Sachen anging.

      Neidisch beobachtete sie ihre schlanke Tochter, die täglich zehn Festmenüs in sich hineinschaufeln konnte. Am liebsten begnügte sie sich aber mit Käsebroten und literweise Milch. Keine Spur von Magersucht.

      »Du wirst auch einmal vierzig«, drohte sie.

      Das Kind, das sie letztendlich noch war, kicherte, als hätte sie etwas Unanständiges gesagt, und konzentrierte sich auf ihr Käsebrot.

      »Ich werde nie so alt wie du«, mümmelte sie. »Ich werde jung als Revolutionärin sterben.«

      Dicte setzte sich auf die Wachstischdecke des Küchentisches und spülte die Makrele mit einem Schluck lauwarmen Kaffees hinunter.

      »Im Kampf für was?«

      Rose war um eine Antwort nicht verlegen.

      »Für die Freiheit«, sagte sie selbstsicher. »Und für die Gerechtigkeit. Für eine Zukunft für alle Kinder.«

      »Natürlich«, sagte Dicte und hörte sehr wohl, dass sie nachsichtig klang.

      Sie dachte an das Kind auf dem Fluss und wusste, dass sie deshalb Kopfschmerzen hatte. Dass sie deshalb in der Nacht von Albträumen mit toten Babys heimgesucht worden war. Erloschene Augen in trübem Wasser mit Hunderten von leeren Limonadenflaschen, die an der Oberfläche dümpelten. Sie war für ihren Artikel gelobt worden und hätte eigentlich gut drauf sein müssen, aber dieser Fall war etwas anderes als die Artikel im Wirtschaftsteil über sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz oder Vergünstigungen. Man konnte ihn nach der Arbeit nicht weglegen und sich am nächsten Tag wieder damit beschäftigen, falls es nötig war.

      Sie griff nach der Kaffeekanne und goss die Tasse halb voll. Trank die teerige Brühe in einem Schluck. Wünschte Kaiser und seine Sensationsnarkomanie weit weg und dass sie nie vierzig geworden wäre und vor zwei Tagen am Ufer des Århus gesessen hätte. Dass eine andere das Kind gefunden hätte. Eine andere für den Job ausersehen worden wäre, über den Fall zu berichten.

      Sie hörte Autoreifen in ihrer Einfahrt. Auf dem feinen Kies, von dem sie selbst einen Berg bestellt und den sie so sorgfältig verteilt hatte, dass ihr der Rücken wehtat. Um alles ein wenig freundlicher zu gestalten, was auch nötig war, denn das sogenannte neue Haus von 1930 oder früher hatte in der Gemeinde eine herausragende Rolle als Rockerhauptquartier gespielt.

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