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die wir brauchen, Svendsen. Deadline ist um sechs.«

      Das waren noch drei Stunden. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Um sich zu wehren. Um ihm zu erzählen, dass die Toilette in dem neuen Haus verstopft war, dass der Schlammsaugwagen um vier kam; dass dem Dunstabzug in der Küche ein Rohr fehlte, sodass der Essensdunst ins Schlafzimmer statt aus dem Haus geblasen wurde. Dass das verdammte Haus sich im Lauf der ersten sechs Wochen als ein Fass ohne Boden erwiesen hatte. Und dass sie darüber hinaus nicht an das Kind denken wollte, geschweige denn darüber schreiben.

      »Und denk daran, einen Fotografen mitzunehmen«, sagte Kaiser, bevor er auflegte. »Wir brauchen Bilder. Von dem Ort, von dir, von der Wanne.«

      »Auch von der Leiche?«, fragte sie säuerlich.

      Er brummte irgendetwas Unverständliches.

      Sie legte auf und merkte erst jetzt, dass ihre Hände zitterten. Vor allem aus Wut. Aber da war noch etwas anderes. Wie eine Art Hunger, der sich nicht stillen ließ. Ein leerer, dumpfer Raum in ihrem Magen, an der Grenze zur Übelkeit.

      Wieder erinnerte sie sich an das Gefühl des Wassers vor nur wenigen Stunden. An das unruhige Murmeln der Leute oben im Café. An ihre eigene Sprachlosigkeit über das, was sie tat. Denn Kaiser hatte ja Recht, woher auch immer er es gehört hatte. Sie war hineingesprungen. Nicht kopfüber, natürlich, aber sie war die Treppen zum Fluss hinuntergelaufen und hatte sich ins Wasser gleiten lassen, das von nahem betrachtet sehr viel trüber war als aus der Ferne. Sie erinnerte sich vage, dass Dinge an der Oberfläche geschwommen waren. Dass ihr auf dem Weg zu der blauen Plastikwanne ein Stück Eispapier zwischen die Finger geraten war und dass sie eine Plastikflasche hatte zur Seite schieben müssen, die an der Oberfläche schaukelte. Brauselimonade, erinnerte sie sich und wunderte sich über die Erinnerung. An das Gesicht des Kindes erinnerte sie sich nicht. Wollte sich nicht daran erinnern. Sie hatte sich mit der Wanne abgemüht; sie vor sich hergeschoben, während sie am Ufer des Flusses entlanggeschwommen war. Hatte sie zur Treppe gezogen, wo Anne sie sofort in Empfang genommen hatte, nach außen hin geschützt durch den Professionalismus der Hebamme, während Ida Marie ganz automatisch und völlig grotesk wie ein Roboter weiterfotografiert hatte. Das hatte sie gedacht. Wie ein Roboter. Aber das war, bevor sie die Tränen gesehen hatte, die ihre Wangen hinunterliefen. Den schwangeren Bauch, der schutzlos vorstand, wie ein verletzlicher Panzer. Die Kamera, die sie gegen die Wirklichkeit zu beschützen schien.

      Zu dem Zeitpunkt hatte schon irgendjemand einen Krankenwagen gerufen, aber bis der kam, nahm Anne die Sache in die Hand. Sie sah vorsichtig in das Bündel aus alten Handtüchern, suchte sich mit zitternden Händen einen Weg und stellte fest, was Dicte bereits wusste. Was sie gespürt hatte, weil die Stille in der Wanne so laut war.

      »Ein kleiner Junge«, murmelte Anne ohne ihre übliche Hebammenstimme, die sie sonst ganz automatisch annahm, wenn Neugeborene in der Nähe waren.

      »Neugeboren«, stellte sie fest. »Höchstens zwei Tage alt, denke ich.«

      Sie blickte auf. Dicte sah kurz etwas Feuchtes in ihren Augen, bevor Anne es wegblinzelte.

      »Er ist tot.«

      3.

      Der Fotograf glich einem herrenlosen Hund. Mager und wachsam, mit mottenzerfressenem Fell. Letzteres traf nicht nur auf die wilden Haarzotteln, sondern auch auf seinen Bart, der spärlich war wie der eines Teenagers, und auf seine Kleidung zu, die an Sachen aus einer Kleiderspende für Albanien erinnerte. Alles in allem wirkte er sehr modern.

      »Ich bin Bo«, sagte er, trat eine Zigarette mit dem Stiefel aus und machte ganz den Eindruck, als würde er Afghanistan dem Eingang der Entbindungsstation des Krankenhauses von Skejby vorziehen.

      Sie gab ihm die Hand.

      »Dicte.«

      Sie hatte von ihm gehört. Sogar von ihm gelesen, als er irgendeinen ausländischen Fotowettbewerb mit Bildern aus Sierra Leone gewonnen hatte – oder war es Bolivien? Irgendein Kriegsgebiet jedenfalls, sie erinnerte sich nicht genau. Aber selbst preisgekrönte Fotografen mussten von etwas leben, und so arbeitete er als ständiger freier Mitarbeiter für die Redaktion in Århus.

      »Wir werden mit der Hebamme sprechen, die mit am Fluss war«, informierte sie ihn, während sie durch die langen Gänge liefen und das Personal auf Rollerblades an sich vorbeilaufen sahen. Eine gehbehinderte Großmutter kämpfte sich tapfer auf ihren Stock gestützt vorwärts. Sie hatte keine Rollerblades. Dicte sah verstohlen zu dem Fotografen hin. Hatte wieder das sichere Gefühl, dass er lieber woanders wäre.

      Er schniefte und trocknete sich die Nase mit seinem Ärmel, während er mit der Fototasche über der Schulter neben ihr hertrottete. Und sie sah seine Augen, die auf der Suche nach der Wirklichkeit die Wände entlangschwirrten und ihren Weg in all die Zimmer und Büros suchten, an denen sie vorbeikamen. Spürte die Wachsamkeit, als erwarte er aus einem der Kreißsäle, aus denen hin und wieder herzzerreißende Schreie zu hören waren, einen Angriff aus dem Hinterhalt mit einer AK 47.

      »Das klingt nach Folterkammer«, sagte er.

      »Das ist es auch«, antwortete sie.

      Nach dem Gespräch mit Kaiser hatte sie schnell einen Termin mit Anne gemacht. Außer Atem, zwischen einer Steißgeburt und einer Erstgeburt, war sie darauf eingegangen. Ein Hoch auf Anne und ihre Hilfsbereitschaft. Und das, obwohl sie schon eine Stunde auf der Polizeiwache vergeudet und irgendeinem Schreibtischbeamten eine Erklärung gegeben hatte. Sie musste übrigens daran denken, die Polizei anzurufen und herauszufinden, wer den Fall bearbeitete. Wenn sie Glück hatte, war die Geschichte schnell erledigt, und sie hatte Ruhe vor Kaiser. Konnte das Ganze hinter sich lassen, obwohl sie damit wohl zu viel erwartete. Während sie mit den langen Schritten des Fotografen Schritt zu halten versuchte, kam der Gedanke. Dass etwas aufgebrochen worden war. Aufgebrochen wie mit einem Brecheisen. Brutal.

      Anne ließ sie warten. Sie sei noch immer mitten in der Steißgeburt, wurde ihnen freundlich mitgeteilt. Also ließen sie sich zwischen den Schreien und den beschäftigten, weiß gekleideten Frauen nieder. Auf der Station herrschte eine intensive und gleichzeitig gelöste Stimmung. Schmerzensschreie gemischt mit glücklichem Lachen und lächelnde, müde Gesichter am Rande des Weinens.

      »Hast du Kinder?«, fragte der Fotograf plötzlich.

      Sie nickte.

      »Eine Tochter, schon ein Teenager. Ein hartes Stück Arbeit«, fügte sie hinzu und kam sich alt vor. Er konnte nicht viel älter als Ende zwanzig sein.

      »Ich habe zwei«, sagte er zu ihrer Überraschung. »Einen Jungen und ein Mädchen. Fünf und sieben.«

      Sie hatte wohl ziemlich verblüfft dreingesehen, denn er fügte hinzu:

      »Ich habe früh angefangen.«

      Anne kam, und sie kriegte ihr Interview, in der Ecke eines Büros, in das beschäftigte Menschen ab und zu hereinplatzten, eine Entschuldigung murmelten und wieder gingen. Bo fotografierte, und sie dachte flüchtig an Ida Marie. Wie sie zusammengebrochen war und Anne Angst gehabt hatte, dass das Kind kommen würde, mitten in dem ganzen Durcheinander. Sie hatten Ida Marie auf einen Stuhl gesetzt, vornübergebeugt, so gut es ging, während sie weinte. Schluchzte wie ein Wasserfall und die Worte hervorstieß: »Ich will es nicht haben. Ich will es nicht haben.« Und sie wussten nicht genau, ob sie von dem Kind in ihrem Bauch sprach, das sie plötzlich nicht haben wollte; oder ob sie den Tod, der so nahe war, auf Abstand zu halten versuchte.

      Anne wiederholte still die Fakten. Eine Hausgeburt, meinte sie. Die Nabelschnur war ungeschickt durchtrennt und verknotet worden. Der Körper des Kindes mit getrocknetem Blut verschmiert.

      »So wie ich das sehe, ist er 24 Stunden nach der Geburt auf dem Fluss ausgesetzt worden. Aber ihr müsst euch im rechtsmedizinischen Institut schlau machen«, sagte sie und seufzte deutlich hörbar, während ihre Finger an der Tasche des Kittels herumfingerten, als hätte sie dort etwas, an das sie sich klammern konnte. »Ich kann nur sagen, wie es unmittelbar aussah.«

      »Wie im Mittelalter«, hatte Anne unten am Fluss fast weinend gesagt.

      »Und das

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